Nach palästinensischem Selbstmordanschlag greift Israel Syrien an

Internationale und israelische Friedensaktivisten wollen Arafat schützen

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19 Menschen starben am Samstag bei einem Selbstmordanschlag in der israelischen Küstenstadt Haifa. Die angehende Rechtsanwältin Hanadi Jaradat sprengte sich im gut besuchten Restaurant Maxim, das von palästinensischen Israelis betrieben wird, in die Luft. Unter den Toten sind vier Kinder und vier palästinensische Israelis. Die israelische Armee tötete vor kurzem zwei Brüder Jaradats, mutmaßliche Mitglieder der Gruppe Islamischer Jihad.

Das israelische Militär vermutet, dass die Attentäterin die Grüne Linie, die Grenze zu den besetzten Gebieten, bei Baqa Sharqiya nördlich von Qalqilya überquerte. In dieser Region sind die Sperranlagen aus Mauern und Zäunen bereits fertiggestellt. Baqa Sharqiya mit seinem fruchtbaren Umland, eigentlich Teil des Westjordanlands, befindet sich dabei auf der israelischen Seite der unüberwindbaren Trennmauer. Es ist ein Rätsel, wie Jaradat das Gewirr aus Gräben, Stacheldraht, elektronisch gesicherten Zäunen und Militärstreifen überwinden konnte. Das Haus von Jaradats Familie wurde vom israelischen Militär zerstört.

Ihr Anschlag ist der erste seit dem 10. September, als bei einem Doppelattentat 15 Israelis starben. In den besetzten Gebieten wurden dagegen in der "Zeit der relativen Ruhe" zwischen beiden Anschlägen 27 Palästinenser erschossen. In diese Zeit fällt außerdem die israelische Entscheidung, die Kolonie Ariel auf die israelische Seite des Trennzaunes zu holen. Die Sperranlage schneidet sich so tief in die besetzten Gebiete und produziert, neben neuen massiven Landenteignungen, weitere palästinensische Enklaven.

Israel attackiert Syrien

Nach dem Anschlag von Haifa flog die israelische Armee Luftangriffe westlich von Damaskus/Syrien. Die Raketen galten einem Trainingslager, das von einigen Gruppen genutzt wurde, unter anderen dem Islamischen Jihad. So lässt jedenfalls der israelische Militärsprecher verlauten. "Israel wird entschlossen gegen jene vorgehen, die seine Bürger angreifen", so die Pressemitteilung, "ausgehend von seinem Recht zur Selbstverteidigung, wie es jedem souveränen Staat zusteht." Von der Souveränität Syriens und der Verletzung syrischen Luftraums war allerdings keine Rede.

Das getroffene Lager war leer zum Zeitpunkt des Angriffs. Ein Sprecher des Islamischen Jihad in Syrien erklärte, dass Mitglieder seiner Gruppe nicht in Syrien trainiert werden. Ein Vertreter der Volksfront für die Befreiung Palästinas/Generalkommando, einer Splittergruppe, meldete dagegen Eigentumsrechte an. Syrien selbst hat sich bei den Vereinten Nationen über den Angriff auf sein Staatsgebiet beschwert und fordert eine Sondersitzung des Sicherheitsrats. Es ist bekannt, dass die Regierung die bewaffneten Aktivitäten palästinensischer Gruppen auf ihrem Territorium seit geraumer Zeit massiv unterbindet.

Uri Avnery am Sonntag im Hof von Arafats Amtssitz in Ramallah

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery erklärte zum Luftangriff, dass Israel in Syrien einen Stellvertreterkrieg führe. "Die USA können sich im Moment keinen weiteren Angriffskrieg in der Region leisten", so Avnery am Sonntag. "Deswegen hat Israel die Erlaubnis zu diesem Überfall erhalten." Seiner Meinung nach steht die syrische Regierung als nächstes auf der persönlichen Abschussliste George W. Bushs.

Israelische Kampfhubschrauber bombardierten noch am Samstag Wohnviertel im Gazastreifen. In Jenin, dem Herkunftsort der Selbstmordattentäterin von Haifa, wurde erneut eine Ausgangssperre verhängt. Die Einwohner rechnen mit Erschießungen, Festnahmen und Häuserzerstörungen.

Die palästinensische Führung verurteilte den Selbstmordanschlag von Haifa. Darüber hinaus kann sie wenig ausrichten. Mit Ausnahme von Bethlehem hat ihre Polizei außer der Kontrolle des Straßenverkehrs keine Befugnisse. Im gesamten Rest des Westjordanlands wird das Leben der Palästinenser von der israelischen Armee bestimmt. Die Vereinigung Internationaler Entwicklungshilfeagenturen (AIDA) kritisiert die mehr als 450 Straßenbarrieren, die das Leben der Menschen unter der Besatzung behindern. Sie fordert Israel auf, die Bewegungsfreiheit der Palästinenser wiederherzustellen und die entsprechenden internationalen Bestimmungen einzuhalten.

Erneut menschliche Schutzschilde bei Arafat

Trotz der eingeschränkten palästinensischen Autorität im Westjordanland hat die israelische Führung die Autonomiebehörde für den Anschlag von Haifa verantwortlich gemacht. Das israelische Parlament hat bereits vor Wochen die Ausweisung des palästinensischen Präsidenten Arafat beschlossen. Ministerpräsident Ariel Scharon will aber von so einem Schritt vorerst absehen. "Arafats Deportation kann zwar den Durst nach Rache befriedigen, den viele Israelis verspüren", so ein Sprecher Scharons, "aber das würde Israel nicht helfen." Die USA haben in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass sie eine Ausweisung Arafats nicht begrüßen würden.

Die US-Amerikanerin Huweida Arraf, eine der Mitbegründerinnen von ISM, mit dem Handwerkszeug eines ISM-Aktivisten - Handy, Laptop und Schlafplatz - im Amtssitz Arafats am Sonntag

Sollte Scharon seine Meinung ändern, könnte wieder ein Fiasko wie während des Beschusses des Amtssitzes von Arafat im April 2002 entstehen. Wie schon damals, halten sich seit Samstagabend Mitglieder der Internationalen Solidaritätsbewegung (ISM) in dem Komplex auf. Sie werden begleitet von Aktivisten der israelischen Gruppe Gush Shalom, unter anderen Uri und Rachel Avnery. Sie sind bereit, Arafat vor einem israelischen Angriff zu schützen.

"Wir trafen die Entscheidung, nachdem wir von dem schrecklichen Selbstmordanschlag in Haifa hörten", erklärt Huwaida Arraf von ISM. "Die israelische Regierung nutzt den Anschlag wieder dazu, um von der langjährigen Besatzung der palästinensischen Gebiete als eigentlichem Grund der Gewalt abzulenken. Ein Vorgehen gegen Arafat ist in diesem Klima leicht vorstellbar."

Die israelische Armee geht in Ramallah ein und aus und kann jederzeit vor Arafats Tür stehen. "Wir sind uns nicht sicher, ob wir in dem Fall wirklich bleiben würden", glaubt David Makofsky (65), "aber wenn sie anrücken, wird es wohl zu spät zum Gehen sein." Das Mitglied der "Jüdischen Stimme für Frieden" aus den USA ist eigentlich angereist, um bedrohten palästinensischen Bauern in der Nähe jüdischer Kolonien bei der Olivenernte zu helfen. Seine 62-jährige Frau Ruth ist auch gekommen. "Ich hatte erst Angst", sagt sie. "Aber als klar war, dass Uri Avnery hier ist, hielt ich die Gefahr für einschätzbar."

Der Prominenteste aller israelischen Friedenskämpfer glaubt, dass Ministerpräsident Ariel Scharon seine Drohung bald wahr macht. "Er will Arafat schon seit Jahren umbringen", erklärt Avnery, "das ist nicht die Frage. Unklar ist nur, wann und wie er es macht."

Aber die Stimmung ist gut. Alle werden von dem Auftritt eines italienischen Chors überrascht, der Revolutionslieder zum besten gibt. Rachel Avnery hält ihre Rede auf hebräisch, eine palästinensische Kollegin auf arabisch. "Hier zeigen Palästinenser und Israelis, wie leicht ein Zusammenleben ohne Besatzung funktionieren könnte", kommentiert ein Gruppenmitglied.

Peter Schäfer, Ramallah