Newcomer und innovative Musiker werden es noch schwerer haben

Interview mit Professor Peter Wicke, Musikwissenschaftler am Forschungszentrum für populäre Musik der Humboldt-Universität Berlin, zum Thema Musik und Internet

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Peter Wicke, Professor für Theorie und Geschichte der populären Musik und Direktor des Forschungszentrums populäre Musik am Seminar für Musikwissenschaft der Humboldt-Universität sowie Adjunct Research Professor am Department of Music der Carleton University Ottawa, ist skeptisch. Entgegen dem Mythos, dass Musiker über das Internet einfacher und billiger ihr Publikum selbst erreichen könnten, fördert das Internet möglicherweise eher die Macht der großen Konzerne, weil es um so schwerer wird, die Menschen noch in der Flut der Angebote zu erreichen. "Das Problem, im grenzenlosen Rauschen der Informationsflut auch nur wahrgenommen zu werden, ist mit dem Internet nicht kleiner, sondern um ein Vielfaches größer, seine Lösung entsprechend teurer geworden", meint Wicke im Gespräch mit Thorsten Eßer.

Herr Wicke, wie wirkt sich Ihrer Meinung nach das Internet auf die Arbeit von Musikern und Komponisten aus, wenn man solche Möglichkeiten wie virtuelle Studios in Betracht zieht?

Peter Wicke: Der wohl wichtigste Aspekt ist der potentiell unvermittelte Zugang zum Hörer - sofern man als Musiker einen solchen hat - über das Internet als Präsentationsplattform. Ansonsten sehe ich kaum Änderungen mit Auswirkungen auf eine professionelle Produktionsumgebung.

Welche Folgen werden Internet und MP3 für die Musikindustrie haben? Werden zum Beispiel die Indies stärker und unabhängiger und die Majors schwächer?

Peter Wicke: Die Folgen werden gravierend sein, auch wenn sie an dem Machtgefälle zwischen Majors und Indies nichts ändern, es eher noch vergrößern. Eine effiziente Nutzung des Internet für den Online-Vertrieb von Musik und als Marketing-Plattform verlangt gewaltige Investitionen. Mittelfristig wird sich der Schwerpunkt auf den Online-Vertrieb und auf das kommerzielle Download (Music on Demand) verschieben. Die Konsequenzen sind an 'CDNow' und 'Get Music' bereits ablesbar, joint ventures der Majors für den Online-Vertrieb, weil sich die Investitionskosten für ein Unternehmen allein nicht mehr rechnen. Mit anderen Worten - weiter fortschreitende Konzentrationsprozesse innerhalb der Industrie, die nicht nur die Musikproduktion, sondern auch die Internet-Technologie, Netzwerk-Betreiber etc. umfassen.

Die gravierendsten Konsequenzen werden freilich dort in Erscheinung treten, wo sie in der Öffentlichkeit - folgt man den Erwartungen, die mir ein Stück weit auch Ihren Fragen zugrunde zu liegen scheinen - am wenigsten erwartet werden. Der Tonträger basiert auf einer Paketstrategie, in der die erfolgreichsten Produktionen die weniger erfolgreichen, die innovativen und ungewohnten, mitfinanziert haben. Je stärker der Musikprozess durch das Internet auf die Hits konzentriert, mit Music on Demand sogar darauf reduziert wird, desto schmaler wird die wirtschaftliche Basis, auf der sich der Musikprozess abspielt. Anders formuliert: Newcomer und innovative Musiker werden es noch schwerer haben. Potentiell können sie nun zwar auch ohne Vermittlung der Industrie jeden Hörer erreichen, real aber sinken die Chancen dafür trotz Internet, weil die Konkurrenz um das geneigte Ohr, bzw. den Geldbeutel dieser Hörer deutlich schärfer wird und die Majors ihre ja nicht eben geringen Ressourcen noch stärker fokussieren müssen.

Werden somit Musiker ihre Produkte demnächst selber produzieren, bewerben und verkaufen?

Peter Wicke: Das können sie im Prinzip auch ohne Internet, und haben das ja auch, von Zeit zu Zeit sogar mit Erfolg getan. Das Problem bleibt die Effizienz dieser Prozesse, das darin involvierte professionelle - und damit teure - Knowhow, die Logistik etc. Es ist ein zwar nachvollziehbarer Mythos, aber dennoch eben ein Mythos, dass das Internet an den Gegebenheiten des kommerziellen Prozesses etwas ändern würde. Zwischen einer professionell gestalteten Webseite eines Medien-Unternehmens und einer Musiker-Homepage klaffen Welten, eine Marketing- und Promotionkampagne im Internet, wenn sie denn etwas bringen soll, ist aufwendiger und teurer als die herkömmliche Form.

Wird die Qualität der Musik generell abnehmen, weil nun jeder Möchtegernkomponist seine Werke global verbreiten kann?

Peter Wicke: So wenig ein Musiker seine Werke global verbreiten konnte, nur weil die Post jeden Winkel der Welt erreicht, so wenig kann er das, nur weil die Leute Internetzugänge haben. Das Problem, im grenzenlosen Rauschen der Informationsflut auch nur wahrgenommen zu werden, ist mit dem Internet nicht kleiner, sondern um ein Vielfaches größer, seine Lösung entsprechend teurer geworden. Es ist eine reine Illusion, die Verbreitung von Musik auf die Frage zu reduzieren, wie ein Stück Musik von A nach B zu transportieren ist. Die Frage ist doch vielmehr, warum denn jemand wollen sollte, dass das Stück Musik überhaupt von A nach B transportiert wird.

Gibt es eine Globalisierung von Kultur und Musik und welchen Anteil hat das Internet daran?

Peter Wicke: Eine Globalisierung von Musik und Kultur gibt es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, seit mit Ragtime und Cakewalk die erste große Welle amerikanischer Musik über Europa und große Teile der Kolonialreiche in der Dritten Welt schwappte, nicht zu reden von Hollywood in den zwanziger und dreißiger Jahren, der Tango- und Charleston-Mode, Rock'n'Roll etc. Technologien wie das Internet spiegeln solche Prozesse, sind aber weder deren Ursache, noch nicht einmal Katalysatoren oder Beschleuniger. Im Übrigen ist diese Frage so oder ähnlich schon mit Bezug auf die Schallplatte, das Radio und das Fernsehen gestellt und diskutiert worden.

Wird sich das Erlernen von Musik und Instrumenten durch das Internet verändern?

Peter Wicke: Nein, das Internet transportiert allenfalls Materialien und Hilfestellungen für das Erlernen von Musik und Musikinstrumenten, aber diese Materialien selbst sind im Prinzip vom Internet unabhängig und auch so in Umlauf.

Wie wirkt sich das Internet auf die Arbeit von Musikwissenschaftlern aus? Ihre Arbeit konkret?

Peter Wicke: Als Publikationsplattform ist das Internet flexiber, schneller und billiger als die herkömmliche Drucktechnik und als Medium des Informationsaustausches innerhalb begrenzter und relativ stabiler sozialer Einheiten wie die der wissenschaftlichen Community bestens geeignet. Man schaue sich nur unsere Webseite an.