Nepal: Die Armen sterben weiter still und leise

Im Westen Nepals siebt die Natur immer noch gnadenlos aus. Bild: Gilbert Kolonko

Wie in Indien wurde Covid in Nepal erst mit der zweiten Welle im Frühjahr 2021 ein Problem: Da erwischte es die obere Mittelklasse, die mit Hilfe der Medien laut hörbar nach Sauerstoff schrie

"Das Corona zurückkommt, ist die Schuld der Armen, nicht der Regierung", sagt ein besser situierter Geschäftsmann in der nepalesischen Basarstadt Tansen zu mir und zeigt dann auf die Straße, die vier Bauern maskenlos mit Säcken beladen entlang schlurfen: "Die können auch draußen im Staub schlafen und werden nicht krank."

Als ich ihn frage, ob nicht auch er unter den zwei Lockdowns gelitten habe, und ob nicht auch er Geschäftsleute kennen würde, die sich aus finanzieller Not das Leben genommen hätten, verliert sein Ton jede Zurückhaltung: "Natürlich wollte mein Vermieter die Miete haben und ihm war völlig egal, woher ich das Geld nehme." Dann fügt er mit nun sanfter Stimme dazu: "Ein Verwandter von mir und ein Geschäftsfreund haben sich das Leben genommen, weil sie die Lockdowns ruiniert haben."

Laut offiziellen Zahlen haben in Nepal in den letzten 19 Monaten etwa ebenso viele Menschen Selbstmord begangen, wie an Covid gestorben sind: 11.535.

Leider sind die nepalesischen Corona-Zahlen mindestens so unglaubwürdig wie die indischen, das haben Antikörper-Studien früh aufgezeigt. Klar ist nur: Wirklich bemerkbar machte sich der Corona-Virus erst im Frühjahr, als es die religiöse Feste feiernde obere Mittelklasse erwischte.

Am selben Tag berichtet die Kathmandu Post von einem Cholera-Ausbruch in Kapilvastu, 60 Kilometer von Tansen entfernt: bisher 7 Tote. Die offizielle Zahl der Corona-Toten in Nepal für diesen Tag: einer. Trotzdem ist die neue Corona-Variante Omikron das Hauptthema in den nepalesischen Medien.

Vor dem Betreten der Basarstadt Burtibang setzt fast jeder die Maske auf – beeindruckende Selbstdisziplin. Bild: Gilbert Kolonko

Anders zwei Tage zuvor in Kathmandu nahe der Tempelanlage Boudha Stupa, wo ich die etwa 40-jährige Lehrerin Rama treffe, die mittlerweile im Impfprogramm der Regierung mitarbeitet. "Ich habe mich nicht um den Job gerissen", sagt sie. "Denn als Außenstehende für die Regierung zu arbeiten, heißt immer: viel Arbeit und Verantwortung. Wenig Geld. Aber als Frau und 'Unterkastige' musste ich die Chance wahrnehmen, um aufzuzeigen, dass es nun in Nepal auch für Nichtprivilegierte möglich ist, verantwortungsvolle Positionen auszuführen."

Rama weiß, dass Abstand halten in einer Millionenstadt Südasiens illusorisch ist. Hier findet das Leben noch hautnah auf der Straße statt: "Ich habe meinen 'students' antrainiert, so oft am Tag, wie es geht, mit warmen Wasser zu gurgeln. Keiner von ihnen ist ernsthaft an Corona erkrankt."

Übertrieben ehrerbietig grüßend tritt ein wohlbeleibter Mittfünfziger an unseren Tisch. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln geht er wieder. Wir setzen unser Gespräch fort. "Das war der gewählte Abgeordnete dieser Gegend", erklärt Rama. "Ich habe aufgehört, mich mit diesen Menschen zu streiten. Sie besitzen die Macht und damit das Geld. Wenn ich etwas bewegen will, geht es nur mit ihrer Duldung."

Ramas nüchterner Tonfall klingt, als beschreibe sie ein unumstößliches Naturgesetz. Doch mit einem frechen Lächeln fügt sie hinzu: "Und er muss mich dulden, weil er weiß, dass auch ich ihm das Leben schwer machen kann."

Bild: Gilbert Kolonko

Das hat Rama mit dem Energieminister Nepals gemeinsam. Janardan Sharma war einer der Hauptköpfe des bewaffneten maoistischen Aufstandes, der nach einem zehnjährigen Kampf im Jahr 2006 zum Sturz der Monarchie führte. Und obwohl das bis dahin vorherrschende Feudalsystem damals abgeschafft wurde, spürt man, wie es in vielen Köpfen der aktuell verantwortlichen Politiker weiterlebt.

Vor vier Jahren traf ich Sharma im Dorf Lukumgau im Westen Nepals, eine der Hochburgen des bewaffneten Aufstandes. Die Bewohner hatten sich ein kleines Wasserkraftwerk angeschafft, doch der Verkäufer, ein Geschäftsmann aus Kathmandu, hatte wegen finanzieller Streitigkeiten die Blitzableiter nicht mitgeliefert. Dann schlug der Blitz ein. Sharma kam mit einem Jeep ins Dorf, der schwerbeleibte Geschäftsmann mit dem Hubschrauber.

Der Energieminister konnte keine finanziellen Zusagen machen, doch er "bauchpinselte" den Geschäftsmann nach allen Regeln der Kunst – und das Problem wurde gelöst. Wobei sicherlich half, dass jeder weiß, dass Sharma im Jahr 2004 der Kommandant jener maoistischen Einheit war, die ein Polizeiausbildungslager in Bhaluwang überfiel, bei dem 42 Polizisten getötet wurden.

Von Tansen aus geht es 140 Kilometer weiter nordwestlich ins Dorf Bolkot. In den Bussen und in jeder Basarstadt auf dem Weg dorthin tragen Frauen und Männer unaufgefordert Masken. Weniger aus Furcht vor Ansteckung, sondern aus Angst vor einem weiteren Lockdown.

Noch vor zwölf Jahren bestanden die Wege in Bolkot zwischen den Stein-Lehmhütten aus Schlamm und Büffelkot. Nun stehe ich auf einer asphaltierten Straße, den Mittel-West-Highway, der gesäumt ist von zweistöckigen Betonhäusern. Das Glück in den Augen der Menschen, jetzt Bus-ähnliche Gefährte in Reichweite zu haben, ist allseits zu sehen.