Neuer Autoritarismus: Exempel Tunesien

Seite 2: Regierungsislamisten bezahlen die Zeche ihrer zehnjährigen Bilanz

Jedenfalls positionierte man sich seitens dieser verschiedenen Akteure zunächst vorwiegend gegen die bisherige Regierungskoalition und vor allem gegen die Formation En-Nahdha, die zwischen ihren ziemlich unterschiedlichen Mitgliedern eine Scharnierfunktion einnimmt.

Ursächlich dafür ist vor allem ihre Abnutzung in der so genannten Regierungsverantwortung, für deren enttäuschende Ergebnisse sie weitgehend verantwortlich gemacht wird.

En-Nahdha gehörte allen Regierungsbündnisse seit der ersten freien Wahl in Tunesien vom Oktober 2011 an, stellte von Ende 2011 bis zur nächsten darauf folgenden Wahl im Herbst 2014 den Premierminister und gehörte danach den späteren Kabinetten an, auch ohne den Regierungschef zu ernennen.

Vor allem aber wird ihr das notorische Versagen der Regierungen, die sich ab 2011 abwechselten, bei der Lösung der drängendsten sozialen und ökonomischen Probleme vorgeworfen. Diese verschlimmerten sich von 2011 bis 2019 graduell, seitdem jedoch sprunghaft. Zunächst wurde Tunesien durch viele Investoren, die Umbrüche, Revolutionen gar – wenn man die erfolgreichen Massenproteste gegen die Ben Ali-Diktatur im Winter 2010/11 als solche analysieren möchte – als Stabilitätsgefährdung und "Unordnung" betrachtet, abgestraft.

Diese verlagerten Kapital eher in das als Hort der Stabilität geltende Marokko, wo die wahre Macht beim Monarchen und dem Sicherheitsapparat gilt und die Arbeitsruhe erheblich weniger als in Tunesien durch die Welle der Umbrüche zu Anfang des vorigen Jahrzehnts beeinträchtigt wurde. (Auch in Marokko kam es 2011, erneut 2016/17 zu mehr oder minder starken Protesten, jedoch wurde zu keinem Zeitpunkt politisches Führungspersonal aus dem Amt gejagt.)

Zugleich versäumte es das Regierungspersonal in Tunesien gänzlich, über einen etwaigen Umbau des Wirtschaftsmodells nachzudenken, etwa einen Abschied von der starken Abhängigkeit von Europa in den wichtigsten Industrie- und Dienstleistungszweigen: Tourismus, Automobilzulieferer und Textilindustrie.

Den Tourismus brachte die Corona-Krise ab Frühjahr 2020 zum Erliegen, womit eine weitere Zuspitzung und wirtschaftliche Katastrophe vorprogrammiert war. Auch wenn Tunesien schon ab dem 27. Juni 2020 seine Grenzen aus Rücksicht auf die völlig überdimensionierte Hotelindustrie wieder offen hielt, womit das Land sich auf Dauer jedoch eine zusätzliche Verschärfung der Pandemielage einhandelte.

Diese führte im Sommer 2021 zum weitgehenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems, einer völligen Überlastung der Krankenhäuser, einem akuten Mangel an Sauerstoffflaschen für Beatmungsgeräte und der höchsten Sterberate auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Auch derzeit herrscht im Kontext der Ausbreitung der Omikron-Virusvariante wieder Alarmzustand in Tunesien, und vor Kurzem wurde deswegen eine Ausgangssperre angekündigt.

Dieses Ausmaß der Gesundheitskatastrophe bildete sicherlich den unmittelbaren Auslöser für die nun ebenfalls akute politische Krise. Ihre tieferen Ursachen wurden jedoch längst zuvor angelegt.

Gleichzeitig bilden die Ereignisse in Tunesien, nach dem Putsch in Ägypten gegen die kurzlebige Muslimbrüder-Regierung 2013 sowie der Niederlage des mit Islamisten zusammen regierenden sudanesischen Diktators Omar el-Baschir gegen Massenproteste im Sudan 2019, einen weiteren Tiefpunkt für die Parteien des politischen Islam in Nordafrika.

Ihnen blieb in den Regierungsetagen der Region zunächst nur noch der Premierminister aus den Reihen der islamistischen Partei PJD ("Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") in Marokko – und auch diese verlor im September 2021 krachend die dortigen Parlamentswahlen.

Bei En-Nahdha brachen unterdessen, als Antwort auf den erlittenen Rückschlag, eifrig die Flügelkämpfe aus, die etwa auf die Führungssitzung vom 04. August '21 durchschlugen. Diese paralysierten die islamistisch inspirierte Partei zunächst zusätzlich.

Januar 2011 – Januar 2022

Einige Monate später nun: Wie hat sich die Situation entwickelt? Innenpolitisch hat sich bislang nicht viel entwickelt. Zwar wurde eine neue Regierungschefin ernannt – siehe oben –, doch nach wie vor zieht der Staatspräsident alle wichtigen Fäden.

Und auch weiterhin will Saïed mit Sondervollmachten per Dekret regieren. Seit Mitte Dezember vorigen Jahres sind nun Neuwahlen zum Parlament für Ende 2022 in Aussicht gestellt worden. De facto wird das Abgeordnetenhaus also, bis dahin, anderthalb Jahre lang entmachtet gewesen sein.

Nun wurde in diesem Kontext der Jahrestag der "Revolution", die jedenfalls zumindest keine vollendete war, begangen. Mehrere Demonstrationen sollten aus diesem Anlass stattfinden, wurden jedoch, wie eingangs geschildert, mittels eines massiven Polizeiaufgebots verhindert.

Seit Längerem kündigte die linksgerichtete "Werktätigenpartei" (Parti des travailleurs, le PT) unter Hamma Hammami – die breiter angelegte Nachfolgeorganisation der früheren maoistischen und pro-albanischen Oppositionspartei "Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens" (PCOT, Parti Communiste Ouvrier Tunisien) -, die im vorigen Jahrzehnt eine Hauptkraft des mittlerweile restlos gescheiterten Linksbündnisses Front populaire bildete, für dieses Datum Protest an. Dieser richtet sich gegen die erwähnte Konzentration der staatlichen Machtbefugnisse in den Händen von Staatspräsident Kaïs Saïed.

Der PT hatte bereits ab Ende Juli 21 zu den schärfsten Kritikern der neuen Ausrichtung der Staatsspitze nach dem Eingreifen von Präsident Saïed und seinem "institutionellen Putsch" gezählt, während andere Oppositionsparteien sich zunächst stärker abwartend zeigten.

Am 14. Januar versuchte dann auch die sozialdemokratische Partei "Forum für Arbeit und Freiheitsrechte" Ettakatol (diese gehörte von 2011 bis 2014 der Übergangsregierung an; im Jahr 2020 ging der vorübergehende, glücklose Premierminister Fakhfakh aus ihren Reihen hervor, trat jedoch vor Antritt seines Regierungsamt aus der Partei aus) auf die Straße zu gehen.

Aber einige Tage vor dem Jahrestag forderte nun auch die stärkste Partei im faktisch aufgelösten Parlament, die islamistische Formation En-Nahdha ("Renaissance"), zum Protestieren auf. Seit 2011 war sie an allen aus dem Parlament hervorgegangenen Regierungen bis im vergangenen Sommer beteiligt. Völlig sicher bei ihrer Sache schien sie sich jedoch nicht zu sein. Rief En-Nahdha doch offiziell nur dazu auf, sich einem von ihr als breit und überparteilich dargestellten Bürgerprotest anzuschließen.

Zugleich legte die Partei die Uhrzeit des Demonstrationsbeginns jedoch so, dass diese mit dem Gebetsende in den Moscheen zusammenfällt. Erstmals seit dem Beginn der Übergangsperiode 2011 stützte sie sich dergestalt in erster Linie auf den härteren Kern ihrer ideologisch ausgerichteten Basis., statt sich darum zu bemühen, für breite Schichten wählbar zu erscheinen. Ihre Protestversuche fanden räumlich (und inhaltlich) getrennt von denen der politischen Linken statt.

Im zurückliegenden Hochsommer 2021 musste die Partei, deren Führungsinstanzen – wie dargelegt – damals bezüglich der einzuschlagenden Strategie erheblich gespalten waren, zunächst auf Protestmobilisierungen auf der Straße verzichten; erste Versuche dazu waren mangels Masse gescheitert.

In relevanten Kreisen der Gesellschaft machte man damals in erster Linie En-Nahdha für das Scheitern der in den politischen Transformationsprozess seit 2011 gesetzten Hoffnungen verantwortlich, aufgrund ihrer ununterbrochenen Beteiligung an der Exekutive.