Nepal: Die Armen sterben weiter still und leise

Seite 2: Die Taten der Rebellen

Seitdem die ehemaligen maoistischen Rebellen von den Wäldern in die Politik gewechselt sind, unterscheidet sie nichts von den zwei großen und korrupten Parteien des Landes: der angeblich kommunistischen Communist Party of Nepal (UML) und der Kongress-Partei (NC). Abgesehen von zwei bemerkenswerten Errungenschaften: Bis 2017 waren in Nepal Stromausfälle an der Tagesordnung, bis zu 18 Stunden täglich lag die Energieversorgung brach.

Dann deckte Kul Man Ghising mit der Unterstützung von Minister Sharma auf, dass einige Direktoren der Nepal Electricity Authority (NEA) Strom zu Dumpingpreisen an indische Industrien verhökert hatten. (Das Paradebeispiel von Korruption in Entwicklungsländern: Damit sich einige wenige die Taschen füllen können, wird die komplette Volkswirtschaft geschädigt.) Mittlerweile ist die Energieversorgung weitgehend stabil, 23 von 24 Stunden funktioniert das nepalesische Stromnetz.

Die andere große Tat der ehemaligen Rebellen ist, dass sie die Fertigstellung des Mittel-West-Highway durchgedrückt haben – denn gefühlt 99 von 100 geplanten Projekten in Nepal versanden normalerweise im Nichts.

Dass Fortschritt mit der Straße kommt, auch wenn oft undeutlich und seltsam, zeigt sich 24 Kilometer westlich von Bolkot auf einem 3.100 Meter hohen Gebirgspass. Hier steht jetzt ein Hotel, ein Konstrukt aus Holzbrettern und Wellblech. Wer hier nachts aufs Klo muss, kann sich den Allerwertesten mit Eis abwischen. Der Manager: ein alter Haudegen; sein Personal: drei junge Männer und eine junge Frau, die ihre lokale Sprache Khas besser beherrschen als Nepalesisch.

Von morgens um 6 Uhr bis abends um 21 Uhr gibt es warme Küche, die Teller werden mit eiskaltem Wasser gespült, es wird geputzt, geschlachtet, gekocht und bedient. Etwa die Hälfte der Gäste sind Buspassagiere, für die alles nicht schnell genug gehen kann. Der andere Teil der Kundschaft sind Männer aus den Tälern, die mit ihren Motorrädern zum Picknick heraufkommen, das aus gebratenem Trockenfleisch und Roksi besteht (einem lokalen Schnaps).

Lukumgau hat sich in 18 Jahren kaum verändert – vielleicht wird es der Mittel-West-Highway richten. Bild: Gilbert Kolonko

Nur zehn Prozent der Besucher kommen noch zu Fuß aus den benachbarten Hochtälern. Doch sobald die Gäste fort sind, holt einer der jungen Angestellten sein neu erworbenes Smartphohe heraus und die vier jungen Menschen schauen Tik-Tok-Videos – sie lachen, feixen, scherzen.

Arbeit im Ausland

Einer der jungen Männer ist von zu Hause fortgerannt, er lehnte seine arrangierte Ehe ab. Noch vor ein paar Jahren eine Unmöglichkeit in dieser Region des Landes. Er weiß, dass die Welt anders aussehen kann, und er möchte sie sich irgendwann selbst anschauen. Vielleicht ist es dies, das den jungen Menschen im Hotel die Kraft gibt, täglich die harte Arbeit zu verrichten. Dazu kommen und gehen mit den Bussen auch viele ins Ausland – der Arbeit wegen. Ziele sind Katar, Saudi-Arabien, Malaysia, aber auch Portugal.

Ein Drittel des nepalesischen Bruttosozialproduktes steuern jene bei, die im Ausland arbeiten. So tauschen die vier jungen Angestellten ständig Telefonnummern mit den Reisenden aus und erfahren, dass sich beispielsweise in Portugal als Obstpflücker 750 Euro im Monat verdienen lassen. Einen Haken hat die Sache: Der Arbeitsagent verlangt vorher 3.000 Euro.

Arbeit in Saudi-Arabien gibt es schon für 1.500 Euro Provision, doch kann man dort nur 500 Euro im Monat verdienen, dazu ist es sehr heiß. Andererseits übernehmen manche Firmen in Saudi-Arabien die Kosten für Schlafplatz und Essen, so können von den 500 Euro 450 gespart werden. In Portugal wird alleine für den Schlafplatz bis zu 250 Euro im Monat abgezogen.

Das Stahlgerüst, das neben der Passstraße steht und das Telefonieren möglich macht, ist ebenfalls eine positive Errungenschaft der neuen Straße. Jetzt können die Menschen sich mit anderen austauschen, vor miesen Arbeitsagenten warnen und vor miesen Arbeitgebern im Ausland.

Ein Dreißigjähriger, der aus einem der Busse steigt, ist in einem Dorf zwei Fußmärsche nördlich von hier geboren. Er war fünf Jahre der Arbeit wegen in Korea und ist nun einen Monat auf Urlaub daheim. "Ich bin froh, wieder nach Korea zu gehen", sagt er. Einen Tag nach der Rückkehr in sein Dorf sei er nämlich krank geworden. Die nächsten 14 Tage habe er halbtot in einer primitiven Krankenstation im nahen Maikot gelegen. "Ich bin diese harten Lebensbedingungen nicht mehr gewöhnt."

Die harten Lebensbedingungen, von denen der Auslandsarbeiter auf Heimatbesuch spricht, sind in den umliegenden Wäldern bis zu 4.000 Höhenmetern gegenwärtig: Man trifft auf Schäfer mit Gesichtern wie gemeißelt, denen der wollende Lungi nicht einmal bis über die Knie reicht – nachts wird es schon auf 3.300 Höhenmeter minus 12 Grad kalt. Drei der vier jungen Angestellten des Hotels auf dem Pass sind dauerkrank. In jener Woche, in der ich, aus den Wäldern kommend, bei ihnen vorbeischaue, plagen sie Fieber, Kopf- oder Gliederschmerzen.

Der Mittel-West-Highway ist ein Segen für die Menschen in Rukum, auch wenn er teilweise schon wieder bröckelt. Bild: Gilbert Kolonko

25 Kilometer westlich des Passes, im Dorf Lukumgau, treffe ich auf ein weiteres menschliches Exemplar, das die Natur für perfekt angepasst hält: den 67-jährigen pensionierten Master-Lehrer Rujidhan, der noch alle eigenen Zähne im Mund hat, und die sind weiß.

Er ist doppelt geimpft – wie jeder, der die Möglichkeit dazu hatte –, ohne nach der Marke des Impfstoffes zu fragen, und damit ist das Thema Covid für ihn erledigt. "Hier im Dorf haben die Ausgangssperren niemanden interessiert", berichtet Rujidhan.

"Feuerholz holen, die Tiere versorgen, die Feldarbeit – all das geht oft nur gemeinsam. Natürlich gab es auch Austausch mit anderen Dörfern."

Der Arm der Regierung reicht kaum bis hierher, Landwirtschaft ist die einzige Einnahmequelle. Der Lehrer hat den Bau des lokalen Wasserkraftwerks auf die Beine gestellt. Genau wie das Anlegen der Kiwi-Plantage und die Pflanzung von 13.000 Bäumen oberhalb des Dorfes, um den Hang vor Erdrutschen zu schützen. Trotzdem sieht das Dorf noch aus wie vor 18 Jahren. "Die meisten Männer sind der Arbeit wegen im Ausland. Diejenigen, die Erfolg haben, ziehen fort. Die anderen sind ohne Ideen, aber dafür trinkfest und zäh", sagt Rujidhan ohne Vorwurf in der Stimme.

Mit derselben Nüchternheit wird mir in fast jedem Ort, den ich nach vielen Jahren wieder besuche, erklärt, wie ein gemeinsamer Bekannter gestorben ist: "Er war ein paar Monate krank, dann war er tot." Alle zwischen 30 und 50 Jahre alt, die meisten vor der Pandemie erkrankt. Und jene, die während der Pandemie starben, wurden offiziell nicht als Covid-Opfer gezählt – wer hätte allerdings auch etwas anderes feststellen sollen?

Die Impfkampagne

Warum die Impfkampagne in Nepal ins Stocken geraten ist, obwohl das Land aktuell zum ersten Mal ausreichend Impfstoff besitzt, wird bei meiner Rundreise durch den Westen des Landes klar: Der Großteil der Menschen in den Klein- und Basarstädten arbeitet nun auch am einzigen freien Tag der Woche von morgens bis abends, um die Verluste der Lockdowns wieder reinzuholen – niemand hat Zeit, die nächste Impfstation aufzusuchen.

Eine andere Begründung kommt eher unterschwellig. Man sagt sich: "Wenn mir der angeblich so gefährliche Virus bis jetzt nichts anhaben konnte, hat die Natur mich für würdig befunden."

Diese fatalistische Haltung – nicht nur in Nepal – ist wenig verwunderlich, musste der größte Teil der Erdbewohner doch knapp zwei Jahre auf eine Impfung warten. Und wo es endlich Impfstoff gibt, kommt er zuerst der gesellschaftlichen Elite und der wohlhabenden Mittelschicht zugute. Die Armen warten und schweigen. Wenn gestorben wird, dann leise.