Neue Studie: Wie nahe waren Russland und Ukraine einer Einigung im Jahr 2022?

Seite 2: Sicherheitsgarantien und neutrale Ukraine

Mit dem Kommuniqué von Istanbul vom 29. April wurde ein Durchbruch erreicht. Der im Kommuniqué vorgesehene Vertrag eklärte die Ukraine zu einem dauerhaft neutralen, nicht-nuklearen Staat. Die Ukraine sollte danach auf jegliche Absicht verzichten, Militärbündnissen beizutreten oder ausländische Militärstützpunkte oder Truppen auf ihrem Boden zuzulassen.

In dem Kommuniqué werden die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (einschließlich Russland) sowie Kanada, Deutschland, Israel, Italien, Polen und die Türkei als mögliche Garanten genannt.

Für die Ukraine waren die Sicherheitsgarantien in dem Beschluss ein großer Fortschritt und Gewinn, so die Autoren. Was überraschend sei, ist die Tatsache, dass Putin – darauf deutet der Entwurf hin – genau das zu akzeptieren bereit war. Der Grund dafür mag gewesen sein, dass er einsah, dass der Blitzkrieg gescheitert war und er im Gegenzug den Nato-Beitrittsverzicht für die Ukraine erhalten würde, eine Kernforderung von Russland seit vielen Jahren.

Boris Johnson: Zwang man die Ukraine zum Weiterkämpfen?

In der Analyse werden auch ukrainische Unterhändler zitiert. "Wir waren Mitte April 2022 sehr nahe daran, den Krieg mit einer Friedensregelung zu beenden", berichtete Oleksandr Chalyi, einer der Unterhändler Kiews, bei einem öffentlichen Auftritt im Dezember 2023.

Eine Woche, nachdem Putin mit seiner Aggression begonnen hatte, kam er zu dem Schluss, dass er einen großen Fehler gemacht hatte, und versuchte, alles zu tun, um ein Abkommen mit der Ukraine zu schließen.

Der Fraktionsvorsitzende von Selenskyjs Partei, Davyd Arakhamia, leitete die Verhandlungsdelegation. Er machte in einem Interview 2023 Johnson für das Ergebnis verantwortlich. "Als wir aus Istanbul zurückkamen", so Arakhamia, "kam Boris Johnson nach Kiew und sagte, dass wir überhaupt nichts mit [den Russen] unterschreiben würden – und wir einfach weiterkämpfen sollten."

Charap und Radchenko halten jedoch die Behauptung, der Westen habe die Ukraine zum Ausstieg aus den Gesprächen mit Russland "gezwungen", für unbegründet. Das geht ihnen zu weit.

Sie suggeriert, dass Kiew in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht hatte.

Fehlender Enthusiasmus für Diplomatie in USA und Europa

Es sei hingegen richtig, dass die westliche Unterstützung sowie der fehlende Enthusiasmus vonseiten der USA und Europas, Selenskyjs "Interesse an der Diplomatie gedämpft" hätten.

Auch die entdeckten Kriegsverbrechen in Buschta spielten in die Gespräche hinein und mögen sie beeinflusst haben. Die Verhandlungen gingen aber in hoher Intensität auch in dieser Zeit weiter, was darauf hindeutet, das ihr Effekt am Ende begrenzt gewesen ist.

Letztlich sei es so gewesen, heißt es in Foreign Affairs:

Damals und in den vergangenen zwei Jahren fehlte in Washington und in den europäischen Hauptstädten die Bereitschaft, sich auf riskante Diplomatie einzulassen oder sich wirklich zu verpflichten, die Ukraine in Zukunft zu verteidigen.

Situation für Verhandlungen heute schwieriger

Und das wäre nach dem Kommuniqué von Istanbul notwendig gewesen. Die Ukraine und Russland, so Charap und Radchenko, hätten sich im Zuge der Friedensblockaden bis heute nicht auf einen Kompromisstext geeinigt.

Die Folgen dieses gescheiterten ersten Versuchs der Diplomatie liegen auf der Hand, wie Thomas Graham, ehemaliger leitender Direktor für Russland im Stab des Nationalen Sicherheitsrats, diese Woche in The Hill darlegte.

Die große Tragödie des russisch-ukrainischen Krieges besteht darin, dass er sich letztlich als sinnlos erweisen wird. Das wahrscheinliche Ergebnis – territoriale Anpassungen zugunsten Moskaus, Sicherheitsgarantien für die Ukraine und Russland – hätte im Vorfeld friedlich ausgehandelt werden können, wenn die führenden Politiker ein besseres Verständnis für die tatsächlichen Machtverhältnisse oder mehr politischen Mut gehabt hätten. Der Preis für die gescheiterte Diplomatie sind bereits Hunderttausende von verlorenen Menschenleben und Hunderte von Milliarden Dollar an zerstörtem Eigentum.

Heute ist die Lage durch die Vorteile, die Russland auf dem Schlachtfeld erringen konnte, ungünstiger geworden für die Ukraine. Moskau ist nun wahrschlich weniger interessiert an einer diplomatischen Einigung mit Zugeständnissen.

Doch wie George Beebe und Anatol Lieven vom Quincy Institute in einer Studie erklären, besitzen alle Seiten weiterhin einen Anreiz, eine diplomatische Lösung anzustreben, die den Krieg beenden und eine neue europäische Sicherheitsarchitektur ermöglichen könnte.