Neuwahlen in Istanbul: Erdogans größter Fehler

Ekrem Imamoglu bei einer Wahlkampfveranstaltung am 7. Mai. Bild: ekremimamoglu.com

Der abgesetzte Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu wird zur Galionsfigur für die Opposition

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Am Montagabend, nur wenige Stunden, nachdem die Wahlbehörde YSK in Ankara auf Druck der Regierungspartei AKP die Bürgermeisterwahl in Istanbul für ungültig erklärt und Neuwahlen für den 23. Juni angesetzt hatte, gingen Tausende in der Stadt am Bosporus auf die Straßen. Sie riefen "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit" und schlugen auf Töpfe und Pfannen. Bis tief in die Nacht schepperte es laut in den Straßen der Innenstadt. Es war der Klang der Gezi-Proteste, die Erdogan im Sommer 2013 von der Polizei niederschlagen ließ. Und es war ein deutliches Signal: "Wir sind noch da!" verkündeten die überwiegend jungen Demonstrantinnen und Demonstranten.

Die Annullierung der Wahl in Istanbul könnte Erdogans bislang größter und fatalster Fehler sein. "Mit dieser Entscheidung hat sich Erdogan selbst in den Kopf geschossen, er weiß es nur noch nicht", zitiert die taz einen türkischen Kolumnisten. Und er könnte richtig liegen - es kommt nun ganz drauf an, wie weit Erdogan zu gehen bereit ist, um die Macht nicht zu verlieren.

Wahlen sind unter Erdogans Herrschaft nichts als ein Feigenblatt

Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass Erdogan deutlich seine Verachtung für demokratische Prozesse demonstriert. Im Sommer 2015 verlor seine AKP die absolute Mehrheit im Parlament, weil die kleine linksliberale HDP, die zum ersten Mal antrat, deutlich besser abschnitt als erwartet. Mit der damals schon angepeilten Verfassungsreform und dem Umbau des Staates zum Präsidialsystem wäre es eng geworden - daher blockierte Erdogan die Koalitionsverhandlungen, polarisierte das Land, indem er die Friedensgespräche mit der PKK ab- und einen Krieg im Südosten des Landes vom Zaun brach. Bei den Neuwahlen wenige Monate später kam dann ein Ergebnis heraus, das wieder in seinem Sinne war.

Beim Verfassungsreferendum im Jahr 2017 ließ die Wahlbehörde, ebenfalls auf Druck der AKP, ungestempelte Wahlzettel für die Auszählung zu und öffnete damit der Manipulation Tür und Tor; bei den Präsidentschaftswahlen 2018 wurde Erdogan noch vor dem offiziellen Ende der Auszählungen zum Sieger gekürt; im kurdisch geprägten türkischen Südosten wurden zahlreiche gewählte Bürgermeister aus ihren Ämtern entfernt und durch AKP-Zwangsverwalter ersetzt.

Die Stoßrichtung ist also schon lange klar: Wahlen sind unter Erdogans Herrschaft nichts als ein Feigenblatt. Eine Inszenierung, um sich vor der Weltöffentlichkeit einen demokratischen Anstrich zu geben. Wahlen, bei denen ein für Erdogan unvorteilhaftes Ergebnis herauskommt, werden auf die eine oder andere Art rückgängig gemacht - mal ganz davon abgesehen, dass zehntausende Oppositionelle, darunter auch 150 Journalisten, in Haft, und Hunderttausende aus politischen Gründen angeklagt sind in einem Land, in dem keine Gewaltenteilung mehr existiert.

Die Niederlage des AKP-Kandidaten Binali Yildirim bei der Kommunalwahl Ende März war knapp. CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu gewann mit nur 14.000 Stimmen Vorsprung. Zu sicher hatte sich Erdogan gewähnt, obwohl Yildirim einen betont lustlosen Wahlkampf abzog und Unruhe und Unzufriedenheit in der Bevölkerung angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage sichtlich zunahmen.

Genau dieser Effekt verstärkt sich nun noch. Seit Montag ist die türkische Währung erneut deutlich abgestürzt. Ausländische Unternehmen und Banken agieren noch zurückhaltender als ohnehin schon, weil die fragile und unberechenbare Lage in der Türkei sie verunsichert. Dabei braucht Erdogan dringend frisches Geld, um die auf Pump finanzierte Wirtschaft vor dem Absaufen zu retten. Und je schlechter es der Wirtschaft geht, desto weiter sinken die Aussichten der AKP, die Neuwahlen für sich zu entscheiden - während die Opposition zu neuer Höchstform aufläuft.

Ekrem Imamoglu ging erneut auf Erdogans Angriffe nicht ein, ließ ihn mit seinen permanenten Provokationen auflaufen und gibt sich kämpferisch und zuversichtlich. "Alles wird gut" lautet sein simpler Slogan für den 23. Juni, und schon jetzt führt er die Twitter-Trends in der Türkei an. Imamoglu will nun ein breites Oppositionsbündnis schmieden. Die anderen Parteien haben bereits signalisiert, dass sie zugunsten der CHP keine eigenen Kandidaten für die Neuwahl aufstellen werden. Er sei nicht der Kandidat der CHP, sondern "ein Kandidat für alle 16 Millionen Istanbuler", sagte Imamoglu.

Am Mittwoch landete die CHP den nächsten Coup, indem sie ihrerseits bei der YSK beantragte, die Präsidentschaftswahlen von 2018 für ungültig zu erklären - und zwar mit denselben Argumenten, mit denen die AKP am vergangenen Montag die Istanbuler Wahlen für ungültig erklären ließ. Der CHP dürfte klar sein, dass der Antrag kaum von Erfolg gekrönt sein wird. Es geht um die Öffentlichkeitswirkung. Es geht darum, die AKP mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Man kann bereits den Eindruck gewinnen, dass Imamoglu der aussichtsreichere Kandidat gewesen wäre, hätte die CHP ihn im Vorjahr gegen Erdogan ins Rennen geschickt.

In der AKP beginnt es zu brodeln

Und nun brodelt es auch in den eigenen Reihen immer vernehmlicher. Die Unzufriedenheit über die Entscheidung der Neuwahlen ist groß innerhalb der AKP - und es sind längst nicht nur Hinterbänkler, die Kritik äußern, sondern auch Ex-Präsident Abdullah Gül und Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Erdogan ist in letzter Zeit ziemlich erfolgreich darin, sich ehemalige Verbündete zu Feinden zu machen. Schon länger gibt es Gerüchte, dass die Abweichler eine neue Partei gründen wollen. Für den 23. Juni kommen solche Ambitionen allerdings zu spät - es können nur Parteien und Kandidaten antreten, die auch bei der ersten Runde schon zur Wahl standen.

Erdogan setzt dabei auf Timing und Symbolik - und könnte sich dennoch verkalkulieren. Dass die Annullierung der Wahl zum Beginn des Ramadan verkündet wurde. ist sicher ebenso wenig ein Zufall, wie dass der in Isolationshaft gehaltene PKK-Chef Abdullah Öcalan am selben Tag erstmals seit Jahren mit seinen Anwälten sprechen durfte. Seit Monaten protestieren Öcalan-Anhänger mit einem Hungerstreik gegen dessen Haftbedingungen. Wahrscheinlich hofft Erdogan auf Sympathiepunkte bei den Kurden, wenn er die Zügel ein wenig lockert, während er damit zugleich einen Keil zwischen die prokurdische HDP und die nationalistischen Teile der Opposition zu treiben versucht.

Auch der Wahltermin ist keineswegs willkürlich gewählt. Er fällt in die Ferien zum Ende des Ramadan. In dieser Zeit sind in der Regel weite Teile von Istanbul wie ausgestorben, weil die Bürger Urlaub im Ausland machen oder Verwandte in anderen Landesteilen besuchen. Die Rechnung: Wenn viele der wohlhabenden Oppositionswähler im Urlaub und viele der eher der AKP zugeneigten ärmeren Bürger vor Ort sind, könnte es doch klappen mit dem "richtigen" Wahlergebnis.

Doch die CHP mobilisiert bereits jetzt und ruft ihre Anhänger dazu auf, den Urlaub zu verschieben und möglichst vollzählig an die Urnen zu gehen. Zugleich hofft die AKP darauf, die knapp 1,7 Millionen Istanbuler, die Ende März ihre Stimmen nicht abgegeben haben, diesmal an die Urnen zu locken. Ob diese dann aber auch für die AKP stimmen werden oder ihr Kreuz aus Frust nun erst recht bei der CHP machen werden, ist freilich offen.

Weiteren Ärger für die AKP hat Ekrem Imamoglu bereits angekündigt. Offenbar konnte die Opposition in den letzten Wochen, in denen sie zahlreiche Rathäuser übernahm, Einblick in die Papiere der letzten Jahre nehmen. "In den kommenden Tagen werden wir offenlegen, was bestimmte Personen getan haben", sagte er vieldeutig. Möglich, dass das ganze Korruptionsnetz des Erdogan-Clans bald öffentlich wird und sich die Puzzlestücke, die schon seit 2013 publik wurden, sich zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen.

Wie man es dreht und wendet - die Möglichkeiten der AKP, die Neuwahl ohne Manipulationen zu gewinnen, tendieren gegen null. Die wichtigsten Argumente fasst der Journalist Bülent Mumay so zusammen: Zum einen wird es Erdogan nicht gelingen, die Wirtschaft zu stabilisieren; sein Kandidat Binali Yildirum hat sichtlich keine Lust, erneut auf Wahlkampftour zu gehen; Ekrem Imamoglu ist gerade zum Shootingstar der türkischen Politik geworden, darüber hinaus jagt er Erdogan sein Alleinstellungsmerkmal ab, indem er seine Religiosität hervorhebt und auch bei Konservativen populär ist; die Oppositionsparteien einschließlich der HDP versammeln sich hinter Imamoglu als gemeinsamem Kandidaten.

Verlieren kann Erdogan aber auch nicht. Istanbul ist das Zentrum seiner politischen und wirtschaftlichen Macht. Und nachdem er die Stadt in den letzten Jahren auch baulich massiv umgestaltet und den symbolträchtigen Taksim-Platz für sich vereinnahmt hat, wäre der Verlust Istanbuls ein Fanal für die Schwäche eines auf dem Papier allmächtigen Präsidenten.

Mit einer offensichtlichen Manipulation der Abstimmung riskiert er aber, wovor er sich mehr als vor allem anderen fürchtet: Einen zweiten Gezi-Aufstand. Schon die Proteste vom Sommer 2013 haben ordentlich an seinem Stuhl gerüttelt. Sollte es erneut zu solch einer Massenbewegung kommen, die sich abermals internationaler Sympathien sicher sein dürfte, hätte Erdogan nur noch die Wahl zwischen Rücktritt oder dem Einsatz militärischer Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. So gefährlich wie jetzt war die Lage in der Türkei zu keinem Zeitpunkt in den letzten dreißig Jahren.

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