Neokonservative Zeitenwende: Wohin steuert Deutschland im Globalkonflikt?

Seite 2: Globale Verflechtung Deutschlands

Nach der staatlichen Einheit 1990 gelang Deutschland innerhalb eines Jahrzehnts die außenwirtschaftliche Expansion sowie der technologische Aufstieg von einer Zentralmacht Europas zu einer der ökonomisch führenden Weltmächte. Entscheidende Voraussetzungen dafür waren ein halbes Jahrhundert Friedensordnung in Europa und die EU-Integration.

Die äußeren Rahmenbedingungen waren geprägt durch einen fortschreitenden Prozess der Auflösung des bipolaren West-Ost-Konfliktes und dem Übergang in eine multipolare Weltordnung mit dem Aufstieg weiterer Staaten zu überregionalen und globalen Mächten. Ökonomisch vollzog sich eine Art Hyperglobalisierung, eine außerordentliche Beschleunigung der internationalen Arbeitsteilung, die mit Blick auf ihre Krisenanfälligkeit zunehmend umstritten war und in wachsendem Maße nationalstaatliche Rückbesinnungen auslöste.

Die Strukturen der Weltwirtschaft veränderten sich. Die Existenz globaler Organisationen zur vorrangig friedlichen Konfliktregelung ist eine der bedeutendsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts in den internationalen Beziehungen. Herausragend sind die Vereinten Nationen und das damit verbundene Netzwerk (Weltbankgruppe, IMF, WTO, G7, usw.).

Deutschland – abgestimmt in der EU und G7 – ist ein aktives Mitglied in all diesen Organisationen und nutzt sie. Die Dominanz westlicher Staaten und ihre Reformverweigerung, das Gesamtsystem den sich verändernden Kräfteverhältnissen anzupassen, führten in den letzten Jahrzehnten zu seiner Lähmung. Die aufstrebenden Staaten EurAsiens gründeten deshalb alternativ-neuartige Sicherheits- und Wirtschaftsverbünde.

Hervorzuheben sind die Shanghai-Gruppe (1996/2001) und die BRICS-Staaten (2009). Im Ergebnis dessen bestimmen konkurrierende Parallelstrukturen des "Westens" (G7) und des "Ostens/Südens" (BRICS) die globalen Wirtschaftsbeziehungen – den Handel, die Kredit-/Währungsbeziehungen und die Integrationspolitik der nächsten Jahrzehnte.

Die Möglichkeiten zur Kooperation bei der Lösung globaler Probleme – Hunger, Klimawandel, Massenseuchen, Migration – sind vorhanden. Vorteilhaft scheint dafür die G20-Gruppe (1999), der alle wichtigen Volkswirtschaften angehören. Aber auf absehbare Zeit ist es praktisch unwahrscheinlich, angesichts des sich zuspitzenden Weltwirtschaftskrieges.

Der Russland-Ukraine-Krieg führte im Rekordtempo zur Veränderung des Beziehungsgefüges in der Weltwirtschaft. Stand davor noch eine polyzentrische, multipolare Weltordnung zur Disposition, fokussiert sich auch in der deutschen Regierung die aktuelle Betrachtung auf ein unterkomplexes, traditionell-bipolares "Lagerdenken" – Demokratien vs. Autokratien. Aber auch dabei könnte eine realistische Betrachtung der Kräfteverhältnisse (vgl. "G7 vs. BRICS"; siehe Tabelle) wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen vermeiden helfen:

- Die große Mehrheit der Weltbevölkerung und der Staaten orientiert sich nicht mehr vorrangig an den westlichen Marktwirtschaften (im Verhältnis 4:1) und lehnt das Sanktionsregime gegen Russland ab. Die BRICS-Staaten haben seit 2000 ihre Wirtschaftsdynamik um das 7,5-fache (G7 1,7-fache) gesteigert und damit den Entwicklungsrückstand zur G7 von circa 88 auf 50 Prozent verkürzt. Herausragend ist dabei China, das zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht nach den USA aufgeschlossen hat. Selbst bei etwas weniger Wachstumsdynamik könnten einige BRICS-Staaten in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts den Anschluss an hochentwickelte Staaten und ein einfaches "Wohlstandsniveau" für ihre Bevölkerung erreichen.

- Deutschland gehört zur Ländergruppe der höchstentwickelten Volkswirtschaften der Welt. Es ist mit knapp 70 Prozent Außenwirtschaftsquote aufs engste mit den anderen Hauptmächten der G7 und China verbunden. Circa 55 Prozent der Wirtschaftsbeziehungen werden innerhalb der EU realisiert. Hauptpartner ist dabei Frankreich (2020: Ex-/Import 91:56 Milliarden Euro). Die Antipoden USA (103:68 Milliarden Euro) überholt von China (96:117 Milliarden Euro) sind Deutschlands größte Handelspartner. Hier zeigen sich überdeutlich strategische Konflikte zwischen Deutschland und den USA. Eine von den US-Amerikanern forcierte "Entkopplung" Chinas aus der Weltwirtschaft würde zu dramatischen Krisenprozessen führen und widerspricht deutschen Interessen.

- Russland hat eine relativ schwach entwickelte Wirtschaft und bleibt absolut hinter den hochentwickelten Staaten (z.B. Italien) zurück. Der Entwicklungsabstand, sichtbar am BIP pro Kopf, beträgt mehrere Jahrzehnte. Seine ökonomische Spezifik besteht in seiner Rolle als größte Rohstoffmacht der Welt. Das betrifft vor allem die fossilen Energieressourcen Erdöl und Erdgas sowie die metallischen/nichtmetallischen Rohstoffe. Deutschland hat seit der Erdölkrise Mitte der 1970er Jahre seine Wirtschaftsbeziehungen zu Russland (2020: Ex-/ Import 23:21 Milliarden Euro) besonders im Rohstoffbereich ausgebaut. Die russischen Pipeline-Lieferungen betrugen im Energiebereich nach 2000 zwischen 40 und 55 Prozent des deutschen Gesamtbedarfs. Insbesondere die Erdgasimporte sollten die Übergangsphase bis zur Klimaneutralität durch alternative Energiequellen Mitte dieses Jahrhunderts absichern.

Der Ukrainekrieg und der folgende Wirtschaftskrieg veränderten die Gesamtsituation. Die westlichen Sanktionspakete haben ihr Hauptziel – die Schwächung Russlands, geschweige denn einen Regime Change – nicht erreicht. Die russischen Gegenmaßnahmen destabilisieren die globalen Rohstoffmärkte. Das trifft auch die deutsche Wirtschaft und schadet durch massive Preissteigerungen bei Energie, Nahrungsmitteln und Wohnkosten der Bevölkerung. Diese Grundsituation muss verändert werden.

Schlussfolgerungen

1. Diplomatische Offensive. Gemeinsam mit Frankreich, Eröffnung druckvoller diplomatischer Initiativen an Russland und die Ukraine – bei klarer Positionierung mit oder auch gegenüber den anderen EU-Staaten und den USA – zur Beendigung des Krieges: Sofortiger Waffenstillstand, (Wieder-)Aufnahme von Friedensverhandlungen, Einstellung der Waffenlieferungen, Vorschlag eines ökonomischen Großprojektes "EU-Ukraine-Russland" zur Entwicklung des Konfliktraumes.

2. Strategische Friedenspolitik. Beendigung der gegenwärtigen Negation durch die Ampelregierung der jahrzehntelangen Erfahrungen und Erfolge einer Entspannungspolitik der friedliche Koexistenz. Ausstieg Deutschlands aus dem Wirtschaftskrieg. Schrittweiser Abbau der Sanktionen, wenn nötig auch einseitig. Entwicklung einer Friedens- und Kooperationsstrategie.

3. Diversifikation. Breitere Aufstellung der Außenwirtschaftsbeziehungen; speziell zu Russland ausgewogener-partieller Abbau, aber keinen Abbruch; sofortige Aktivitäten zur Absicherung der Energieversorgung Deutschlands. Angesichts der Versorgungsprobleme, Preisexplosion, ökologischer Destabilisierung die Auslastung von Nord Stream 1 hochfahren sowie ernsthaft die Option einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 prüfen.

4. Prioritätenkatalog. Akzeptanz und gezielter Ausbau der Handelbeziehungen zu den BRICS- und Shanghai-Staaten; vor allem Teilnahme an den Großprojekten EurAsiens und Win-win-Situationen schaffen.

5. Stärkung der EU-Souveränität und Handlungsfähigkeit. Erneuerung und Ausbau der "Lissabon-Strategie" von 2000. Lösen von der irrigen Vorstellung, dass die USA uneigennützig Hilfe leisten und unsere Sicherheit von ihnen abhängen würde.

Prof. Dr. Lutz Kleinwächter, geb. 1953, Forschung/Lehre Außen- und Militärpolitik, 2008-2021 Professor für Wirtschaftspolitik und Außenwirtschaft an der bbw Hochschule in Berlin, Vorsitzender von WeltTrends e.V. klklw@t-online.de