Nach der Moderne - die zweite Moderne?
Der Soziologe Ulrich Beck ist von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft konvertiert.
Alles verändert sich. Wir geraten unter Druck und sehen oft vornehmlich Gefährdungen unseres gewohnten Lebens, in dem wir es uns heimisch gemacht haben. Der durch den Begriff der Risikogesellschaft bekannt gewordene Soziologe Ulrich Beck will Schluß machen mit den Klagen und der fatalistischen Anpassung an vermeintliche Zwänge. Zweite Moderne ist seine Aufforderung, die neuen Chancen und Möglichkeiten zu sehen und deren Umsetzung anzupacken (siehe auch das Gespräch Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft mit Ulrich Beck.
Wir lieben die Übergänge, die Brüche, den Wandel, die Innovationen - den permanenten Kreisel der Revolution, sofern wir noch einigermaßen mithalten und davon profitieren können. Oder wird uns die permanente Beschwörung, daß es demnächst ganz anders sein wird und wir uns bereits mitten auf der Schwelle zu einem neuen Horizont befinden, nur von außen aufgedrängt? Die technischen "Revolutionen" haben weitgehend die sozialen verdrängt. Gesellschaftliche Strukturen scheinen nur noch der Resonanzraum neuer Techniken zu sein. Durch sie ist die Wirtschaft geprägt, während die Politik versucht, die Gesellschaft dem Neuen anzupassen.
Wer stehenbleibt, wird untergehen. Das ist die Botschaft, die uns fortwährend eingetrichtert wird. Auch im Denken müssen wir immerzu flüssig bleiben. Daß die alten Kategorien nicht mehr greifen und neue geschaffen werden sollen, gehört mittlerweile zum guten Ton jeder Theorie, die sich auf dem Markt der Aufmerksamkeit durchsetzen will und muß. Je näher wir der symbolischen Marke der Jahrtausendwende kommen, desto mehr glauben wir, daß eine epochale Wende stattfinden wird. Gleichzeitig scheinen wir kurzatmiger zu werden, setzt sich in der Welle der neuen Begriffe und Selbstbeschreibungen nicht einmal kurzfristig noch eine gemeinsame Orientierung durch. Verlegenheitsbegriffe wie der der Postmoderne schaffen nur noch die gemeinsame Befindlichkeit, daß etwas verschwunden ist, und einen Namen als Hülse, in den sich alles packen läßt.
Seit jüngstem propagiert der Münchner Soziologe Ulrich Beck nicht mehr nur eine andere Moderne, sondern die Heraufkunft einer Zweiten Moderne. Das ist, wie er selbst einräumt, kein wohldefinierter Begriff, sondern "eine Zuspitzung, aus der eine Debatte entstehen soll." Beim Erfinden und Durchsetzen von Schlagworten ist er nie verlegen. Das sichert Aufmerksamkeit.
Bekannt wurde er während der 80er Jahre, dem Jahrzehnt der Postmoderne und Tschernobyls, aber noch vor dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, durch einen anderen von ihm geprägten Begriff, der offenbar die Stimmung vieler Menschen traf: durch die Ausrufung der Risikogesellschaft. Kurz darauf zog er nach, indem er unsere von Techniken und Experten beherrschten Gesellschaften der "organisierten Unverantwortlichkeit" bezichtigte. Noch war Ulrich Beck, zumindest vordergründig, von pessimistischen Gedanken geprägt, daß es so nicht weitergehen könne, auch wenn er bereits "Gegengifte" ankündigte, die, gut hegelianisch, aus den gesellschaftlichen Strukturen erwachsen und diese aufheben. Neben den ökologischen Themen diskutierte er vor allem die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die Individualisierungstendenzen entstehen: den Wandel der Arbeitswelt, der Familien oder der Liebesbeziehungen, die "riskanten Freiheiten" einer individuell verantworteten Lebensplanung und der durch sie bedingten "Bastelbiographie".
Jetzt hat er Kollegen wie Anthony Giddens und Scott Lash zusammengerufen, um den Begriff der "Zweiten Moderne" in der Öffentlichkeit zu etablieren - verstärkt durch eine von ihm herausgegebene Reihe im Suhrkamp Verlag. Da geht es um die "Weltgesellschaft" und die Folgen der "Globalisierung", um das "Zeitalter des eigenen Lebens" und die "Kinder der Freiheit", um eine zweite Aufklärung und das "Jenseits von Links und Rechts" oder um die "Zukunft von Arbeit und Demokratie".
Zuvor hatte er noch versucht, die reflexive Modernisierung zum Thema zu machen. Aber das ist ein schwer eingängiger, zu sehr nach Soziologie riechender Begriff, der wenig begeistern und noch weniger Atmosphärisches treffen kann. Natürlich geht es - wir scheinen das seit der ersten Ausrufung der eigenen Epoche als das der Moderne zu benötigen - um die Heraufkunft eines ganz Neuen und um das endgültige Verschwinden des Alten und Vertrauten. Noch klammern sich manche an den unseligen und verlegenen Begriff der Postmoderne, kursieren im Zeichen der digitalen Revolution andere Erklärungen mit dem obligatorischen, dem Diktum der Modewechsel verpflichteten Nachzuständen - posttraditionell, postideologisch, posthistorisch, postbiologisch, posthumanistisch ...
Beck aber will den nostalgischen Blick in den Rückspiegel bei der permanenten Fahrt auf der Überholspur nicht weiter pflegen: "Ich empfinde ein starkes Ungenügen zwischen dem Zusammenbruch an Selbstverständlichkeiten und theoretischen Ausgangspositionen durch das Ende des Kalten Krieges und der sehr lahmen Antwort darauf. alle drehen ihre Mühlen einfach weiter."
Jedes Risiko ist eine Chance, jeder Untergang ein Neuanfang, der sich optimistisch besetzen läßt. Das schlägt gelegentlich ins Zwanghafte um, aus allem ein Positives herauszuschlagen, denn Beck ist sich sehr wohl all der Gefahren bewußt und natürlich auch der Versuchung ausgesetzt, "Horrorszenarien" auszubauen. Damit habe er keine Schwierigkeiten, aber Fatalismus ist nicht seine Sache:
Aus unserer intellektuellen Herkunft springt unsere Phantasie stärker an, wenn man kulturpessimistische Strömungen zeichnet, aber sie ist sehr viel schwächer in der Wahrnehmung einer Vielfalt unterschiedlicher Strömungen. Dafür fehlt uns die Begrifflichkeit. Aber eine solche Phantasie wäre notwendig, weil vieles von dem, was in unserer Gesellschaft vor sich geht, gerade unterhalb der gewohnten Stereotypen vor sich geht.
Die Vielfältigkeit der zweiten Moderne, der mit dem Zerfall der Industriegesellschaft und ihrer Sicherheits- und Selbstverständnissysteme eröffnete Möglichkeitsraum, der verschiedene Entwicklungen zuläßt, ist nicht nur Gefahr. Beck will sich nicht einigeln, sondern sich auf die Gegenwart einlassen. Das sei schließlich nicht nur eine Herausforderung, sondern auch ein Stück faszinierendes Denkabenteuer.
"Eine Weltordnung ist zusammengebrochen", verkündet also Beck. "Welche Chance für den Aufbruch in eine zweite Moderne! Doch in Europa geistert ein Gespenst umher: die Angst vor der Freiheit."
Das stimmt - vielleicht. Wir Europäer unterziehen uns zwar gerade wieder der Kur, die Lehren des Fortschritts aus der Neuen Welt zu übernehmen, aber als die in der Alten Welt zurückgebliebenen und von ihren Erfahrungen mit Utopien und Aufbrüchen beherrschten Menschen scheinen wir vorsichtiger, skeptischer, vielleicht auch müder geworden zu sein. Das alte Europa, Jahrhunderte lang das Zentrum der Welt, der Kern der Macht, des Wissens und der Technik, scheint zurückzufallen. Andere Kulturen übernehmen die Macht, auch wenn selbst in der westlich geprägten Neuen Welt bereits die Angst vor dem Bedeutungsverlust und vor dem "Kampf der Kulturen" und Religionen umgeht. Aber Ulrich Beck will nicht aufgeben und schickt seine Truppe in den Kampf um Europa und seine Kultur. Reformation der Moderne ist die Losung. Zunächst aber gilt es das Bewußtsein zu verändern. Globalisierung und Individualisierung bedrohen die alten Sicherheiten und Orientierungen: Nationalstaaten verlieren an Bedeutung, Identitäten lösen sich auf, sozialstaatliche Modelle des Ausgleichs und der individuellen Absicherung durch die Solidargemeinschaft verschwinden, Arbeit ist nicht mehr das Zentrum und die tragende Struktur der Gesellschaft, alles gerät in Bewegung.
Ulrich Beck sieht im "schrumpfenden Volumen der Erwerbsarbeit" und der dadurch bedingten gesellschaftlichen Bedeutungsveränderung der Arbeit eines der Kennzeichen der Zweiten Moderne. Unermüdlich wird uns eingehämmert, daß wir Opfer zu bringen haben, um allen einen Arbeitsplatz zu schaffen. Gelöst hätten wir die Schwierigkeiten, wenn die Arbeitslosigkeit wieder auf ein normales Maß sinkt, wenn wir also den uns bekannten Zustand der Vollbeschäftigung wieder erreicht hätten. Aber genau dies ist für Beck nur Ausdruck einer Ratlosigkeit, denn die Arbeit wird insgesamt weniger. Grund dafür ist nicht nur die wachsende Produktivität und die Automatisierungsprozesse in Produktion und Dienstleistungen, sondern auch, daß seit den 60er Jahren durch die Bildungsexplosion immer mehr Menschen - und vor allem die Frauen - auf den Arbeitsmarkt drängen. Verallgemeinert habe sich das "Muster der Lebensführung, daß die eigene, an Erwerbsarbeit gebundene Lebensplanung zu einem verbindlichen Muster wird." Darauf bauen auch gesellschaftliche Integration durch Individualisierung, Demokratie, der Sozialstaat mit seinen Sicherungssystemen auf. Dieses verflochtene System scheint sich aber heute zu verändern, weil der Sockel der Erwerbsarbeit und die Vollbeschäftigung wegbricht.
Natürlich ist das auch eine Folge der Globalisierung und des weltweiten Arbeitsmarktes, des Schrumpfens von Arbeitsplätzen im produzierenden Sektor und eben der Zunahme an Arbeit Suchenden, gleich ob sie dies freiwillig oder aus Zwang heraus machen, weil die familiären Sicherheitssysteme sich auflösen. Der Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft wird oft damit verbunden, daß die in der industriellen Produktion wegbrechenden Arbeitsplätze durch solche in der Dienstleistung ersetzt werden können. Unterbeschäftigung, Mehrfachbeschäftigung, ungesicherte und selbständige Arbeit sind eine Folge. Die Globalisierung der Ökonomie, so sagt man uns, erzwinge eine Liberalisierung aller Märkte. Ist der Markt frei, so die neualte Ideologie des Liberalismus, dann wachse der gesellschaftliche Wohlstand und die Zahl der Arbeitsplätze, dann regele sich alles von selbst zum Besten von allen, auch wenn, was nicht gerne dazu gesagt wird, die Schere zwischen den Einkommenstarken und -schwachen weiter aufgeht.
Trotz allen Optimismus sieht Beck im Neoliberalismus, der heute bei uns vorherrschend wird, während er in den angloamerikanischen Staaten bereits an Kraft eingebüßt habe, eine "politische Blindheit, ein politisches Analphabetentum", weil er auf den "Ausschluß immer größerer Bevölkerungsgruppen" zulaufe und letztlich über das Schrumpfen des Staates auf eine "Abschaffung der Politik" hinauslaufe.
Man könne nicht mit den alten, auf Erwerbsarbeit beruhenden Rezepten weitermachen. Es gehe darum, das Verteilungsproblem neu und ohne Rückgriff auf sozialistische Ideen zu stellen, vor allem aber darum, "wie man mit diesem potentiellen Mehr an Freiheit von der Arbeit umgehen kann." Schließlich sei "Arbeitslosigkeit" nicht an sich eine Katastrophe, sondern eigentlich eine erstrebenswerte Situation. Die derzeit laufende Globalisierungsdebatte aber verdeckt das Erkennen der neuen Situationen. Noch sei der Anteil der globalisierten Wirtschaft gegenüber der nationalen oder internationalen gering. Globalisierung also ist kein Sachverhalt, sondern lediglich ein mögliches, wenn auch wahrscheinliches Risiko, das heute aber geschickt inszeniert werde. Gleichwohl gehe die nationalstaatliche Ausrichtung von Politik ihrem Ende zu.
Heute haben wir die Situation, daß der Bourgeois ein globaler Akteur ist, aber der Citoyen noch in nationalstaatlichen Kategorien befangen ist. Die Vorstellung von abschließbaren Räumen ist fiktiv.
Beck meint, daß man sich nicht in der Falle der nur ökonomisch fundierten Globalisierung fangen lassen solle, weil darauf nur protektionistische Antworten im Rahmen der Nationalstaaten oder auch übergeordneter Instanzen wie der EU erfolgen können. Globalisierung heißt für ihn vor allem, daß die "Vorstellung, in abgeschlossenen Räumen zu leben und zu denken, fiktiv geworden ist."
Wenn die wirtschaftliche Bedeutung des Nationalstaates und der Erwerbsarbeit sinke und die Individualisierungserwartungen der "Kinder der Freiheit" zunehmen, stellen sich freilich neue soziale Integrationsprobleme. Heute erscheinen sie als Verweigerung der nachwachsenden Generation, in den Institutionen der alten Gesellschaft noch mit zu wirken und diese zu tragen. Die "Kinder der Freiheit" wollen "Verantwortung für die eigene Lebensführung" übernehmen, sich nicht mehr in traditionelle Zwänge und Institutionen einordnen und Spaß haben - sind das wirklich die neuen Kinder der Freiheit oder nur noch einmal aufgewärmte Vorstellungen aus den 70er Jahren? Das sehe wie politisches Desinteresse aus, lege aber den Grund für neue "wuselige und wieselige Beschäftigungs- und Engagementformen", die keinen Eingang in die verhärteten und überalterten Institutionen finden.
Es gehe um die Erfindung neuer, offenerer Gemeinschaftsformen und sozialer Beziehungen, deren Organisation auf gesellschaftlicher Ebene erst noch gefunden werden müsse. Kulturpessimisten sehen einen Zerfall der Gesellschaft, der sozialen Solidarität, durch die Individualisierung. Schließlich bricht mit dem Nationalstaat und dem globalisierten kulturellen und ökonomischen Subjekt auch die größere Klammer weg, die bislang noch einen Ausgleich der unterschiede ermöglichte.
In der Tat greifen die alten Integrationsmechanismen durch Religion, Krieg und Erwerbsarbeit nicht mehr. Aber Beck setzt auf eine Integration durch "politische Freiheit". Gemeinsames, selbstorganisiertes Handeln stifte auch Zusammenhänge. Dem müsse man mehr Platz einräumen - durch eine "Arbeitsteilung zwischen Politik und demokratischer Kultur". Sicher, die Gefahr bestehe, daß sich der "häßliche" egoistische Bürger dann desto besser gegenüber Interessen der Allgemeinheit durchsetzen könne. Daher müsse man sich sehr wohl überlegen, welche Themen an die demokratische Gesellschaft delegiert werden können und welche Entscheidungsverfahren hier gelten sollen. Aber damit haben wir noch keine richtige Erfahrung. Wir kennen die Normalität einer "lebendigen und quirligen" Gesellschaft nicht, die nicht permanent unter dem Deckel von höheren Instanzen nur köcheln können.
Die Gestaltungsräume sind und werden größer, glaubt Beck, obgleich die Globalisierung neue Zwänge mit sich bringt. Obgleich heute alles noch um den materiellen Verteilungskampf gehe, stehe längst der immaterielle Verteilungskampf "um knappe, kaum in Geld aufwiegbare (ausdrückbare) Güter wie Ruhe, Muße, selbstbestimmtes Engagement, Abenteuerlust, Austausch mit anderen usw." auf der Tagesordnung.
Das können wir für Beck nur nicht sehen, weil wir in den Inszenierungen der Gefährdungen befangen seien. Deshalb geht der Aufbruch in die Zweite Moderne wieder erst einmal über die Veränderung der Interpretation, wie wir die Welt sehen. Die Wirklichkeit sei wesentlich mehr, als wir denken, an politisches Handeln gebunden, das aus Wissen entsteht. Womit wir wieder in der Informationsgesellschaft und die Kämpfe um Informations- und Wissensmonopole sowie um das knappe Gut der Aufmerksamkeit gelandet sind.