Nachrichten vom Nullmeridian II

England vor den Wahlen

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Wer in London zur morgendlichen Rush Hour die U-Bahn benutzt, sieht sich regelrecht von einem Blätterwald umgeben. Die Londoner, abgebrüht von den zahlreichen privatisierungsbedingten Störungen im öffentlichen Nahverkehr, stecken ihre Nasen tief in das Lieblingsblatt ihrer Wahl. Nun, knapp zwei Wochen vor den anstehenden Unterhauswahlen, nimmt das Rauschen im Blätterwald bedrohliche Ausmasse an.

Argumentierend, agitierend, ironisch, sarkastisch, bitter, derb, witzig bis aggressiv, in allen Varianten und mit einer Respektlosigkeit gegenüber den Spitzenpolitikern, wie sie im deutschsprachigen Raum unbekannt ist, werden die Ereignisse des Wahlkampfes kommentiert.

Rein sachlich gesehen gibt es eigentlich nicht umwerfend viel zu berichten. Der Vorsprung von Labour in allen Meinungsumfragen liegt stabil zwischen 18 und 20 Prozent. Nur wenige wagen zu unken, dass Labour auch 92 bei den Umfragen deutlich vorne lag, dann aber trotzdem verlor, weil es sich die Wählerschaft wohl teilweise im letzten Moment anders überlegt hatte, weil aber auch die Wahlsprengelverteilung für Labour besonders in den Städten ungünstig ist (ein fürsorgliches Relikt von Lady Thatcher).

Kann so ein Umfaller in letzter Minute heute wieder passieren? Eigentlich nicht. Zu gut geölt funktioniert die Wahlkampfmaschine von Tony Blair und darum ging es wohl auch beim Umbau von Labour zu "New Labour": Aus einem zerstrittenem Haufen mit Verliererimage und breitem politischem Spektrum innerhalb der Partei - von Bergarbeiter-Sozialismus bis zu bürgerlich sozialdemokratischer Mitte - ein wahlkampftaktisches Schlachtschiff zu formen, in dem jeder Parteisoldat an seinem Platz steht, wo niemand aus der Reihe tanzt.

Mit seiner Taktik, die "radikale Mitte" der Gesellschaft zu besetzen, hat Blair jeden Anflug einer sozialdemokratischen Programmatik über Bord geworfen und ist damit gleichzeitig die lästigen sozialistischen Hinterbänkler in den eigenen Reihen losgeworden. Diese haben, so wie Arthur Scargill, Held der Bergarbeiterstreiks, längst eigene Parteien gegründet, und die wollen nun nicht einmal mehr als Labour-Beiboote im Umkreis des Mutterschiffs gesehen werden, sondern dümpeln irgendwo am Rand der konservativ-linken Weltsicht umher.

Von derartiger strategischer Geschlossenheit im Wahlkampf vermag John Major wohl inzwischen nicht einmal mehr zu träumen. Denn es sind längst nicht mehr bloß einige Hinterbänkler in den eigenen Reihen, die von der Wahlkampflinie des Chefs abweichen, sondern ein signifikanter Teil der Tories.

Angst vor Europa

John Major attackiert in verzweifelter Wahlkampfansprache die eigenen Parteimitglieder.

Der wahlkampftechnisch so unkluge Streit entzündete sich an der Europa-Frage. John Majors Linie, und damit Regierungslinie, mit der der Wahlkampf hätte bestanden werden sollen, war eine des "Abwartens und Zusehens". Man wolle erst sehen, wie sich ein gemeinsames Europa, insbesondere die gemeinsame Währung entwickle, bevor sich Großbritannien auf irgendeine Richtung festlegen würde. Bereits früher mußte Major seine euroskeptischen Parteikollegen bitten, dass sie ihn "nicht nackt in den Verhandlungsraum" schicken sollen. Denn würde er von vorneherein den Euro ablehnen, so hätte er keine Möglichkeit, die Entwicklung der gemeinsamen Währung zu beeinflußen, oder, sollte sich diese als günstig erweisen, doch noch auf den Euro-Zug aufzuspringen.

Am 14.April erlitt Majors Linie den ersten Tiefschlag, als zwei Minister des Kabinetts in Wahlkampfreden verkündeten, mit ihnen würde es "niemals" den Euro in GB geben. Versuche Majors, die Ausscherer wieder auf Linie zu bringen, führten dazu, dass immer mehr Tory-Abgeordnete bekanntgaben, dass sie niemals einer gemeinsamen Währung zustimmen würden. Am Mittwoch morgen, den 16.April, verkündete Major schließlich in einer flammenden Rede seine Standhaftigkeit in der Thematik und kündigte zugleich an, dass Abgeordnete in einer zukünftigen Abstimmung zu diesem Thema "blockfrei" abstimmen dürften. Mit dieser Ansprache verprellte Major jedoch zwei der wichtigsten Führungskader der Partei, David Hesseltine und Kenneth Clarke, die beide nicht über die Option der freien Abstimmung informiert worden waren und zeitgleich an anderen Orten widersprüchliche Statements abgaben.

In der Folge geriet die konservative Partei in einen Malstrom der Selbstzerstörung. Zum Wochenende hin zeichnete sich eine regelrechte Rebellion innerhalb der Partei ab und Majors Führungsanspruch wurde offen in Frage gestellt.

Hätte es noch irgendeines Beweises für die Regierungsmüdigkeit der Konservativen bedurft, so ist er damit gegeben. Es wird wohl bald niemanden mehr interessieren müssen, was die Tories von der EU halten, weil eine andere Partei das Ruder übernimmt. Pikanterie am Rande ist, dass die Tories eigentlich traditionell die EU aus wirtschaftlichen Gründen eher befürworteten, während Labour aus Furcht vor Sozialabbau gegen zu viel "Europäisierung" war.

Die heutige Anti-Europa Stimmung der Tories ist weniger von rationalen Überlegungen geprägt, als von der nicht überwundenen traumatischen Erfahrung während der letzten sechzig Jahre von einem Weltreich auf ein ganz normales europäisches Land reduziert worden zu sein. Sie wollen den Pfund, der ihnen "heilig" ist, unbedingt beibehalten und mit niemandem in Brüssel über ihre Finanzpolitik verhandeln müssen. Mit anderen Worten: Die Arroganz der Gebrochenen. Darin ähneln die Tories heute den letzten Kaisern von Konstantinopel. Selbst als das ehemalige Weltreich auf die Größe einer einzigen Stadt geschrumpft war, wurden im Kaiserpalast immer noch die alten Rituale der Macht aufgeführt.

Programm von New Labour

Die Zukunft der Europapolitik des Vereinten Inselreichs liegt höchstwahrscheinlich in den Händen von New Labour. Deren Euro-Kurs ist, wie es das Konzept der "radikalen Mitte" vorsieht, eigentlich kaum von der Haltung Majors zu unterscheiden (bloß dass Major keine Partei mehr hinter sich hat). New Labour will keinesfalls kopfüber in den Teich einer gemeinsamen Währung springen. Sollte sich die Frage der Teilnahme an der gemeinsamen Währung ernsthaft stellen, so will New Labour das Volk in einem Referendum entscheiden lassen.

Was Blair von Major bezüglich Europa unterscheidet, ist, dass eine Labour-Regierung auch die Sozial-Charta des Einigungsvertrages unterschreiben wird. Im Kern geht es bei der Sozial-Charta darum, die Schattenseiten der neoliberalen, streng monetaristisch orientierten Wirtschaftspolitik abzufangen. Das heißt es geht auch um Arbeitsmarktpolitik und damit um einen heiklen Punkt im Programm von New Labour. Denn Blair möchte die derzeitige Arbeitsmarktpolitik beibehalten, inklusive der Anti-Gewerkschaftsgesetze, die Thatcher erlassen hat. Würden in einer zukünftigen Sozial-Charta, z.B. von Deutschland und Frankreich initiiert, gewerkschaftsfreundliche Paragraphen aufgenommen, so bekäme Blair damit ein Problem. Doch er weiß wohl, dass er in dieser Hinsicht von den Kontinentaleuropäern wenig zu fürchten hat. Denn diese sind ja gerade dabei, die "flexible" Arbeitsmarktpolitik von Großbritannien nachzuahmen.

Was die eine Seite als "flexibel" bezeichnet, stellt sich in anderem Licht als schlichter Abbau von Arbeitnehmerrechten dar: verminderte Möglichkeiten zur gewerkschaftlichen Organisation; keine Festangestelltenverhältnisse mehr, sondern "hire and fire" nach amerikanischem Vorbild; eigene Vorsorge der "Selbstangestellten" für Krankheit, Alter und "arbeitsfreie Zeit".

Wie der Begriff von den "Selbstangestellten" zeigt, gibt es eigentlich keine Arbeitnehmer mehr, sondern nur noch "Selbständige", die eben zufällig meistens für die gleiche Firma arbeiten; ein Großteil von ihnen überdies vermittelt von Zeitarbeitsfirmen, so dass die Begrenztheit des Dienstverhältnisses von vorneherein klargestellt ist.

Dieses von New Labour mitgetragene Konzept liegt im Trend der konsensuellen Zugeständnisse an die Globalisierung, so dass die Kontinentaleuropäer via Sozial-Charta kaum darauf Einfluß werden nehmen wollen. Interessant ist allerdings, dass ein derartiges Konzept noch unter dem Namen "New Labour" vertreten werden kann. Vielleicht wäre die Partei besser beraten, sich in "New Conservativism" umzubenennen, während es die Tories evtl. mit "Great Old Britain" versuchen sollten. In der Mitte ist man sich jedenfalls verdammt nahe. Der "Konservativismus mit freundlichem Gesicht", den Labour vertritt, unterscheidet sich kaum vom gemäßigten Thatcherismus Majors.

Die Feinheit der Unterschiede

Die auffälligsten Unterschiede zwischen den Parteien bilden also die Geschlossenheit von Labour und die Zerstrittenheit der Tories zum einen, sowie die Persönlichkeiten der Spitzenkandidaten und die Art der Wahlkampfführung zum anderen.

"Boom or Gloom" Kampagne der Tories

Die Tories versuchen, abgesehen von der Euro-Blamage, erst gar nicht mit Themen in den Wahlkampf zu gehen, sondern konzentrieren sich voll darauf, den politischen Gegner abzukanzeln. Vorläufigen Höhepunkt bildete ein Zeitungsinserat, das Tony Blair als Bauchrednerpuppe am Knie von Helmut Kohl zeigt. Die Deutsche Regierung hielt sich wohlweislich mit jedem Kommentar zu diesem Fehlgriff zurück. Nicht so die britische Presse. Am nächsten Tag zeigte der "Guardian", ein sich klar zu Labour bekennendes Blatt, John Major als Puppe auf dem Schoß von Tony Blair. Selbst konservative Abgeordnete distanzierten sich von dem Kohl-Inserat. Doch die Spitze hält weiter am Konzept der Diskreditierung fest. Wenig später bezeichnete Major Blair als "Fliege bei einer Spinnenkonferenz", auf das anstehende Euro-Gipfeltreffen in Amsterdam anspielend.

Labour hingegen zeigt im Wahlkampf humorlose Kontinuität und macht in "Themen". Hauptslogan ist "Grossbritannien verdient Besseres!" Andere Plakate beziehen sich auf Punkte, an denen die Briten der Schuh drückt: "Die Wartezeiten im öffentlichen Gesundheitssystem werden kürzer!" - "Wir werden die Schüleranzahl in den Klassen senken".

Typisch sachliches Labour-Plakat.

So versucht Blair zumindest rhetorisch klassische Labour-Themen wie Gesundheit und Ausbildung zu besetzen und damit ein reformerisches Image zu verstrahlen. Gleichzeitig darf er jedoch keinesfalls in den Geruch kommen, für Gesundheit und Bildung die Staatsausgaben erhöhen zu wollen, und vielleicht auch gar die Steuern. Die Verbesserungen in Gesundheits- und Bildunsgwesen sollen durch Einsparungen in der Bürokratie finanziert werden. Doch dem widersprechen die direkt Betroffenen, die Vertretungen der Lehrer und der Ärzte. Nach den großen Kürzungswellen der Vergangenheit sehen sie kein großes Einsparungspotential, schon gar nicht in Höhe von 1.5 Milliarden Pfund, die Blair glaubt allein aus den Krankenhausverwaltungen herausholen zu können. Da Blair den Argumenten dieser Berufsgruppen sachlich eigentlich kaum etwas entgegensetzen kann, malt er den Teufel an die Wand, indem er behauptet, die Tories wollten das öffentliche Gesundheitssystem ganz abschaffen, Ärzte sollten zu Privatangestellten von Firmen, z.B. Pharmakonzernen, werden können. Da den Tories ein solcher Schritt durchaus zugetraut wird, obwohl sie ihn bislang nicht zum öffentlich verkündeten Teil ihrer Politik machten, kann sich Blair zumindest als Bewahrer eines Rest-Gesundheitssystems feiern lassen.

Ein anderer, rarer Punkt, in dem sich Labour und die Konservativen unterscheiden, ist die Frage nach mehr Autonomie für die "Provinzen" Schottland und Wales. Blair möchte ihnen eigene Regionalparlamente zugestehen. Dann hätten sie auch mehr Kompetenz in der Verwaltung eigener budgetärer Mittel. Außen- und sicherheitspolitisch würden sie fest innerhalb von Großbritannien bleiben.

Die Frage ist, ob das ein längst notwendiger Schritt ist, hin zu einem modernen, aufgeklärten Förderalismus, oder ob da nicht einfach nur nationalistischem Gedankengut Tribut gezollt wird. Die Shetland Islands z.B., die dann als "Minderheit" zu Schottland zählen würden, sehen eine solche Entwicklung gar nicht so gerne, und glauben, mit einer Londoner Zentralregierung als ihrem Ansprechpartner besser bedient zu sein.

Wie um das Argument des aufkeimenden Nationalismus und des Stimmenfangs über solche "völkischen" Emotionen zu bestätigen, erschien dann auch noch ein Wahlkampf-Fernsehspot von Labour, der neben Tony Blair eine britische Dogge als Hauptprotagonisten zeigt. Die Dogge ist in GB ein Symbol des Nationalismus und wurde traditionell bisher eigentlich nur von der Rechten verwendet.

Wie es aussieht, kann Blair eigentlich gar nicht mehr so viel falsch machen. So zeichnet sich ein lang erwarteter Wechsel ab, der allerdings wenig Anlaß zu "Wendefieber" gibt. Das Leben der normalen Leute auf der Straße dürfte sich kaum verändern.

Eine Ausgabe der anarchistischen Zeitschrift "Freedom" vom Juni 87, die mir bezeichnenderweise auf der Toilette eines Freundes in die Hände fiel, machte "Wahlkampf 97" zum Deja-Vu-Erlebnis. Freedom erklärte ihrer Leserschaft die tiefere Bedeutung der Wahlkampfslogans von 87. Wenn die Tories sagten "der Wirtschaft geht es bestens", dann hieß das, "die Wirtschaft ist in totaler Unordnung". Der Slogan der Tories 97 lautet "Grossbritannien boomt". Den zweiten Teil des Reims darf sich jeder selbst machen, wenn viele der Leute, die so erfolgreich aus den Arbeitslosenzahlen wegretuschiert wurden, für Stundenlöhne unter 10 Mark arbeiten, während das Preisniveau dem der teuersten Städten Mitteleuropas entspricht oder darüber liegt.

Wenn Labour 87 sagte (ich zitiere erneut "Freedom") "wir bekennen uns zu einer multi-ethnischen Gesellschaft", dann hieße der Untertext, "wir leben in West Hampstead" (ein Londoner Stadtteil der gehobenen weißen Mittelklasse). Wie zum Beweis schicken zehn Jahre später die Blairs eine ihrer Töchter nicht in die Schule, in die sie laut Schulsprengeleinteilung automatisch hätte gehen müssen, sondern in ein sieben Meilen entferntes "besseres" Institut, das von den Spenden wohlhabender Privatpersonen finanziert und wohl auch hauptsächlich von deren Kindern frequentiert wird. "Freedom" schloß seine Satire 87 mit einem Seitenhieb auf die Presse. Wenn die Journalisten schreiben, "der Wahlkampf kommt in die heiße Phase", dann ist das laut Freedom zu interpretieren als, "wir langweilen uns zu Tode".

Doch die anarchistische Konsequenz zu ziehen und nicht zur Wahl zu gehen, wäre für die Briten 97 wohl verkehrt. GB braucht den Wandel, um dem um sich greifenden Zynismus und Defaitismus zu entkommen. Denn schließlich wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Regierung, die am 1.Mai 97 gewählt werden wird, GB auch ins nächste Jahrtausend führen. Wobei anzumerken ist, dass in GB der Unterschied zwischen offizieller Kultur und tatsächlicher Kultur größer ist als in vielen anderen Ländern. Offiziell ist eigentlich fast jede spontane Äußerung von Lebendigkeit in den Straßen Londons verboten und die Einhaltung dieser Verbote wird per Video-Grid überwacht. Tatsächlich machen aber die meisten Londoner dennoch einfach was sie wollen, ganz egal, was die Regierung davon denkt, im Guten wie im Schlechten. Gibt es also noch Hoffnung in Konstantinopel vor dem Ansturm der asiatischen Horden?