Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist der Zombie, der nicht sterben will

Seite 2: Russland wird nicht einfach verschwinden

Seit dem Bukarester Gipfel verfolgen die Franzosen und die Deutschen eine Politik, an der sie im Wesentlichen bis heute festhalten. Nachdem sie tatsächlich auf die Warnungen der Russen und ihrer eigenen Diplomaten und Experten zu hören begonnen hatten, lehnten sie die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens ab.

Unter dem Druck der USA und aus Angst vor einer "Spaltung des Bündnisses" (nichts, was Polen jemals beunruhigt hätte) wagten sie es jedoch nicht, ein Veto gegen die Mitgliedschaft einzulegen und die Angelegenheit endgültig zu beenden. Stattdessen stimmten sie einem Kompromiss zu, in dem der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zugesagt wurde, jedoch ohne einen Zeitrahmen oder einen klaren Weg zur Mitgliedschaft.

Damit wurde Russland mitgeteilt, dass die Nato die Ukraine und Georgien bewaffnen sowie ausbilden würde. Russland würde irgendwann in der Zukunft aus seinem Marinestützpunkt in Sewastopol sowie aus den georgischen Separatistengebieten vertrieben werden.

Die Nato würde in den Jahren bzw. Jahrzehnten bis dahin die Ukraine und Georgien nicht wirklich verteidigen. Auf einem Symposium, an dem ich derzeit in Armenien teilnehme, fasste einer der Teilnehmer die Strategie als "den Bären am Schwanz ziehen und dann wegrennen" zusammen – also weglaufen von der Ukraine, um genau zu sein.

Es hat Russland verärgert und verängstigt sowie die radikalen Nationalisten in der Ukraine ermutigt, ohne der Ukraine irgendeinen Schutz zu bieten. Der Versuch, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, widerspricht übrigens auch dem Wunsch einer großen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, die sich in jeder Meinungsumfrage zu diesem Thema vor 2014 gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine aussprach, eben mit der Begründung, dass Russland dadurch zum Feind würde.

Ist der Nato-Gipfel in Vilnius angesichts der Tatsache, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine erneut auf unbestimmte Zeit verschoben worden ist, überhaupt von Bedeutung? Ja, und zwar aus zwei Gründen.

Erstens wird es durch die wiederholte, "eiserne" Zusage einer künftigen Nato-Mitgliedschaft für den Westen oder die Ukraine sehr viel schwieriger, einen Weg zu einer diplomatischen Lösung des Ukraine-Kriegs einzuschlagen, nämlich einen ukrainischen Neutralitätsvertrag mit starken Sicherheitsgarantien – etwas, das übrigens Präsident Selenskyj selbst als Teil einer Friedensregelung im März 2022 vorgeschlagen hat.

Wenn man Russland bei einer seiner Hauptforderungen die Möglichkeit verschafft, als erfolgreich zu erscheinen, könnte das entscheidend sein, die russische Regierung in die Lage zu versetzen, im Rahmen einer Einigung Zugeständnisse in anderen Fragen zu machen.

Das zweite Problem ist langfristiger angelegt. Die Erweiterung der Nato und der EU war von Anfang an damit verbunden, dass angesichts des Mottos "Ein ganzes und freies Europa" Russland von jeglichem Mitspracherecht bei der europäischen Sicherheit ausgeschlossen wird – was keine russische Regierung jemals akzeptieren würde. Initiativen, das durch sinnlose Institutionen wie den Nato-Russland-Rat zu verschleiern, haben sich als leer erwiesen.

Versuche Russlands, neue Sicherheitsarchitekturen vorzuschlagen, wie von Präsident Dmitri Medwedew im Jahr 2009, wurden vom Westen ohne Diskussion zurückgewiesen.

Man kann ein Motiv der Invasion in die Ukraine darin erkennen, dass Russland, nachdem es von der europäischen Sicherheit ausgeschlossen wurde, versuchte, sich den Weg dahin zurückzuschießen. Es war ein krimineller und katastrophaler Schachzug Russlands, den umsichtige Experten schon seit vielen Jahren vorausgesagt hatten, auch als Folge der westlichen Politik.

Es sollte daher klar sein, dass es keine wirklich stabile und langfristig erfolgreiche Sicherheitsarchitektur in Europa geben kann, die nicht zugleich die Sicherheit für die Ukraine und für Russland einbezieht sowie Russlands Sicherheitsbedenken berücksichtigt.

Andernfalls wird sich der Westen einer endlosen Strategie der Bewaffnung und Finanzierung der Ukraine gegen Russland verschreiben und gleichzeitig beten, dass sich die Vereinigten Staaten weiterhin voll und ganz dafür einsetzen und sich nicht von wichtigeren nationalen und internationalen Bedrohungen ablenken lassen.

Denn sollten sich die USA jemals zurückziehen, könnten die europäischen Nato-Mitglieder zu der Einsicht gelangen, dass das Einzige, was noch dümmer ist, als einen Bären am Schwanz zu ziehen und wegzulaufen, darin besteht, ihn am Schwanz zu ziehen, wenn man nicht weglaufen kann.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).