Neuer Ärger um Bologna
Zehn Jahre nach Einführung der Studienreform streiten Befürworter und Gegner, ob es überhaupt eine Krise gibt und welche Wege herausführen könnten
"Nach zehn Jahren ist der Bologna-Prozess ein Beispiel für eine europäische Erfolgsgeschichte", resümierte Bildungsministerin Annette Schavan vor einer Woche. Die Reform habe die Mobilität der Studierenden gesteigert und eröffne ihnen hervorragende Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Der neue Präsident der Hochschulrektorenkonferenz hielt dagegen. Ein Bachelor of Engineering sei kein vollwertiger Ingenieur - und ein Bachelor in Physik "nie im Leben ein Physiker", meinte Horst Hippler. Und schon stand das Thema wieder ganz oben auf der Tagesordnung.
"Bildung, Ausbildung und Erziehung"
Horst W. Hippler ist nun wirklich kein Revoluzzer. Gut möglich, dass der Physikochemiker sogar am liebsten auf Seiten derer steht, die in der Republik das Sagen haben. Denn noch im August 2010 gehörte der Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) zu den "vierzig namhaften deutschen Wirtschaftsvertretern", die auf Anregung der Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW vor einem Ausstieg aus der Kernenergie warnten.
In der Unterzeichnerliste des "energiepolitischen Appells" fand man Josef Ackermann, damals noch Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, Bahn-Chef Rüdiger Grube, BDI-Präsident Hans-Peter Keitel, Multitalent Carsten Maschmeyer oder Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff. Und eben Hippler, der in solch illustrer Runde dafür plädierte, es bis auf weiteres noch mit Kohle und Kernenergie zu versuchen.
Der 1946 in Göttingen geborene Forscher und bekennende "Wissenschaftsmanager" gab sich auch ansonsten linientreu und demonstrierte noch nach seiner umstrittenen Wahl zum Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz einen leidenschaftslosen Umgang mit den Reizthemen Eliteförderung und Studiengebühren.
Ein Freund der Bologna-Reform aber war Hippler nie und machte sich schon im Frühjahr daran, zentrale Bestandteile des vermeintlichen Jahrhundertprojekts zu demontieren. Der Titeltausch vom "Diplomingenieur" zum "Master of Science" sei "völlig überflüssig" gewesen, und die Vereinheitlichung der Fächerkulturen gefiel dem neuen Präsidenten augenscheinlich ebenso wenig wie die "falsch verstandene Internationalität". Außerdem laufe das deutsche Hochschulsystem Gefahr, seinen eigentlichen Bildungsauftrag aus den Augen zu verlieren.
Die Hochschulen dürfen keine Ausbildungsstätte der Unternehmen werden. Im Englischen hat das Wort education drei Bedeutungen: Bildung, Ausbildung und Erziehung. Wir reden im Moment immer nur über die Ausbildung. Wir müssen auch Bildung vermitteln und die Erziehung zu einem Staatsbürger leisten, der Verantwortung übernehmen kann.
Horst Hippler, 2. Mai 2012
Befähigung ja, Qualifikation nein
Am Dienstag vergangener Woche legte Hippler nach. Der Bachelor bedeute zwar eine Berufsbefähigung, stelle aber im Grunde keine Berufsqualifikation dar. Überhaupt ziele die Idee, die Ausbildungszeiten junger Menschen immer weiter zu verkürzen, in die falsche Richtung. Das Versprechen größerer Internationalität sei nicht erfüllt worden, es fehle allerorten an Masterplätzen, und wenn die Studierendenzahlen weiter ansteigen würden, drohe dem ganzen System ohnehin der Kollaps.
(…), dann werden die Hochschulen nicht mehr in der Lage sein, den Andrang zu verkraften. Konkret heißt das: Sie werden den Zugang praktisch flächendeckend mit einem lokalen Numerus Clausus beschränken müssen und die große Nachfrage nach Studienplätzen wird dann nicht mehr befriedigt werden können, auch wenn die Wirtschaft noch mehr Akademiker fordert. Es fehlen sieben Milliarden Euro in den nächsten Jahren – und zwar nur, um die offizielle Studienanfängerprognose zu bedienen.
Horst Hippler, 14. August 2012
Das alte Humboldtsche Bildungsideal kam in Hipplers Ausführungen erneut zu einem kurzen Auftritt, wurde diesmal aber explizit mit ökonomischen Interessen verknüpft.
Die Unternehmen brauchen Persönlichkeiten, nicht nur Absolventen. Wir alle arbeiten immer länger, da ist es sinnvoll, am Anfang mehr Zeit zu investieren und eine solche Persönlichkeit auszubilden.
Horst Hippler, 14. August 2012
Insofern geht es – wie seinerzeit beim "energiepolitischen Appell" – auch hier um Herzensangelegenheiten der deutschen Wirtschaft, die nicht nur Kevin Heidenreich, Hochschulexperte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), in den Vordergrund gerückt sehen will.
Die Umsetzung des Prozesses bleibt problematisch. (...) Die Unternehmen beklagen vor allem mangelnde Praxistauglichkeit. Viele Absolventen sind fachlich sehr gut vorbereitet und verfügen über das nötige theoretische Hintergrundwissen. Aber oft genug können sie dieses Wissen nicht anwenden. Die Studiengänge orientieren sich zu wenig an den Erfordernissen des späteren Berufslebens. Deshalb fordern wir, die Studiengänge durch Planspiele und Praktika unternehmensnah auszurichten.
Kevin Heidenreich (DIHK), 15. August 2012
Einseitiges Echo
Unabhängig davon fällt die Leistungsbilanz der Bologna-Reform nach zehn Jahren in der Tat bescheiden aus. Die internationale Vergleichbarkeit ist bislang nur bedingt gegeben, weil Leistungen immer wieder unterschiedlich angerechnet werden. Es gibt nicht genügend Masterplätze, was allein schon verhindert, dass der Master zum – dann deutlich höherwertigen – Regelabschluss wird. Darüber hinaus liegt die Studienabbruchquote in den Bachelorstudiengängen bei rund einem Drittel – und damit über den Durchschnittswerten der letzten Diplom-Magister-Fächer und der Studiengänge, die mit dem Staatsexamen abgeschlossen werden.
Die engen Termin- und Lehrpläne sind infolge der Bildungsstreiks ein wenig entschlackt worden, ein großer Durchbruch aber ist nicht gelungen, denn die Hochschulen beschäftigten sich derzeit vor allem damit, den Ansturm der Nachwuchsakademiker irgendwie zu bewältigen.
Die Reihe der Beispiele ließe sich über das Thema soziale Exklusion bis zur Qualität der Lehre fortsetzen und allenfalls durch Parolen widerlegen. Entsprechend einseitig fiel das Echo der Berichterstatter und Kommentatoren aus. Bachelor und Master seien "Absolventen zweiter Klasse", war da zu lesen, Hipplers Kritik, mit Blick auf künftige Verhandlungen, "ungeschickt, aber richtig", und Hamburgs Uni-Präsident Dieter Lenzen, erklärter Sympathisant der "unternehmerischen Hochschule", meinte, durch das Projekt sei ein "bürokratisches Monster" entstanden.
"Nur Ausbildung statt Bildung" schallte es am vergangenen Wochenende, und selbst im medialen Rückzugsraum des Bildungsbürgertums grenzt es augenscheinlich an Realitätsverweigerung "die Bologna-Reform als europäisches Erfolgsmodell schönzureden".
Das sieht auch die Opposition so, die sich das Thema Bildung für die Wahlkämpfe 2013 reservieren will und nach dem jetzigen Stand mit fast jeder Positionierung punkten könnte. Kai Gehring, der grüne Sprecher für Hochschulpolitik, fordert allerdings noch im laufenden Jahr die Einberufung einer nationalen Bologna-Konferenz - und Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsminister Mathias Brodkorb sichert dem HRK-Präsidenten schon einmal sicherheitshalber seine Unterstützung zu.
Einseitige Schuldzuweisungen an die Politik oder den politischen Gegner verkennen allerdings, dass die Hochschulen in den vergangenen Jahren einen erheblichen Autonomiezuwachs erlebt und ihn nur sehr bedingt dazu genutzt haben, die Kritikpunkte, die vor Ort abgestellt werden könnten, tatsächlich in Angriff zu nehmen.
Auch die Hochschulrektorenkonferenz hat – in ihrer Gesamtheit – keinen Anlass, sich nach Hipplers Generalabrechnung als Punktsieger zu fühlen. Die Vorgänger des neuen Präsidenten, Peter Gaehtgens oder Margret Wintermantel waren der Bologna-Reform durchaus zugetan.
Also es bewegt sich schon etwas, aber die Studierenden sind furchtbar ungeduldig
Margret Wintermantel, 24. November 2009
Und noch mehr Probleme
Die Bologna-Reform ist nicht das einzige Streitthema, das mit der Schieflage des deutschen Bildungssystems zusammenhängt. Im kommenden Wintersemester müssen sich die Hochschulen erneut auf eine sechsstellige Anzahl von Studienanfängern einstellen, und viele wissen noch nicht so genau, wo und wie sie die Nachwuchs-Akademiker unterbringen sollen. Die Kultusministerkonferenz, die Anfang des Jahres frühere Berechnungen korrigieren musste, geht derzeit davon aus, dass diese Entwicklung 2013 eine Art vorläufiges Allzeithoch erreicht.
Die Zahl der Schulabsolventinnen und Schulabsolventen mit Studienberechtigung (Hochschulreife und Fachhochschulreife) wird von bundesweit knapp 460 000 (2010) auf voraussichtlich fast 519 000 (2013) ansteigen und danach auf 466 000 (2014) bzw. nach einem Zwischenhoch von 480 000 (2016) auf 414 000 (2025) abnehmen.
Kultusministerkonferenz, 24. Januar 2012
Der AStA der Universität Trier, der prophylaktisch wieder eine "Couchbörse" organisiert hat, um "obdachlose" Studienanfänger vor dem frühen Verlust aller Illusionen zu schützen, ist kein Einzelfall. Doch mit spontanem Engagement wird dem Problem kaum beizukommen sein. Auch das mit Millionenbeträgen geförderte "Dialogorientierte Serviceverfahren", das als Internet-basierte Plattform die Studienplatzbewerbung und -zulassung für örtlich zulassungsbeschränkte Studiengänge koordinieren sollte, scheint nicht geeignet, die Situation zu entspannen. Nachdem zum ursprünglich anvisierten Projektbeginn auf www.hochschulstart.de schlicht gar nichts passierte, sind nun 22 Hochschulen mit dem System verbunden. In Deutschland gibt es allerdings 421.
Das bislang weitgehend ignorierte Serviceverfahren markiert übrigens eines der wenigen Probleme im Bildungsbereich, denen nicht ohne weiteres mit Geld beizukommen ist. Ansonsten wäre mit einer weiteren Aufstockung des Hochschulpakts, etwa um die von Hippler geforderten "sieben Milliarden Euro in den nächsten Jahren" schon einiges zu machen. Und dann müsste das Hochschulsystem endlich deutlich flexibler werden, und zwar nicht für die Wirtschaft ...