Nahost-Politik, Israel und Gaza: "Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit"
Buchautor Johannes Zang über das Leiden im Gaza-Streifen. Über Wege zum Frieden. Und eine notwendige Korrektur. Ein Telepolis-Podcast.
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Spätestens seit Oktober vorigen Jahres ist der Gaza-Streifen fast täglich Thema in den Nachrichtensendungen. Es begann mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel mit über 1.200 Toten und mehr als 200 Geiseln. Und es folgten Monate des Krieges, in dem nach Angaben der Hamas bereits über 40.000 Palästinenser getötet wurden, die meisten von ihnen Zivilisten.
Doch auch vorher war dieses kleine, extrem dicht besiedelte Stück Land Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen, lebten die Menschen dort zwischen Besatzung, Blockade und Krieg.
Warum passierte und passiert das alles gerade im Gaza-Streifen? Gibt es nach all den schrecklichen Erfahrungen doch noch Hoffnung auf Frieden in der Region? Darum geht es im neuen Buch von Johannes Zang, das gerade bei PapyRossa erschienen ist. Zang ist Musiktherapeut, Lehrer, Reiseführer und Journalist. Er hat den Gaza-Streifen in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als 30 Mal besucht.
Dietmar Ringel hat im Telepolis-Podcast mit Johannes Zang gesprochen.
▶ Wann waren Sie das letzte Mal im Gaza-Streifen?
Johannes Zang: Vor etwa fünf Jahren. Die letzten Einreisen waren immer sehr schwierig, weil man drei Genehmigungen brauchte – vom israelischen Verteidigungsministerium, von der palästinensischen Behörde in Ramallah und von der im Gaza-Streifen regierenden Hamas. Es war immer ein riesiger bürokratischer Akt, aber es hat in den meisten Fällen funktioniert.
▶ Welche Erinnerungen haben Sie an diesen letzten Besuch? Unter welchen Bedingungen haben Sie die Menschen dort erlebt?
Johannes Zang: Es war ein Besuch unter Blockade-Bedingungen. Israel hat 2006, nach dem Sieg der Hamas bei den Wahlen und nachdem die Hamas einen israelischen Soldaten namens Gilad Shalit gefangen genommen und in den Gaza-Streifen verschleppt hatte, eine Blockade verhängt. Wobei Menschenrechtsorganisationen, sowohl israelische als auch palästinensische, sagen, es sei im Grunde eine Verschärfung der Blockade gewesen, die schon vorher mit Unterbrechungen bestand.
Also bei meinem letzten Besuch vor fünf Jahren dauerte die Blockade schon mehr als zehn Jahre an. Ich habe sehr viele untätig herumsitzende Menschen getroffen, vor allem junge Erwachsene. Das wird auch durch Statistiken belegt. Damals lag die Arbeitslosigkeit im Gaza-Streifen bei etwa 50 Prozent, unter jungen Leuten war sie noch höher. Zu dieser hohen Arbeitslosigkeit kamen Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Ich habe mich immer gefragt, wie lange die Menschen das noch mitmachen und wie lange die internationale Staatengemeinschaft noch zuschaut. Nehmen wir als Beispiel die Fischerei. Es gibt Abkommen zwischen den Palästinensern und den Israelis, wie weit die Fischer mit ihren Booten herausfahren dürfen. Eigentlich sind 20 Seemeilen vorgesehen. Aber das wurde immer wieder massiv eingeschränkt.
Teilweise waren es nur drei Seemeilen, und da fängt man nicht viel. Die reichen Fischschwärme, seien es Barsche, Heringe oder Brassen, findet man erst ab zehn oder 15 Seemeilen. Also es gab überall Menschen, die zur Untätigkeit verdammt sind. Menschen, die auch raus aus dem Gaza-Streifen wollen, weil sie etwa einen Operationstermin in einem Krankenhaus in Israel oder in Ost-Jerusalem oder in Kairo haben, und die monatelang auf die Ausreisegenehmigung durch Israel oder Ägypten warten. Also, viele Menschen waren und sind hoffnungslos und sehr traurig darüber, dass alles so gekommen ist.
▶ Haben sie jetzt auch noch Kontakt zu Menschen im Gaza-Streifen? Kann man dorthin telefonieren? Hören sie etwas von Bekannten?
Johannes Zang: Ich war in der Regel über E-Mail in Verbindung mit ihnen. Zum Beispiel mit Doktor Abed Chokry, der auch in Deutschland sehr bekannt ist, weil er hier studiert und promoviert und auch viele Vorträge gehalten hat. Der ist vor einigen Monaten mit Frau und vier Kindern nach Ägypten gekommen.
Deutsche Freunde haben ihn quasi freigekauft. Jetzt sitzt er in Ägypten fest. Die Direktorin des Al-Ahly-Krankenhauses, mit der ich oft in Gaza-Stadt gesprochen habe, antwortet nicht auf meine Mails. Ich weiß nicht, ob sie noch am Leben ist, ob sie ausreisen konnte. Sie hatte zwei Pässe, einen amerikanischen und einen palästinensischen. Allerdings kann man immer noch Internetseiten von Organisationen im Gaza-Streifen lesen, die trotz des Krieges weiter aktualisiert werden.
Zum Beispiel die das palästinensische Zentrums für Menschenrechte oder von "We Are Not Numbers". Das ist ein Schreibprojekt von jungen Gazanern, die mit einem englischsprachigen Mentor ihre Geschichten verfassen und dann online stellen. Auch diese Seite war zumindest vor zwei, drei Wochen, als ich sie das letzte Mal besucht habe, noch aktiv. Aus solchen Quellen beziehe ich derzeit meine Informationen, direkte Kontakte zu meinen Bekannten gibt es leider nicht. Ich weiß nicht, wie es ihnen geht und ob sie überhaupt noch am Leben sind.
▶ Ob ägyptische Herrschaft, israelische Besatzung oder Blockade – Sie beschreiben in Ihrem Buch das Leben in Gaza zu keiner Zeit als frei und normal. Was empfinden die Menschen als besonders bedrückend?
Johannes Zang: Am häufigsten war ich zwischen 2005 und 2008 im Gazastreifen. In dieser Zeit habe ich in Ost-Jerusalem gelebt. Was ich damals, aber auch bei späteren Besuchen im Gaza-Streifen am häufigsten gehört habe, war: Wir sind das größte Freiluftgefängnis der Welt.
Ich habe junge Menschen getroffen, 20, 25 0der 30 Jahre alt, die noch nie dieses Gebiet verlassen hatten. Man muss sich vorstellen, der Gaza-Streifen ist etwas kleiner als das Stadtgebiet von Köln. Wir sprechen von 365 Quadratkilometern, und die Leute kennen nichts anderes als dort eingesperrt zu sein.
Sehr viele sind arbeitslos. Es gibt Großfamilien mit sechs, sieben und mehr Kindern. Und wenn man Glück hat, gibt es in einer solchen Großfamilie einen, den Vater oder den ältesten Bruder, der vielleicht irgendwo als Tagelöhner eine Arbeit hat. Also, die Leute leben sehr, sehr ärmlich, haben nur das Allernötigste.
Und diese Perspektivlosigkeit habe ich bei all meinen Besuchen gespürt, außer vielleicht den allerersten 1986 und 1987. Da konnten Gazaner verglichen mit den heutigen Verhältnissen noch kinderleicht ausreisen. Sie konnten sogar im eigenen Auto durch den damals lächerlich wirkenden Kontrollpunkt durchfahren, der heute ein großer Terminal mit Mauer und Zaun ist.
▶ Sie beschreiben vieles in Ihrem Buch aus der Sicht der Gazaner. Aber Sie haben auch israelische Freunde, deren Ansichten Sie wiedergeben. Das sind allerdings vor allem Leute aus dem linksliberalen Spektrum, die sich für Verständigung mit den Menschen in Gaza einsetzen. Haben Sie sich auch für die diejenigen interessiert, die sich durch die Hamas bedroht fühlen und die nach diesem schrecklichen Anschlag sagen: Mit der Hamas kann es überhaupt kein vernünftiges Zusammenleben geben?
Johannes Zang: Sie haben recht, die allermeisten Kontakte, die ich auf israelischer Seite habe, sind Leute aus dem Friedens- oder Menschenrechtslager. Von den "Otto-Normal-Israelis" kenne ich tatsächlich sehr wenige. Oder die Kontakt zu ihnen sind über die Jahre abgerissen. Ich war ja selbst in einem Kibbuz, und zwar genau in dem, der am 7. Oktober vorigen Jahres am schlimmsten heimgesucht wurde – Be'eri, nur vier Kilometer Luftlinie vom Gaza-Streifen entfernt.
Dort habe ich von Dezember 1985 bis April 86 Zitronen, Orangen und andere Zitrusfrüchte gepflückt. In dieser Zeit hatte ich viel Kontakt zu etwa Gleichaltrigen, die im Kibbuz gelebt oder ihren Armeedienst verrichtet haben. Mir wurde dort auch eine Art Adoptivfamilie zugeteilt. Der "Kibbuz-Vater" hieß Amoz. Als ich einmal mit dem Mietwagen im Gaza-Streifen war, habe ich ihn im Kibbuz besucht. Ich traf ich ihn beim Abendessen im Speisesaal, und wir haben dort vielleicht ein Stündchen miteinander geplaudert.
Dabei habe ich bei mir selbst diese deutsche Befangenheit gespürt. Ich wollte ihm von der armseligen Lage, der Blockade, der Hoffnungslosigkeit im Gaza-Streifen erzählen und musste innere Widerstände überwinden, um überhaupt die Lippen zu bewegen. Ich habe es aber dann doch sehr vorsichtig getan. Und seine erste Reaktion war: Die Palästinenser haben sehr viele Fehler gemacht. Das ist eine Reaktion, die ich vom "Otto Normalverbraucher" in Israel kenne. Ich habe das zum Beispiel in vielen Leserbriefen in israelischen Zeitungen gelesen, habe es von israelischen Taxifahrern gehört. Man schiebt ganz schnell den schwarzen Peter auf die andere Seite. Den eigenen Anteil sieht man nicht oder will ihn nicht sehen.
▶ Aber nun gab es ja den Anschlag vom 7. Oktober vorigen Jahres, dieses grausame Massaker. Sie nennen das auch ein Massaker, sympathisieren also – das entnehme ich ihrem Buch – in keiner Weise mit solchen Taten. Meine Frage ist: Kann man mit einer Organisation wie der Hamas verhandeln, die zwar auch für die Zivilverwaltung im Gaza-Streifen zuständig ist, für Krankenhäuser, Schulen und so weiter, die aber eben auch für Terror verantwortlich ist. Kann eine solche Organisation wie die Hamas ein Verhandlungspartner sein, der die Interessen des Gaza-Streifens vertritt?
Johannes Zang: Ich glaube, aktuell nicht mehr. Ich glaube, diese Chance hat tatsächlich bestanden 2006 nach dem Hamas-Wahlsieg, den weder israelische noch palästinensische Umfrageinstitute vorhergesagt hatten.
Das war allerdings keine absolute Mehrheit, wie manchmal von den Medien behauptet oder nahegelegt wird. Die Hamas hat damals in ganz Palästina gut 40 Prozent der Stimmen geholt, und in den fünf Wahlbezirken des Gaza-Streifens hat sie nur in einem gewonnen. Also, ich glaube, 2006 hat diese Chance bestanden. Nach dem Wahlsieg damals hat die internationale Staatengemeinschaft sofort Forderungen an die Hamas gestellt, aber keine einzige an die Besatzungsmacht Israel.
Das halte ich für einen Fehler. Man hätte auch von Israel etwas fordern können und müssen. Und die Hamas hat ein paar Jahre später einen sehr höflichen Brief an den damaligen US-Präsidenten Barack Obama geschrieben, ihn darin gebeten, doch einmal den Gaza-Streifen zu besuchen. Auch da, finde ich, gab es noch eine Chance, mit Hamas-Leuten zu reden.
Man darf nicht vergessen, das sind nicht nur Extremisten, Terroristen und Fundamentalisten. Da gibt es auch welche, die im Ausland studiert und die Demokratie kennengelernt haben, darunter in den USA und in Deutschland. Also auch solche Leute gibt es unter der Hamas. Aber aktuell, glaube ich, kann die Hamas nicht am Verhandlungstisch sitzen.
▶ Wobei man sagen muss, dass es Verhandlungen über Mittelsleute gibt und immer wieder über ein mögliches Waffenstillstandsabkommen gesprochen wird. Auf der anderen Seite sollten die israelischen Geiseln freigelassen werden, die die Hamas immer noch in ihrer Gewalt hat. Ist das eine Möglichkeit, mit kleinen Schritten dann doch irgendwie in Richtung Frieden zu kommen?
Johannes Zang: lch denke, zuallererst müsste es einen Waffenstillstand geben. Israelische Friedens- und Menschenrechtsorganisationen haben das schon im Herbst vorigen Jahres gefordert. Ich glaube, es waren über 30, die damals einen gemeinsamen Brief geschrieben haben. Aktuell findet man auf verschiedenen Plattformen Petitionen, wo man sich für einen Waffenstillstand aussprechen kann.
Also ich denke, das wäre das A und O. Was mich sehr verwundert, aber auch schockiert hat, war, dass Ismail Haniyya Ende Juli in Teheran getötet wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad dafür verantwortlich. Das hat mich an einen anderen Fall während der zweiten Intifada erinnert.
Damals hieß es, man stehe kurz vor einem Abschluss zu einem Waffenstillstand. Und dieses Mal, Ende Juli, hieß es, man stehe kurz vor der Unterzeichnung eines Geisel-Gefangenenaustausches. Und da wird dieser Mann ins Visier genommen und umgelegt, der in der Verhandlungsdelegation der Hamas eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat.
Da fragt man sich schon, warum ausgerechnet jetzt? Und es dürfte tatsächlich Israel gewesen sein, das hinter dieser Ermordung steht. Was mögliche Verhandlungen angeht, so gibt es schon seit Oktober Pläne von einzelnen Israelis oder Palästinensern, die ein Programm vorgelegt haben, wie man aus diesem Schlamassel, aus dieser Krise herauskommen kann, hin zu einer Gesamtlösung dieses Konfliktes.
Ich nenne Hillel Schenker vom Palestine-Israel-Journal, ich nenne Gershon Baskin, der damals bei der Freilassung von Gilad Shalit entscheidend mitgewirkt hat. Und vor wenigen Tagen wurde kolportiert, dass der Neffe von Yasser Arafat und der frühere israelische Premierminister Ehud Olmert auch einen Plan vorgelegt haben, wie man den Gesamtkonflikt jetzt lösen müsste. Es liegen etwa ein halbes Dutzend Vorschläge und Pläne auf dem Tisch. Und ich hoffe sehr, dass einer dieser Pläne umgesetzt wird.
▶ Es gibt ja auch Stimmen, die sagen, die Menschen im Gaza-Streifen müssten sich einfach auflehnen gegen die Hamas, müssten praktisch die Terrororganisation selbst besiegen, und dann könnte man zum Frieden kommen. Was sagen Sie dazu?
Johannes Zang: Ich hatte vor wenigen Wochen ein Gespräch mit einem Apotheker, der aus Gaza-Stadt stammt, in Deutschland Pharmazie studiert hat und hier eine Apotheke leitet. Er hat mehrere Geschwister im Gaza-Streifen, einige sind mittlerweile nach Ägypten freigekauft worden. Er hat dazu gesagt, über all die Jahre habe Israel von den Menschen im Gaza-Streifen verlangt, sich aufzulehnen und die Hamas abzuschütteln.
Nun kämpfe eine der besten Armeen der Welt mit tausenden von Soldaten, mit einer hochgerüsteten Luftwaffe seit Monaten mit der Hamas und werde nicht mit ihr fertig. Wie sollten sich da arme Menschen, die nur rudimentäre Raketen und Mörser haben, gegen die Hamas auflehnen und sie eliminieren, wenn das eine der stärksten Armeen der Welt nicht schafft?
▶ Heißt das – das Problem ist nicht lösbar, die Hamas wird bleiben?
Johannes Zang: Ich glaube, die Hamas, wird bleiben. Im Laufe dieses Krieges, der jetzt schon elf Monate tobt und verheerend ist, wurden immer wieder Zahlen durchgegeben, die sich natürlich nicht überprüfen lassen. Irgendwann hieß es, Israel habe 10.000 Hamas-Kämpfer getötet. Dann war von 15.000 die Rede. Doch selbst wenn das stimmen sollte, sind in den letzten Monaten möglicherweise 15.000, 20.000, 30.000 neue Hamas-Kämpfer entstanden.
Die sagen, ich habe meine Großfamilie mit 50, 60,70 Personen verloren. Ich habe jetzt auch nichts mehr zu verlieren. Jetzt bin auch ich bereit, mich zu rächen. Es gibt Untersuchungen, wie viele Familien mehr als 50 oder noch mehr Mitglieder verloren haben. Bei einer Großfamilie in Gaza ist sogar von 250 getöteten Kindern, Enkeln, Neffen, Großneffen etc. die Rede.
▶ Von der Bundesregierung heißt es immer wieder, Deutschland stehe voll und ganz an der Seite Israels, das im Kampf gegen die Hamas sein Existenzrecht verteidige. Gleichzeitig leistet Deutschland humanitäre Hilfe für die Menschen im Gaza-Streifen und ruft Israel zur Mäßigung beim Anwenden militärischer Gewalt auf. Ist diese Herangehensweise aus Ihrer Sicht richtig und angemessen?
Johannes Zang: Ich möchte, bevor ich antworte, auf zwei Artikel hinweisen, die in den letzten Wochen veröffentlicht wurden. Kenneth Roth, ein Nachkomme Frankfurter Juden, der in den USA lebt und Direktor von Human Rights Watch war, hat einen sehr kritischen Artikel zur deutschen Staatsräson in der FAZ geschrieben. Michael Barenboim, Sohn des Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim, hat auch etwas in diese Richtung geschrieben, ich glaube in der Süddeutschen Zeitung.
Ich halte die bedingungslose deutsche Unterstützung für Israel für fatal und auch kontraproduktiv. Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit in den muslimischen und arabischen Ländern. Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit im Globalen Süden. Und mit wir meine ich nicht nur Deutschland, sondern den gesamten sogenannten Werte-Westen.
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Wir empören uns zu Recht über das furchtbare Massaker vom 7. Oktober. Aber wir haben jahrzehntelang geschwiegen zu schlimmen Menschenrechtsverletzungen, die das israelische Militär, israelische Gefängniswärter und Verhörbeamte, israelische Siedler am palästinensischen Volk im Westjordanland, im Gaza-Streifen und auch in Ost-Jerusalem begangen haben.
Ich habe mich in früheren Büchern sehr mit sichtbaren und unsichtbaren Facetten der Besatzung befasst und darüber auch oft Artikel geschrieben. Dazu haben wir in der Regel – ich sage wir und meine die jeweilige deutsche Regierung, aber auch die französische, die US-Administration – wir haben dazu geschwiegen oder allenfalls gesagt, das erfüllt uns mit Sorge.
Wenn zum Beispiel Land beschlagnahmt wurde, um jüdische Siedlungen auf palästinensischem Privatland zu bauen, dann hieß es oft aus dem Westen, das erfüllt uns mit Sorge, und das ist ein Hindernis zum Frieden. Mehr war es nicht.
Als ich 2005 bis 2008 als freier Journalist in Jerusalem tätig war, habe ich sehr oft Menschen aus dem Friedens- und Menschenrechtslager interviewt, von beiden Seiten übrigens. Vor allem von den Israelis habe ich gehört: Ihr Deutsche wollt doch Freunde Israels sein. Lässt man einen Freund betrunken Auto fahren? Angela Merkel lässt Netanyahu seit Jahren betrunken Auto fahren. Er reißt uns in den Abgrund hinein, aber auch das palästinensische Volk.
Wir wünschen uns rote Linien. Das habe ich damals wiederholt gehört von Menschenrechts- und Friedensaktivisten. Aber wir haben uns natürlich aufgrund unserer Vergangenheit nicht getraut. Auch Frankreich hat sich nicht getraut, England nicht, auch die USA nicht. Und so ist die Besatzung von Jahr zu Jahr schlimmer geworden. Man muss bedenken, in Israel gibt es ein Dutzend Menschenrechtsorganisationen.
Auf palästinensischer Seite kenne ich ein halbes Dutzend. Dazu sind Amnesty International und Human Rights Watch vor Ort und aktiv. Uns liegen also dutzendfach Berichte vor über all die Jahrzehnte, die diese Menschenrechtsverletzungen fein säuberlich dokumentiert haben und belegen. Aber wir haben das nicht ernst genommen.
Dietmar Ringel sprach mit Johannes Zang. Sein neues Buch "Kein Land in Sicht? Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg", ist im Verlag PapyRossa erschienen.