Neue Vertreibungsvorwürfe gegen Kurden
Amnesty International hat auch im Irak Anhaltspunkte für eine ethnische Säuberung gesammelt
Im Oktober veröffentlichte Amnesty International (AI) Zeugenaussagen und Bilddokumente, die nahe legten, dass Araber aus den von der syrisch-kurdischen YPG-Miliz eroberten Gebieten in größerem Maßstab enteignet und vertrieben wurden (vgl. Amnesty International wirft Kurden Vertreibung von Arabern vor). Nun hat die Menschenrechtsorganisation einen Bericht publiziert, der ihrer Ansicht nach beweist, dass es Plünderungen, Brandstiftungen, Sprengungen, mutwillige Häuserzerstörungen mit Planierraupen und ethnische Säuberungen auch in Gebieten gab, die von irakischen Kurdenmilizen beherrscht werden.
Die teilweise durch Satellitenfotos gestützten Aussagen dazu stammen von über 100 Arabern, die in den irakischen Provinzen Niniveh, Kirkuk und Diyala leben - beziehungsweise lebten, bevor diese zwischen September 2014 und März 2015 von kurdischen Kämpfern besetzt wurden. In der Region Jalawla, die in der Provinz Diyala liegt, werden angeblich tausende Araber, die nach Angriffen des IS im Juni 2014 flohen, an einer Rückkehr in ihre Heimat gehindert. Ihre Dörfer wurden zum großen Teil dem Erdboden gleich gemacht, wie Beobachter von Amnesty International feststellten, die das Gebiet im November 2015 aufsuchten.
Ehemaligen Bewohnern zufolge geschah dies nicht durch den IS, sondern durch Peschmerga, die das Areal vier Monate später eroberten. Dem Zeugen Tabaj Hamid nach standen die Häuser damals noch, erst später seien sie mit Bulldozern niedergewalzt worden. Spuren, die von Bulldozern stammen könnten, finden sich auch auf Satellitenbildern, die AI dazu ausgewertet hat. Das Aufnehmen von Bildern am Boden war den AI-Mitarbeitern nicht überall möglich, weil sie von Peschmerga teilweise daran gehindert wurden.
Ayub Salah aus Sibaya, einer Ortschaft nördlich des Sindschar-Gebirges in der Provinz Niniveh, berichtete AI, dass sein Dorf im Januar 2015 von kurdischsprachigen Jezidenmilizen und Kurden aus Syrien und der Türkei niedergebrannt wurde - mutmaßlich Kämpfer der YPG und der PKK. Am Wiederaufbau der Häuser seien die Araber von irakisch-kurdischen Peschmerga gehindert. Und fünf Monate später seien erneut Jezidenmilizionäre gekommen und hätten das, was noch stand, niedergewalzt - inklusive der Obstgärten. In den benachbarten Dörfern Chiri, Sayir, Umm Khabari und Khazuqa wurde angeblich ähnlich verfahren. Amnesty-Beobachter, die die Region im April 2015 besuchten, hatten dort geplünderte und durch Brände beschädigte Häuser vorgefunden, die es bei ihrer nächsten Visite im November 2015 nicht mehr gab.
In Barzanke, einem anderen arabischen Dorf in dieser Gegend, versuchten die Peschmerga den IS für die Zerstörung verantwortlich zu machen. Das ist nach Ansicht von AI allerdings nicht nur deshalb unwahrscheinlich, weil es keine Belege dafür gibt, sondern auch, weil andere Kurdengruppen zugaben, die Ortschaft zerstört zu haben, um sicherzustellen, dass die arabischen Bewohner nicht mehr dorthin zurückkehren. Dieses Schicksal teilen dem Bericht nach zehntausende nordirakische Araber, die nun in Flüchtlingscamps hausen und ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch ihre gewohnte Arbeit bestreiten können.
Die kurdische Regionalregierung begründete die Maßnahmen AI gegenüber mit Sicherheitserwägungen. Die Menschenrechtsorganisation glaubt jedoch, dass sie damit auch ihr Gebiet um bereits vorher beanspruchte Areale vergrößern und Rachegelüste ausleben will, die bis in die Herrschaftszeit von Saddam Hussein zurückreichen, der die Ansiedlung von Arabern im Nordirak förderte. Bezüglich der Verbrechen von IS-Anhängern fordert sie, dass diese in ordentlichen Gerichtsverfahren aufgeklärt werden, anstatt Gemeinschaften dafür kollektiv verantwortlich zu machen, aus denen die mutmaßlichen Täter stammen. Außerdem verlangt die Menschenrechtsorganisation einem sofortigen Stopp der Zerstörungen, eine Entschädigung der Eigentümer und eine allgemeine Rückkehrerlaubnis für Geflohene und Vertriebene.
Den Verweis, dass viele der Verbrechen mutmaßlich von syrischen, türkischen und jezidischen Milizen verübt wurden, die den Peschmerga und der irakischen Regionalregierung nicht direkt unterstellt sind, lässt AI nicht gelten: Wer ein Gebiet kontrolliere, der trage auch die Verantwortung dafür, dass Verbündete im Kampf gegen den IS und andere Bewaffnete nicht menschenrechtswidrig agieren. Außerdem müsse er alle ethnischen Gruppen darin schützen - und nicht nur einige.
AI hält es darüber hinaus für wichtig, dass Länder, die mit den Peschmerga im Kampf gegen den IS zusammenarbeiten, die im Bericht aufgeführten Menschenrechtsverletzungen klar und öffentlich verurteilen und sicherstellen, dass ihre Hilfen nicht dazu beitragen. Neben den USA nennt die Menschenrechtsorganisation hier explizit Deutschland, wo Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen noch nicht auf eine Anfrage von Telepolis dazu reagiert hat. Die ihr unterstellte Bundeswehr trainiert in der irakischen Kurdenhauptstadt Erbil mit demnächst 150 Ausbildern Peschmerga und Jezidenmilizionäre.
In den Niederlanden wurde währenddessen ein 47-Jähriger festgenommen, weil er in Syrien mit der kurdischen YPG-Miliz kämpfte. Ob der inzwischen wieder freigelassene Mann wegen Mordes oder anderer Straftaten angeklagt wird, steht noch nicht fest. Damit er sich einer möglichen Anklage nicht durch eine erneute Ausreise ins Kriegsgebiet entziehen kann, wurde ihm der Pass entzogen.
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