Neue Innovationsmodelle und alte Verteilungskämpfe

Oder: Warum sich Wissenschaftler nicht mehr trauen, die Wahrheit zu sagen

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Während die Bundesregierung im Angesicht "der Krise" die fünfzehnte oder sechzehnte von oben gesteuerte "Innovationsoffensive" in der Geschichte der Bundesrepublik fährt und "Elite-Unis" fördert, machte sich eine Schar anders tickender Forscher und Unternehmer auf Einladung der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in der Hauptstadt Gedanken über ein offenes, auf das vernetzte Digital-Zeitalter abgestimmtes und traditionelle Anreizsysteme hinterfragendes Innovationsmodell. Das Establishment will davon aber nichts wissen -- schließlich geht es ans Eingemachte. Kein Wunder also, dass nicht einmal ein einziger Grünen-Politiker den Weg auf das Podium der Veranstaltung fand.

Der Begriff Innovation ist längst zum hohlen Unwort, "zum Passepartout für alles geworden", wie der Giessener Politikwissenschaftler Claus Leggewie sagt. Es stehe in seinem Bedeutungsgehalt dem Begriff "Reform" kaum noch nach, den man spätestens nach den jüngsten Kaschierungsversuchen des zaristischen Staatsumbaus durch den russischen Präsidenten Putin als just eine ebensolche zu den Akten legen müsse. Ein Glück, dass die Böll-Stiftung dem zunehmenden traditionellen Innovationsbetrieb, der sich momentan auch in Buchpublikationen wie "Innovationen - Versprechen an die Zukunft" oder "Made in Germany '21" niederschlägt, ein Open Innovation mit Ausrufezeichen entgegensetzte. Sonst wäre Leggewie vermutlich nicht zu der gleichnamigen Konferenz am Donnerstag und Freitag nach Berlin gekommen.

Bei "Open Innovation!" schwingen verwandte Begriffe wie das kollektive Software-Entwicklungsmodell Open Source, welches das Eigentum am Programmcode auf die Allgemeinheit überträgt, oder das auf die freie Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen setzende "Open Access"-Publikationsmodell natürlich immer schon mit. Ganz in diesem Sinne erklärte der Konstanzer Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen: "Open Innovation will einen Kontrapunkt setzen zum dominierenden Verständnis der entscheidenden Faktoren zur Sicherung der Innovation." Die würden in der Regel in möglichst hohen Schutzrechten für das "intellektuelle Eigentum" gesehen und seien "aus der Theorie des Eigentums materieller Werte geschaffen". Im immateriellen und elektronischen Umfeld sei aber ein neues Verständnis nötig:

Nicht die Verknappung, sondern die größtmögliche Freizügigkeit sichern wissenschaftliche Invention und wirtschaftliche Innovation.

Rainer Kuhlen

Als Türöffner für wirtschaftliche, soziale und politische Innovationen sowie auch als grundlegendes Abbild einer "open innovation" dient das Internet, waren sich sämtliche Experten auf der Berliner Tagung einig. Es entstand zwar durchaus zunächst mit staatlicher Förderung, die aber nur das grobe Ziel der Schaffung eines redundanten, vernetzten Kommunikationsmodells vorgab. Eher zufällig entstand dabei das Internet, erläuterte Wolfgang Coy von der Humboldt-Uni Berlin. Groß wurde es in einem "Bottom up"-Prozess. Die Kommunikationstechnik entwickelte also rasch eine Eigenentwicklung, die von den frühen wissenschaftlichen Nutzern und den späteren Anwendern im Wirtschafts- und im normalen "Verbraucher"-Kreis getrieben war.

End-2-End: Freiraum für Anwendungen

Die vielen Folge-Innovationen wie Peer-2-Peer (P2P), Online-Auktionshäuser, Wikis oder Weblogs, die aus dem Internet erwachsen sind, machte die Anlage des Netzes der Netze in Form der so genannten End-2-End-Architektur (E2E) möglich. Wie das Verkehrs- oder das Stromnetz bietet das Internet als Basistechnologie einen "allgemeinen Service, von allen darauf basierenden Applikationen frei genutzt werden kann", betonte Barbara van Schewick von der TU Berlin. Der große Vorteil aus der Innovationsperspektive heraus sei bei E2E, "dass es einen Wettbewerb zwischen allen Anwendungen gibt". Das Netz selbst könne einzelne Nutzungsformen nicht diskriminieren und jeder, der Zugang zu einem End-Host habe, könne neue Anwendungen über die offene Zwischenarchitektur zwischen den Servern einführen. Auch eine zentrale Kontrolle der Internetnutzung sei damit schwierig, weshalb das Modell nicht allen Recht sei und sich das Internet "am Scheideweg" befinde.

Die E2E-Architektur, die das Recht zur Innovation gleichsam in eine Art Allmende integriert habe, sei keineswegs Gott gegeben, knüpfte der Rechtsprofessor Lawrence Lessig von der Universität Stanford direkt daran an. "Es gibt wichtige Anreize, um das ursprüngliche Design zu korrumpieren", warnte der Aktivist. Für ihn besteht die Geschichte der Medientechnik vor allem in einer ständiger Bekämpfung neuer, überlegener Erfindungen, wie er an Beispielen der langen Verhinderung des UKW-Radios oder des Einbau von Blockaden für das Streamen von Video übers Internet auf Geheiß des US-Telefongiganten AT+T darlegte. Häufig hätten die großen Konzerne entscheidende Innovationen aber auch einfach verschlafen. ICQ, Hotmail oder Napster etwa hätten gemeinsam, dass sie alle drei bei "Jugendlichen und Immigranten" erfunden worden seien: "Das waren alles Outsider der Mächte, die damals das Netzwerk kontrollierten".

Innovationen auf dem Abstellgleis

Echte Innovationen sind also in der Regel im normalen Wirtschafts- und Politikbetrieb gar nicht gefragt. Statt Experimentierfelder, Querdenker und den reinen Nährboden für Erfindungen zu fördern, wird stattdessen das Regime der intellektuellen Eigentumsrechte weiter ausgebaut. Inventionen sind in Ordnung, so das offizielle paradoxe Motto in den Führungsspitzen, solange wir sie bereits vorhergesehen und damit immer unter Kontrolle haben. An der Forschungspolitik wird daher nichts verändert, auch wenn gerade die Beteiligung der kleinen und mittleren - und damit der oft deutlich innovativeren und sich auch mit der Anwendung von Erfindungen leichter tuenden - Firmen an der Forschungs- und Entwicklungsarbeit "dramatisch zurückgehen", wie Birgt Gehrke vom Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung Alarm schlug.

Gleichzeitig droht auch der Open-Source-Bewegung, die mithilfe des Copyleft-Prinzips das Dilemma der viel beschworenen Tragödie der Allmende bislang zu umschiffen wusste und ein ausdifferenziertes Anreizsystem für das Beitragen zu einem öffentlichen Gut geschaffen hat, das Aus durch Softwarepatente. Denn mit dem von Brüssel angestrebten Monopolschutz für "computerimplementierte Erfindungen" würde das traditionelle Eigentumsmodell auch im Softwarebereich verankert und den schon aufgrund finanzieller Gegebenheiten außen vor bleibenden Entwicklern freier Quellcodes wohl weitgehend die Luft zum Atmen abgedrückt. "Wir müssen gegen die Leute kämpfen, die eigentlich etwas für uns tun sollten", klagte der Vorsitzende des Linux-Verbands, Elmar Geese, gegen die Unterstützung des Brüsseler Softwarepatentkurses durch die Bundesregierung und brachte damit das Dilemma der "Innovationsförderung" hierzulande auf den Punkt.

20 vs. 80 und die Austrocknung des Sozialmodells

Doch die aktuellen Entwicklungen sind nicht verwunderlich, erweiterte Franz-Josef Radermacher, wissenschaftlicher Leiter des Forschungsinstitutes für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung an der Universität Ulm, das Blickfeld der Innovationsmodernisierer um globale Fragestellungen. "Es gibt kein Interesse an unserem Modell", stellte er klar, "denn das würde die Spitze des Reichtums ärmer machen." Bill Gates etwa habe soviel Geld, "dass er die Elite der bestausgebildeten Leute auf diesem Globus beschäftigen kann. Die denken sich etwas aus, dass Linux am Schluss nicht mehr da ist." Da bringe es nichts zu argumentieren, dass freie Software doch für die Allgemeinheit viel besser wäre. "Das wissen doch alle schon", konstatierte Radermacher. Wichtiger sei es, dass man die oberen Zehntausend daran hindere, "uns Lösungen aufzudrängen, die uns alle insgesamt ärmer machen."

Das Problem ist für den Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker aber keineswegs auf den Kampf von Microsoft gegen Linux beschränkt. Vielmehr gehe es um allgemeine Verteilungsfragen: "Bei 20 Prozent der Menschen landen immer 80 Prozent des Kuchens", weiß der Forscher. Der Globus könnte seiner Ansicht nach viel reicher sein, wenn die Menschheit nur richtig in ihre "Humanpotenziale" investieren würde. "Aber es ist nicht im Interesse der Spitze der Pyramide, dass man gemeinsam ärmer wird", sagt Radermacher. Die Globalisierung sei dabei die Struktur, "die oben massiven Zugriff behält". Und zwar um den Preis, dass der bisherige sozialer Level auch in Ländern wie der Bundesrepublik nicht zu halten sei, kritisierte Radermacher indirekt die "Hartz-IV-Reformen" der Bundesregierung. "80 Prozent hier müssen ärmer werden, damit 20 Prozent umso besser gestellt bleiben."

Die Abschottung an der Spitze zeigt sich für den Globalisierungskritiker auch im Umbau des Universitätssystems: Seine klassische Funktion sei es gewesen, das "breite allgemeine Wissens zu fördern, das uns alle immer reicher macht." Die Gewinner des Systems hätten dieses dann gleichzeitig wieder refinanziert durch das Zahlen adäquater Steuern. Doch nun entziehen sich die Global Player immer weiter der Besteuerung, was das Steuerniveau "auch bei uns" senkt. "Die Globalisierung erzwingt so einen Prozess, wo Wissen nicht mehr refinanziert wird", fürchtet Radermacher. Stattdessen werde das System "ausgetrocknet" durch die Debatte um die Elite-Uni, die aber nur den Rückbau der Universitäten kaschiere. Zudem werde Forschung fast nur noch mit Drittmitteln bezahlt, womit die Geldgeber aber wiederum gleich über Verwertung des Wissens bestimmen können.

Das Perfide an dem schleichenden Umbau ist laut Radermacher, dass die Profiteure an der Spitze zur Durchsetzung der alt-neuen Eigentumsstruktur auf Think Tanks setzen. Diese würden ständig nur Ablenkungsmanöver starten und die Welt durch "Public-Awareness-Management" so organisieren, dass genügend viel vom Kuchen bei ihnen und ihren Auftraggebern lande. Der Trick dabei sei, "dass man sich ja gar nicht mehr traut, die elementarsten Dinge zu sagen", empörte sich der Wissenschaftler. "Denn sonst wird man ja sofort als Verschwörungstheoretiker abgetan."