Neue Atommeiler: Warum die Ukraine auf Energieunsicherheit setzt
Mit dem Krieg ist die Energieversorgung in der Ukraine in die Krise geraten. Doch es wird weiter auf fossil-atomare Kraftwerke gesetzt. Eine Einordnung.
Bevor Hans-Josef Fell erläutern wird, wie die fossile Energieabhängigkeit als politische Waffe eingesetzt wird (der Ukraine-Krieg zeigt das), damit globale Unsicherheiten erzeugt werden und eine Energiewende diese negativen Effekte bannen kann (aber in der Ukraine ein anderer Weg eingeschlagen wird), ein kurzer Überblick über die Energiekrise in der Ukraine seit der Invasion Russlands im Februar 2022.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine erschütterte den ukrainischen Energiesektor in einem noch nie dagewesenen Ausmaß, da Moskau die Energieinfrastruktur mit Raketen, Drohnen, Sprengstoff und Artillerie angriff.
Die russischen Luftangriffe zerstörten umgehend zwei Dutzend große Treibstoffdepots und Raffineriekapazitäten.
Vor der Invasion hatten Russland und Belarus zusammen mehr als die Hälfte der in der Ukraine verbrauchten Brennstoffe geliefert. Als diese Lieferungen ausblieben und die einheimischen Raffineriekapazitäten zerstört wurden, geriet das Land in eine Krise fossiler Brennstoffe.
Die ukrainische Elektrizitätswirtschaft litt am meisten unter den kriegsbedingten Verlusten. Die Besetzung der östlichen Gebiete seit dem 24. Februar 2022 bedeutete, dass die Ukraine mehr und mehr den Zugang zu Energiekapazitäten einbüßte.
Besonders einscheidend war der Verlust der Kontrolle über das Kernkraftwerk Saporischschja im März 2022, das größte Kernkraftwerk Europas, das vor dem Konflikt 44 Prozent der ukrainischen Kernkraftkapazitäten ausmachte.
Russische Truppen beschlagnahmten das Kraftwerk unmittelbar nach der Invasion. Der Beschuss des Kraftwerks erhöhte die nuklearen Sicherheitsrisiken auf bedrohliche Weise.
30 Prozent der Solar- und 90 Prozent der Windkraftkapazitäten wurden nach Angaben des ukrainischen Energieministeriums im über zweijährigen Krieg beschädigt, zerstört oder besetzt.
Mehr als die Hälfte der Stromübertragungsinfrastruktur wurde zerstört oder stark beschädigt. Die Raketenangriffe dezimierten das gesamte 750-kV-Hochspannungsnetz (750.000 Volt), das für die Verteilung des Stroms aus den Kernkraftwerken in der gesamten Ukraine genutzt wurde.
Fast alle Wärme- und Wasserkraftwerke wurden angegriffen. Ende April 2023 lag die verfügbare Wärmekraftkapazität um 65 Prozent unter den 17,1 Gigawatt (GW), die Anfang 2022 zur Verfügung standen, und die verfügbare Wasserkraftkapazität war um 29,8 Prozent von 6,7 GW im selben Zeitraum zurückgegangen.
Die Angriffe Russlands gegen die ukrainische Energieversorgung haben sich in letzter Zeit wieder verstärkt.
Obwohl die ukrainischen Erdgas- und Strommärkte in der Vergangenheit eng an Russland gebunden waren, sind sie nun in die europäischen Märkte integriert. Bereits nach der Invasion wurde das ukrainische Stromnetz, das zuvor an das russische System angeschlossen war, mit dem europäischen synchronisiert.
Die Ukraine hat alle technischen Anforderungen erfüllt und ist nun ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Stromnetzes.
Der schreckliche russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Energiesicherheit in ein neues Licht gerückt. Wer glaubte und vielleicht immer noch glaubt, dass nur Erdöl, Erdgas, Kohle und Atomkraft eine sichere Energieversorgung bieten könnten, weil diese Energie im Gegensatz zu den wetter- und jahreszeitabhängigen erneuerbaren Energien verlässlich sei, hat sich massiv getäuscht.
Fossile Energie: Politische Waffe und Kriegswirtschaft
Da die meisten Länder der Erde kaum genügend eigene Energieressourcen haben und daher von ausländischen Importen der fossilen und atomaren Rohstoffe abhängig sind, sind sie ebenso in der Hand von politischen Verwerfungen der Lieferländer.
Energie wird zunehmend als Waffe benutzt, um eigene machtpolitische Interessen durchzusetzen. So sind die Europäer von der Gasversorgung Russlands über Pipelines abgeschnitten, weil Europa den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nicht unterstützen will.
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Schlimmer noch, durch unseren Einkauf von Erdöl, Erdgas, Kohle und auch Uran zur Stromerzeugung in der EU finanzieren wir islamistische Terrorregime und den russischen Krieg in der Ukraine. Auch die Angriffe der jemenitischen Terrorgruppe Huthi auf Transportschiffe im Roten Meer sowie anderer Terrororganisationen wie die Hamas oder Hisbollah gegen Israel werden zum großen Teil durch unseren Erdöl- und Erdgaskonsum finanziert.
Energiesicherheit wird nur durch erneuerbare Energien gewährleistet
Nun ist gerade in der Ukraine weiten Teilen der Bevölkerung bewusst geworden, dass dezentrale erneuerbare Energien, am besten durch eigene Solaranlagen auf dem Dach und Speicher im Keller ergänzt, mit regionaler Windkraft, Wasserkraft und Bioenergien Energiesicherheit bringen können und nicht die großen zentralen Atom-, Kohle- oder Erdgaskraftwerke.
Die Bombenangriffe Russlands auf Energiezentren und große Stromleitungen in den vergangenen Jahren haben in weiten Teilen der Bevölkerung die Augen geöffnet.
Selbst viele Taxifahrer in Kiew erzählen mittlerweile, dass sie lieber eine eigene Solaranlage mit Batterien hätten, um sicheren Strom zu haben, so Torsten Wöllert von der EU-Kommission im Gespräch mit mir im ukrainischen Sender Energy Freedom.
Denn jeder sieht, wie die vielen russischen Bombenangriffe unentwegt Elemente der zentralen Energieinfrastruktur zerstören und so Stromausfälle verursachen. Zudem sind die Atomkraftwerke keineswegs kostengünstig, wenn man über die reinen Stromerzeugungskosten der alten abgeschriebenen Atomkraftwerke hinausschaut, so Torsten Wöllert.
Der Abriss alter AKW, z. B. in Tschernobyl, ist für die Ukraine nicht finanzierbar, genauso wie ein sicheres Endlager für Atommüll und viele andere Kosten.
Ukrainische Regierung will dennoch neue AKW bauen
Dennoch hält die Regierung unter Präsident Selenskyj am Neubau von sündhaft teuren Atomkraftwerken fest, im Glauben, nur so sei eine kostengünstige und sichere Energieversorgung möglich. So will die ukrainische Regierung noch in diesem Jahr mit dem Bau von vier neuen Atommeiler in Chmelnyzkyj beginnen.
Es ist unbegreiflich, wie die ukrainische Regierung an der Atomenergie festhält, obwohl sie mit der weiterhin nicht überwundenen Atomkatastrophe in Tschernobyl und den großen Problemen des im Krieg zerstörten Atomkraftwerks Saporischschja längst hätte wissen können, dass Atomkraft allein wegen Kriegs- und Terrorgefahren, insbesondere in Kriegsgebieten, abgeschaltet werden muss.
Die EU-Kommission ist ebenfalls schuld an dieser Fehleinschätzung, weil sie Atomkraft und Erdgas in der Taxonomie als grüne Energie einordnete.
Daher stellt sich die Frage, wie das inzwischen weitverbreitete Wissen der ukrainischen Bevölkerung, dass dezentrale erneuerbare Energien kostengünstige Energiesicherheit bieten können, endlich Eingang in das Handeln der Regierung findet.
Energie-Diskussion im ukrainischen Sender
In der Diskussion im ukrainischen Sender Energy Freedom waren wir uns einig, dass das nur gelingt, wenn sich die Wahrheiten über die großen Vorteile der erneuerbaren Energien wie Kostenvorteile, Klimaschutz, Energiesicherheit u. a. auch in der Regierung der Ukraine und der EU-Kommission durchsetzen.
Stattdessen sehen wir jedoch, dass die Desinformation mit Lobbyeinfluss und Korruption der fossilen und atomaren Energiekonzerne weiterhin großen Einfluss auf Regierungen ausübt.
Wie sich doch die Bilder gleichen. Auch in der EU haben, wie in der Ukraine, immer noch die großen Öl-, Gas-, Kohle- und Atomkonzerne den entscheidenden Einfluss auf die Energiepolitik der Regierungen, auch wenn weite Teile der Bevölkerung in Europa und auch in der Ukraine längst die großen Vorteile der erneuerbaren Energien erkannt haben.
Daher muss endlich der Lobby- und Korruptionseinfluss der fossilen und atomaren Konzerne in ganz Europa und darüber hinaus beendet werden.
Hans-Josef Fell ist Präsident der Energy Watch Group und Mitautor des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG). Von 1998 bis 2013 war er für die Grünen im Bundestag. Er hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen für sein Engagement erhalten. Fell ist Botschafter für 100 Prozent erneuerbare Energien und Sprecher der Bürgerinitiative Bürger Solarfabrik.