Neu im Werte-Westen: Boycott Qatar!

Seite 2: Der Kicker als nationaler Repräsentant: Benimm Dich auch so!

So viel zu der beliebten Erzählung vom die Völker verbindenden Fußball: Hier treten hochgezüchtete National-Athleten gegeneinander an, Repräsentanten des Staates, der sie berufen hat, fürstlich umsorgt und bezahlt, damit sie in der Konkurrenz mit ihresgleichen bestehen.

Entsprechend akribisch und argwöhnisch wird dann alles von der Öffentlichkeit beäugt. Hat der Trainer die richtige Auswahl getroffen? Benehmen sich die Spieler so, wie es sich für einen ordentlichen Deutschen gehört? Also braver Bürger, für den es die höchste Ehre ist, für sein Land zu spielen. Und der ins selbe Horn stößt wie seine Herrschaft, wenn bestellt auch kritisch: Russland raus aus der WM, Menschenrechte achten in Katar!

Selbstverständlich begutachten die wichtigen Stimmen aus Sport und Politik auch die Wahl des Aufenthalts bei der WM. Zu weit weg vom Geschehen (WM-Stimmung stellt sich nicht ein!) oder zu nah (keine ungestörte Vorbereitung!), zu bequem (kommt keine Wettkampf-Stimmung auf!) oder zu karg (wie soll man sich da richtig vorbereiten, wenn schon die Betten zu hart sind?).

Manchmal stellt sich dann ein "Geist" ein, der die Mannschaft zusammenschweißt und siegen lässt. Umso wichtiger, da nun einmal nur elf Spieler auf dem Platz sein können und nicht der gesamte 26-köpfige Kader. Wenn das mit dem Geist nämlich klappt, gibt es auch keine Reibereien der Kicker untereinander. Streit können "wir" nicht gebrauchen, weil ja die "Mentalität" und das "Zusammengehörigkeitsgefühl" bekanntlich ganz spielentscheidend sind. Gute Deutsche halten eben zusammen, ziehen an einem Strang für den gemeinsamen Erfolg!

Womit wir bei einem weiteren Effekt dieser sportlichen Großveranstaltung ankommen: Bei der WM sind "wir" doch alle gleich! "Wir" begeistern uns alle für den Fußball. Ob Fans, mit und ohne "Ultra" davor, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, echte und Schein-Selbstständige, Hausbesitzer und Obdachlose, Bürgergeld-Bezieher und Manager, Regierende und Untertanen – beim Mitfiebern im internationalen Ringen um den Erfolg des Staates, dessen Personalausweis man zufällig besitzt, existieren keine Unterschiede, geschweige Gegensätze. Hier sind alle friedlich vereint und drücken "unserer" Mannschaft die Daumen.

Die tägliche Agitation von Politik und Medien, in dieser Gesellschaft ginge es um ein harmonisches Miteinander, bei dem eigentlich alle irgendwie auf ihre Kosten kommen – dieses Märchen stützen solche nationalen Kräftemessen im Sport bestens. So stiftet ausgerechnet eine Konkurrenzveranstaltung der Staaten die Ausblendung der Konkurrenz – in ihrem Inneren.

Wert-Schätzung: Kritik ja, aber Deutschland muss dabei sein!

Neu bei dieser WM: Eine zusätzliche Einigkeit hierzulande darüber, dass eigentlich die Veranstaltung boykottiert gehört. Was den Medien nur recht ist – so können sie gleich doppelt berichten, über den Sport und den Protest. So füllen die Sportseiten einerseits wie gewohnt die Reportagen über die Spiele, mit natürlich besonderem und kritischem Augenmerk auf das Abschneiden "unserer" Mannschaft.

Andererseits ergehen sie sich in nicht enden wollenden Hetzbeiträgen über die böse Fifa und den Austragungsort Katar, in dem "unsere" Werte – die natürlich überall zu gelten haben – nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Dabei bekommen dann Politiker und der Deutsche Fußballbund (DFB) auch eine Menge Kritik ab. Sie haben sich nicht entschieden genug gegen Zeit und Ort der WM gewehrt. Und sie sind eingeknickt, als die Fifa die mutige, ja revolutionäre "One Love"-Binde verbot und stattdessen das doch so ganz andere falsche "No Discrimination" vorschrieb. Das geht doch nicht: "Wir" haben eine der größten Fußballorganisationen der Welt und lassen "uns" von dahergelaufenen, korrupten Funktionären auf der Nase herumtanzen!

Andererseits möchte man eine der größten internationalen Sportereignisse auch nicht verpassen. Da kommen sich dann die Werte vom guten Westen ins Gehege mit dem Anspruch, als Deutschland bei der WM natürlich dabei zu sein.

Die Politik ringt mit sich, schickt die Innenministerin mit einer demonstrativ getragenen "One-Love"-Binde nach Katar, hält sich aber andererseits bedeckt. Schließlich hat man das Land als Flüssiggas-Lieferanten auserkoren, um die durch den Wirtschaftskrieg gegen Russland selbst geschaffene Notlage bei der Energieversorgung abzumildern.

Außerdem ist Katar seit Langem ein willkommener Investor und Handelspartner. Es hält zahlreiche Beteiligungen an großen deutschen Unternehmen wie RWE, Deutsche Bank, Siemens, Volkswagen, und sponsert bekanntlich über Qatar Airways den großen FC Bayern München.

Der DFB weiß seinerseits hervorragend, wie das mit dem Zuschlag für eine WM-Austragung läuft, Stichwort Beckenbauer-Millionen fürs "Sommermärchen" 2006. Bestechung und Händel unter den von den nationalen Sportverbänden entsandten Funktionären sind Programm: Es geht ja um nicht weniger, als für die eigene Nation einen überragenden Imagegewinn zu erzielen – mit dem erhofften Effekt vermehrter gedeihlicher politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zu den führenden Ländern der Welt.

Es hat auch einen ganz praktischen Hintergrund, wie die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar erfrischend klar erläutert:

"Darf das größte Sportereignis der Welt also nur noch in Demokratien westlichen Standards stattfinden? Wie viele Länder bleiben dann noch übrig? Ein paar europäische, nicht mal alle, man muss nur nach Ungarn und Polen blicken. Und was ist mit Italien, dort regieren gerade Postfaschisten? Oder mit den USA? Dort könnte Donald Trump die Wahl gewinnen, der Mann, der Hunderte Kinder illegaler Einwanderer von ihren Eltern trennte – und auch unter Joe Biden werden Tausende Minderjährige aus Lateinamerika unter inhumanen Bedingungen in Zelten festgehalten." (Dunja Ramadan: Nur Gute, nur Böse, in: Süddeutsche Zeitung, 19. November 2022)

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