Neoliberaler Nachfolger für abgesetzten Spiegel-Chefredakteur

Seite 2: So tickt der neue Chefredakteur

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Chefredakteure sind - wie Harald Schumann oben erklärte - neben den Herausgebern die entscheidenden Personen für die inhaltliche Ausrichtung eines Mediums. Eine Neubesetzung ist also immer eine Entscheidung über die künftige Ausrichtung.

Der neue Redaktionschef Steffen Klusmann war zuvor Chefredakteur des Manager Magazins, das einer Vertretung gesamt-gesellschaftlicher Interessen unverdächtig ist. Wie er tickt, lässt sich den Themen und Aussagen des Manager Magazins und seinem Editorial entnehmen: Zur Untersuchungshaft von Ex-Audi-Chef Rupert Stadler schrieb Klusmann: "Untersuchungshaft wünscht man keinem Manager." Das steht nicht: Untersuchungshaft wünscht man keinem", sondern "keinem Manager". Wie soll man das anders verstehen als eine Befürwortung von Klassenjustiz? Gefängnis ist etwas für die Mittelschicht und Unterschicht, aber Manager sollten möglichst eine Amnestie erhalten?

Wenn in Shanghais historischem Viertel Laoximen "Tausende Alteingesessene ausquartiert werden, weil sich dort internationale Stararchitekten austoben", fragt Klusmann: "Wie weit darf die Weltherrschaft des Kapitals unsere Ästhetik bestimmen?" Er fragt nicht: " Wie weit darf die Weltherrschaft des Kapitals bestimmen, wer wo wohnen darf?" Im Editorial 3/2018 kombiniert er die übliche Verehrung für CEOs mit der Aufforderung, doch endlich die Bahn an die Börse zu bringen und dem freien Markt zu überlassen.

Das Primat der Politik über die Verkehrsinfrastruktur nennt er "rückwärtsgewandten Staatskapitalismus". Seinen Minnegesang für Anzeigenkunden und Manager nennt er "unabhängigen, erstklassigen Wirtschaftsjournalismus".

Kolumnist Henrik Müller wechselte vor einigen Jahren als ehemaliger stellvertretender Chefredakteur des Manager Magazins zu Spiegel Online und offenbart seine Sicht der Dinge, mit Kolumnen wie "Wirtschaft gut, Stimmung schlecht - Wie Pessimisten Deutschland in die Krise treiben". Demnach sind die Bundesbürger nur nicht fähig, zu begreifen, wie gut es ihnen geht. Unter "Boom + Wahlkampf = Blase empfiehlt er "jetzt die Steuern für Normalverdiener zu erhöhen, um die Konsumausgaben zu dämpfen", weil seiner Ansicht nach die "Konsumlust" gebremst werden müsse. Er vergisst auch nicht zu erwähnen, dass Steuern nur für die Mittelschicht, nicht aber für Wohlhabende erhöht werden müssen, weil deren "Konsumlust" volkswirtschaftlich keine Rolle spielt. Kann ein Chefredakteur aus der finanzelitären Käseglocke des Manager Magazins den Spiegel retten, der eine viel größere Zielgruppe erreichen und wieder gesellschaftlich relevant werden will?

Entlassungen und Resignation der Mitarbeiter

Der SWR und die Süddeutsche Zeitung veröffentlichten 2016 Auszüge aus dem "Innovationsreport", in dem die Spiegel-Mitarbeiter ihre Meinungen kundtaten. Ergebnisse: "Wir haben einen Teil unseres einstigen Nimbus verloren. … Wir trugen (und tragen) eine Selbstherrlichkeit vor uns her." Reichweitenprobleme und sinkende Auflagen würden systematisch schön geredet. Der Spiegel sei überheblich, überrasche zu wenig, probiere zu wenig wirklich Neues und setze die falschen Prioritäten.

Der "Prozess der Veränderung" begann mit der Entlassung von 149 Mitarbeitern. Die Mitarbeiter haben in der Gesellschafterversammlung die Mehrheit. Warum stimmen sie erneut für einen Chefredakteur, von dem nichts als eine Beschleunigung in der Sackgasse zu erwarten ist?

Die existentiellste Frage aller Medien

Natürlich kostet das Internet mit seinen kostenlosen Angeboten die Massenmedien viel Umsatz. Aber die existentiellste Frage aller Medien wird auch in dieser Spiegel-Krise nicht gestellt. Sie lautet: "Woher kommt letztendlich das Geld, von dem wir leben? " Die Antwort ist immer die gleiche: Von der Kaufkraft der breiten Masse der Bevölkerung. Entweder direkt durch Printverkäufe, Print-Abos und Digital-Abos. Oder indirekt durch Werbung, die nur geschaltet wird, wenn die Werbenden damit Umsätze erzielen können.

Gab es früher im Spiegel fast keine Seite ohne Werbung, ist es heute genau umgekehrt. Die Werbeeinnahmen sind auf einen kleinen Bruchteil zusammengeschmolzen. Kombiniert mit den Entlassungen von Redakteuren folgt daraus ein Heftumfang, der sich von durchschnittlich rund 280 Seiten auf rund 140 Seiten halbiert hat. Im Gegensatz dazu stieg der Preis der Printausgabe auf 5,10 € und das Abo auf jährlich 250 €. In der Abwärtsspirale aus sinkenden Leserzahlen, sinkenden Werbeeinnahmen und sinkendem Heftumfang sinkt auch das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wie viele (potentielle) Leser der Mittelschicht können und wollen bei stagnierender Kaufkraft so viel Geld für wirtschaftsliberale Inhalte zahlen?

Wenn der Spiegel aufblühen soll, müsste der erzneoliberale Klusmann vom Saulus zum Paulus werden und erkennen, dass er mit der breiten Masse der Bevölkerung in einem Boot sitzt - und nicht mit der finanziellen Elite. Die Wahrscheinlichkeit ist recht gering. Wer wird sein Nachfolger?

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