"Nationale Versöhnung" in Serbien

Die früheren Erzfeinde aus der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) und der Demokratischen Partei (DS) bilden eine gemeinsame Regierung

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Fast zwei Monate dauerten die Verhandlungen, aber jetzt steht es fest: Serbien wird in Zukunft von einer neuen Regierungskoalition geführt. Die ehemaligen Milosevic-Sozialisten SPS) entschieden sich nach langen innerparteilichen Konflikten für ein Bündnis mit der pro-westlichen Demokratischen Partei (DS). Das rechnerisch ebenfalls mögliche Projekt eines „nationalen Blockes“ (Zerrissenes Serbien) aus Sozialisten, Serbischer Radikaler Partei (SRS) und der Liste um den bisherigen Premierminister Vojislav Kostunica ist damit gescheitert.

Der neue Regierungschef Mirko Cvetkovi? (DS). Bild: DS

Die Abstimmung im Parlament war nach den Debatten der vergangenen Wochen keine große Überraschung mehr. Nach einer stundenlangen Diskussion über das Programm der neuen Regierungskoalition stimmten am späten Montagabend 127 der 250 Abgeordneten des am 11. Mai neu gewählten Parlamentes für den Kandidaten der Demokratischen Partei, den bisherigen Finanzminister Mirko Cvetkovic, als Premierminister.

Die knappe Mehrheit verdankt Cevtkovic der Unterstützung der Sozialisten, die in Zukunft an Schlüsselpositionen mit regieren werden. SPS-Chef Ivica Dacic wurde zum Innenminister gewählt. Drei weitere SPS-Abgeordnete werden die Ministerien für Bergbau, für Infrastruktur und für Bildung führen. Damit steht das neu geschmiedete Bündnis der ehemaligen Erzfeinde fest. Die politische Landschaft in Serbien hat sich grundlegend verändert.

„Suche nach gemeinsamen Zielen“

Präsident Boris Tadic, der starke Mann der DS und Verhandlungsführer mit den Sozialisten, bezeichnet die neue Regierungskoalition als den Versuch, die alten Gräben aus der Regierungszeit Slobodan Milosevic in den Neunziger Jahre zu überwinden. Bereits vor drei Wochen kündigte er an:

Meine Aufgabe ist, eine nationale Aussöhnung in Serbien zu beginnen. Die politischen Kräfte der Neunziger Jahre und die, welche Serbien nach (dem Sturz Milosevics) 2000 führten, sollten bei der Suche nach gemeinsamen Zielen, bei der Aussöhnung der Bevölkerung, und der Beilegung von Spannungen und Missverständnissen zusammenkommen.

Nach heißen politischen Debatten über die Position Tadics präzisierte der Präsident Ende Juni:

Ich habe nicht das politische Erbe von Zoran Djindjic und Slobodan Milosevic gleichgestellt. Eine solche Gleichsetzung oder ein Vergleich der beiden ist völlig unmöglich und sinnlos, denn wir waren in der Vergangenheit große Gegner. Aber wir können in der Zukunft Partner sein. Eine neue Zeit beginnt, eine völlig neue Epoche. Wer das nicht fühlt, der versteht nichts von Politik und nichts von den Bedürfnissen der Bürger.

Was steht hinter diesen Worten und Ankündigungen? Viele Kritiker halten die Reden von Boris Tadic für reinen Opportunismus und eine politische Bankrotterklärung. Der Kommentator Vanja Vucenovic hält die Gesten des Präsidenten für den „Tod der Moral“. Tadic würde die Verbrechen der Milosevic-Zeit relativieren und eine „kollektive Amnesie“ propagieren. Letztlich ginge alles nur um den Willen der Demokratischen Partei an der Macht zu bleiben.

Möglicherweise sind solche Interpretationen aber zu einfach. Tadic scheint tatsächlich eher ein langfristiges strategisches Projekt zu verfolgen. Seit der Ermordung Zoran Djindjics im März 2003 hat Tadic die Demokratische Partei schrittweise in ein nationaleres Fahrwasser geführt. In seinen vergangenen Wahlkampagnen versuchte Tadic eine pro-europäische Orientierung mit Patriotismus zu verbinden. Erst im Februar dieses Jahres wurde er mit dieser Botschaft bei einer Direktwahl im Amt bestätigt.

Vor allem im Dauerkonflikt um den Kosovo lässt Tadic keine Gelegenheit aus, um den Anspruch Serbiens auf die Sezessionsprovinz zu betonen und bediente sich dabei teilweise ausgeprägter nationaler Symbolik, wenn auch nicht der aggressiven Rhetorik des bisherigen Premierministers Kostunica. In Reaktion auf den Kurs Tadics spaltete sich bereits Anfang 2005 die Liberaldemokratische Partei (LDP) von der DS ab. Die Galionsfigur der Liberaldemokraten, der ehemalige Studentenführer Cedomir Jovanovic, kritisiert seither die nationale Wende Tadics. Jovanovic bindet heute das Spektrum der anti-nationalistischen Menschenrechtsorganisationen an sich, das früher mit der DS sympathisierte.

Als Orientierungspunkt scheint im Hintergrund der Strategie Boris Tadics dabei sein Vater Ljubomir zu stehen. Der bekannte Philosoph war Mitte der Siebziger Jahren als Mitglied der auf einen „humanistischen Marxismus“ orientierten Praxis-Gruppe als Professor von der Belgrader Universität verstoßen worden. Wie viele andere serbische Intellektuelle wandte sich der früher bekennende pro-jugoslawische Linke in der Dissidenz bis zum Ende der Achtziger Jahre zunehmend nationalen Themen zu. Im Gegensatz zu seinem „Praxis“ Mitstreiter Mihailo Markovic unterstützte Ljubomir Tadic den Aufstieg Slobodan Milosevics am Ende der Achtziger Jahre nicht. Aber die Klage über eine „Benachteiligung des serbischen Volkes“ unter dem langjährigen Staatspräsident Josip Broz Tito verband die Position Tadics mit der Programmatik der 1990 aus der Konkursmasse des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens gegründeten SPS von Milosevic.

Seit Ende der Achtziger Jahre blieb der mittlerweile 83-Jährige auf der politischen Bühne stets präsent. Sein letztes großes Engagement galt 2005 dem Widerstand gegen die Abspaltung Montenegros aus dem Staatenverbund mit Serbien. Der in einem montenegrinischen Dorf geborene Ljubomir führte in Belgrad die Kampagne der „Bewegung für einen gemeinsamen europäischen Staat Serbien und Montenegro“, die auch aus dem Spektrum von SPS und der Serbischen Radikalen Partei (SRS) unterstützt wurde.

Für Europa, Russland und Kosovo

Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Zusammenführung von DS und SPS durch Boris Tadic auf der Basis einer „nationalen Aussöhnung“ viel weniger erstaunlich als es auf den ersten Blick erscheint. Die Frage ist, was der angestrebte Brückenschlag im konkreten politischen Kontext bedeutet. Hinweise darauf gibt die Rede des neuen Premiers Mirko Cvetkovic vom Montag. In seiner Regierungserklärung machte er deutlich, dass die neue serbische Regierung unter keinen Umständen die „Unabhängigkeit Kosovos“ anerkennen werde. Im Gegensatz zur gescheiterten Regierung unter seinem Vorgänger Vojislav Kostunica soll in Zukunft Kosovo aber nicht mehr die alleinige Priorität sein. Cvetkovic kündigte an, die „soziale Verantwortung“ zu stärken. Damit nahm er die Forderungen der SPS nach einer aktiveren Sozialpolitik auf.

Auch in der Außenpolitik zeichnet sich eine deutliche Akzentverschiebung zur Vorgängerregierung ab. Im Gegensatz zum Europaskeptiker Kostunica will der neue Premier Serbien so schnell wie möglich in eine „europäische Zukunft“ führen. Bald soll das umstrittene Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnet werden.

Belgrad soll sich aber nicht einseitig in Richtung EU orientieren. Als eine der ersten Gesetzesinitiativen kündigte Cvetkovic auch die Unterzeichnung eines umstrittenen Abkommens über den Bau einer Gaspipeline mit Russland an.

Bruchstellen des neuen Bündnisses

Auch wenn die Partner aus SPS und dem pro-westlichen Bündnis um die DS bei der Parlamentssitzung am Montag demonstrativ ihre neue Freundschaften zelebrierten und sich Demokraten-Chef Tadic und Sozialisten-Chef Dacic in Umarmung im Fernsehen zeigten, steht die Koalition mittelfristig nicht unbedingt auf stabilem Grund. Die „Regierung der nationalen Versöhnung“ hat tatsächlich nur eine äußerst knappe Mehrheit von zwei Stimmen im Parlament. Die neue vereinigte nationalistische Opposition um die Radikalen und Kostunicas Demokratische Partei Serbien (DSS) zeigen sich dagegen angriffslustig.

Ein potentieller Knackpunkt der neuen Regierungskonstellation könnte die Frage der Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal (ICTY) werden. Für die Sozialisten ist das Tribunal ein rotes Tuch. Ihr langjähriger Präsident Slobodan Milosevic erlag im März 2006 kurz vor dem Ende eines mehrjährigen Mammutprozesses in Den Haag einem schweren Herzleiden. Als neuer Innenminister erkennt SPS-Chef Dacic das ICTY zwar an. Die Frage ist aber, ob er sich auch aktiv an der Fahndung nach abgetauchten mutmaßlichen Kriegsverbrechern beteiligen wird. Nach wie vor stehen die beiden bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic und Ratko Mladic auf der Liste der vom ICTY gesuchten Angeklagten. Ihr Aufenthaltsort wird in Serbien vermutet.

Falls es aber nicht zu einer Intensivierung der Fahndung nach Karadzic und Mladic kommt, sieht es für die Überlebenschancen der neuen Regierung in anderer Hinsicht schlecht aus. Denn nur wenn das ICTY eine „volle Kooperation“ Serbiens feststellt, wird die Europäische Union den Prozess der Annäherung Serbiens unterstützen. Genau mit diesem Versprechen aber haben die Demokraten rund um Boris Tadic die Wahlen gewonnen. Können sie die Erwartungen nicht erfüllen, werden sie schnell an Glaubwürdigkeit und Unterstützung verlieren.