Neu im Werte-Westen: Boycott Qatar!

Seite 3: „Respekt“: Waffenstillstand im sportlichen Wettkampf von Nationen

Das weist auf ein prinzipielles Problem hin: Jede internationale Groß-Sportveranstaltung ist Schauplatz eben internationaler Auseinandersetzung. Die Sportler starten schließlich nicht für sich, sondern für ihr Land. Sie repräsentieren damit auch das jeweilige System, mit all seinen Regeln und sie überhöhenden Werten.

Natürlich ist das eigene System das jeweils beste; mindestens haben sich andere da nicht einzumischen oder das zu bezweifeln. "Respekt" bezeichnet daher nicht einfach einen freundlichen Umgang miteinander. Vielmehr steht der Begriff für einen notwendigen Waffenstillstand zwischen athletischen Bürgern, deren Staaten ständig auf der Welt in Konkurrenz zueinander unterwegs sind.

Die Missachtung etwa des Alkoholverbots stellt in diesem Zusammenhang eine ernstzunehmende Beleidigung dar. Es handelt sich um mangelnden "Respekt" vor den Werten des betreffenden Staates. Also muss das respektiert werden, auch wenn das nicht gerade zur westlichen Kultur gehört, wie die Süddeutsche im selben Kommentar richtig bemerkt:

"Dass die Boykottaufrufe ausgerechnet ein arabisch-muslimisches Land treffen, ist wohl auch kein Zufall. Denn Fußball, das bedeutet Bier, Feiern, westliches Kulturgut – was also hat Katar da verloren? Ein viel zu sonniger Wüstenstaat, der keine Fußballgeschichte hat und in dem man nicht mal sein Bierchen im Stadion trinken kann?" (ebenda)

Kaum überraschend, wie anders die WM im arabischen Raum, und nicht nur dort, besprochen wird. Man ist stolz, Ausrichter zu sein, und versteht die ganze Aufregung des Westens nicht – beziehungsweise konstatiert mal wieder die Arroganz der führenden Wirtschaftsnationen gegenüber der "zweiten" oder gar "dritten" Liga in der Welt.

Diese wollten die westliche Kultur Katar aufzwingen. "Sie haben ein Problem mit Deiner Religion, es geht nicht um Prinzipien und Menschenrechte. Und deshalb sagen wir: Raus mit der deutschen Innenministerin“, twitterte beispielsweise ein Katarer seinen 400.000 Followern als Reaktion auf die die „One Love“-Binde tragende Nancy Faeser (vgl. Claudio Catuogno und Dunja Ramadan: Die Schilder von al-Chaur, in: Süddeutsche Zeitung, 29. November 2022). Als Retourkutsche ließen sich dann einige Fans eine Binde "Pro Palästina" einfallen.

Diese WM geht gar nicht – aber wehe, wenn die Deutschen die wieder vergeigen!

Die eine oder andere Kröte schluckt der Werte-Westen allerdings, um eine WM – oder auch Olympia – nicht scheitern zu lassen. Was ihn nicht davon abhält, bei in Ungnade gefallenen Staaten wie Russland und China die Keulen "Demokratie" und "Menschenrechte" zu schwingen.

Das Management der zahlreichen unterschiedlichen National-Interessen obliegt Verbänden wie der FIFA und, bei Olympia, dem IOC. Ihre notwendigen Rücksichtnahmen auf die divergierenden Standpunkte von weit über hundert Mitgliedsländern, damit trotzdem sich alle auf ein gemeinsames Sportereignis einigen, bietet regelmäßig die Vorlage für Kritik.

Man habe trotz himmelschreiender Verstöße gegen Menschenrechte weggesehen, sich das auch noch anständig bezahlen lassen und gemeinsame Sache mit Autokraten, Diktatoren, Regimes und anderen schlimmen Staaten gemacht!

Dass dieser Vorwurf ebenso auf die deutsche Handels- und Außenpolitik zutrifft, so es in die nationale Vorteilskalkulation passt, fällt solchen Kritikern eher nicht auf. Und dabei sind die deutschen Beziehungen zu Katar im Vergleich zu vielen anderen noch die kleineren.

Aber von allen nationalen Interessen an der WM einmal abgesehen – so viele Tote auf den Baustellen der aus dem Boden gestampften Stadien, so viele Wanderarbeiter, die fern ihrer Heimat ausgebeutet werden, so viele Homosexuelle und Frauen, die Diskriminierung erleiden: Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen, oder?

Ja, in Deutschland kommen die meisten nicht beim Bau von Stadien zu Tode, sondern ganz normal im Produktionsalltag, durchschnittlich jeden Tag ein Arbeitnehmer. Richtig, unsere Wanderarbeiter heißen Leiharbeiter, dürfen ihren polnischen oder albanischen Pass behalten, und bekommen auch so viel Geld wie ihre katarischen Kollegen, um hier zu überleben und vom Rest etwas nach Hause zu schicken.

Natürlich werden bei uns Homosexuelle hoch angesehen. Bereits 1994 wurde das Verbot aufgehoben, das gleiche Geschlecht zu lieben, eine Ewigkeit her. Okay, im Fußball hat immer noch kein aktiver Profi sich zu seiner Homosexualität bekannt. Müssen sich einfach trauen! Na, und was Frauen betrifft: Wir haben sogar welche in der Bundeswehr und auf dem Fußballplatz! Und Frauenhäuser haben wir auch ... Moment, wofür brauchen wir die noch mal?

Es ist also ganz klar: Katar soll sich gefälligst ein Beispiel am Werte-Westen nehmen, gern vor allem an "uns". Solange das nicht passiert, sind wir sehr empört, halten Banden mit „Boycott Qatar!“ hoch und schalten den Fernseher ganz selektiv und kritisch ein.

Aber wehe, wenn die Deutschen das wieder bei der WM vergeigen! Und das haben sie nun. Also hat sich der schwierige Spagat zwischen aufrechter Empörung und aufrechtem Nationalismus erledigt. Die WM? Kann man sich jetzt überhaupt nicht mehr ansehen. "Wir" sind doch nicht mehr dabei!

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