Nicht Normal
Vor genau fünf Jahren sind die letzten israelischen Soldaten aus dem Südlibanon abgezogen
19 Jahre lang hatte Israel eine 15 Kilometer breite Sicherheitszone im Süden Libanons besetzt gehalten – das Ergebnis einer Militäroperation, mit der der damalige Verteidigungsminister Ariel Scharon die Etablierung eines pro-israelischen Regimes in Beirut hatte herbeiführen wollen. Die Aktion ging schnell schief: Aus dem kurzzeitigen Einmarsch wurde eine jahrelange Besatzung, deren Folgen auch heute, genau fünf Jahre nach dem Abzug der letzten Soldaten noch spürbar sind: Die Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila sind in Israel auch heute noch ein Trauma; die Stimmung an der Nordgrenze ist zudem im besten Fall gespannt – auf der anderen Seite regiert nach wie vor die Hisbollah, die durch die Besatzung erst stark wurde; die offiziellen libanesischen Sicherheitsorgane hingegen haben in der ehemaligen Sicherheitszone bis heute wenig zu sagen.
Von ihrem Balkon im fünften Stock eines Hochhauses im israelischen Kiryat Schmonah aus können die Alsbergs weit über den Grenzzaun und die Stellungen der UN-Friedenstruppen ins libanesische Nachbarland blicken. "Angst", sagt Miriam Alsberg, "Angst habe ich nicht." Ihr Ehemann Jonathan fügt hinzu: "Hier ist schon seit Monaten nichts mehr passiert."
In der vergangenen Woche kamen zwar zwei Soldaten ums Leben, als die Hisbollah einen Überraschungsangriff auf die israelisch besetzten Scheba-Farmen startete, die obschon von Libanon beansprucht, nach einem Urteil der Vereinten Nationen zu Syrien gehören. Aber das sei, betont Miriam Alsberg, weit weg gewesen: "Da oben wohnen ja noch nicht mal Menschen." Sie ist sicher: "In unserer Gegend wird nichts mehr passieren; der Grenzverlauf ist hier ja unstrittig." In der Tat ist sich das Militär beim bislang letzten Zwischenfall in der Nähe einer israelischen Stadt noch nicht einmal sicher, ob es wirklich einer war: Einwohner der nur 20 Kilometer von der Grenze entfernten Küstenstadt Nahariya wollen eine Drone der Hisbollah am Himmel gesichtet haben; Beweise gibt es dafür nicht.
Scharons Libanon-Feldzug
So ruhig wie im Moment war es nicht immer: Noch Mitte der 90er Jahre waren die nach wie vor wenig besiedelten idyllischen Hügel im Norden Israels Krisengebiet. Nahezu wöchentlich waren die wenigen Städte und Gemeinden nahezu wöchentlich das Ziel von Katjuscha-Raketen, während jenseits der Grenze israelische Wehrdienstleistende den Guerilla-Taktiken der Hisbollah zum Opfer fielen.
19 Jahre lang hatte Israel einen bis zu 15 Kilometer langen Sicherheitsstreifen besetzt gehalten – das Ergebnis einer Militäroperation, die 1982 vom damaligen Verteidigungsminister und heutigen Regierungschef Ariel Scharon geplant wurde und die Ersetzung der libanesischen Regierung durch ein pro-israelisches Marionettenregime zum Ziel hatte: Der Libanon war damals Hauptstützpunkt der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO und damit Ausgangspunkt ständiger Angriffe auf israelisches Gebiet. Als 1981 der israelische Botschafter in London angeschossen und dabei schwer verletzt wurde, nutzte Scharon dies als Vorwand für den Libanon-Feldzug. Doch statt eines kurzzeitigen Vorstoßes in das libanesische Grenzland stellte die israelische Öffentlichkeit eines Morgens fest, dass israelische Truppen vor den Toren Beiruts standen – der Beginn einer monatelangen Belagerung, die den Abzug der palästinensischen Kämpfer in Richtung Tunesien zur Folge hatte:
Letzten Endes war die PLO so stark wie eh und je; von einer Zerschlagung konnte keine Rede sein.
Professor Jaaron Esrachi, Israel Democracy Institute
Sabra und Schatila
Stattdessen musste sich Israel auf Druck der eigenen Öffentlichkeit und der internationalen Gemeinschaft hin schon bald zurück ziehen, behielt aber eine Sicherheitszone. Die Folgen des Vorstoßes waren aber gravierend: 1982 verübten christliche Milizen unter den Augen der israelischen Armee die Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila; eine danach eingesetzte Untersuchungskommission befand später, Scharon habe davon gewusst und nichts getan, das Kriegsverbrechen zu verhindern. Der Politiker darf deshalb nicht mehr das Amt des Verteidigungsministers ausüben. Es waren Ereignisse wie dieses, begleitet von erschütternden Fernsehbildern, die zu Massenprotesten auch in Israel führten und der Friedensbewegung zu einer bis dahin unbekannten Stärke verhalfen:
In der Friedensbewegung waren plötzlich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten vereint; sie war nicht mehr die Domäne der Jugend.
Professor Esrachi
Kurz darauf gab außerdem Premierminister Menachem Begin, der erst kurz zuvor wieder gewählt worden war, seinen Rücktritt und völligen Rückzug aus dem öffentlichen Leben bekannt. Ob er von den Plänen Scharons gewusst hatte, ist bis heute unklar: Während Scharon bis heute behauptet, dies sei der Fall gewesen, widerspricht Beny Begin dem mit Nachdruck: "Mein Vater war kein Ungeheuer," sagte der Politiker in dieser Woche einmal mehr: "Er hat Zeit seines Lebens immer wieder betont, er sei getäuscht worden. In den letzten Wochen vor seinem Rücktritt war seine Enttäuschung für die gesamte Familie deutlich spürbar – er hatte das Gefühl, Scharon sei ihm in den Rücken gefallen."
Doch im Südlibanon waren zu jener Zeit längst Fakten geschaffen: Israel hielt fremdes Land besetzt und, anders als im Fall der palästinensischen Gebiete, die von der Rechten als Teil des Staates Israel betrachtet werden, versuchte keine der folgenden Regierungen eine Legitimität der israelischen Truppenpräsenz herbei zu reden. "Das wäre auch gar nicht möglich gewesen," sagt Esrachi:
Selbst die Begründung, die Sicherheitszone sorge für Sicherheit im israelischen Norden war immer fadenscheinig: Am Ende schlugen dort nahezu täglich Katjuscha-Raketen ein. Die Sicherheitszone selbst sorgte für Unsicherheit, weil sie der Hisbollah einen Grund für den Beschuss des israelischen Kernlandes gaben.
Die Schebaa-Farmen und die "Sieben Dörfer"
Dennoch schaffte erst Premierminister Ehud Barak den Absprung: 1997 hatte der Sozialdemokrat mit dem Versprechen eines totalen Truppenabzugs aus dem Libanon seinen Amtsvorgänger Benjamin Netanjahu, einen Hardliner, überzeugend geschlagen; im Juni 2000 kehrten die letzten Soldaten unter der massiven Kritik der israelischen Rechten zurück: Vor allem der konservative Likud-Block Scharons und Netanjahus warf Barak vor, der Abzug sei ein Einknicken vor dem Terror der Hisbollah, die es sich nicht nehmen ließ, ihren Kampf bis zum Ende weiter zu führen.
Kurz bestimmten Mitarbeiter der Vereinten Nationen den genauen Verlauf der internationalen Grenze zwischen beiden Staaten, und legten fest, dass die Schebaa-Farmen unterhalb der Golanhöhen einst syrisches Staatsgebiet waren. Dies hindert die Hisbollah allerdings nicht daran, weiterhin auf die Übergabe des fruchtbaren Landes an den Libanon zu bestehen und dies als Vorwand zu nehmen, um, so wie in der vergangenen Woche, von Zeit zu Zeit israelische Truppen in dem Gebiet unter Feuer zu nehmen. Der Angriff in der vergangenen Woche kam überraschend - aber nach Ansicht des Libanon-Experten Ascher Kaufman von der Hebräischen Universität in Jerusalem nicht unerwartet: "Die Hisbollah hatte vor den Parlamentswahlen im vergangenen Monat Wahlkampf mit der Aussage betrieben, dass nicht nur die Schebaa-Farmen, sondern auch die so genannten "Sieben Dörfer" zum Libanon gehören."
Diese mittlerweile nicht mehr existierenden Dörfer waren in den 20er Jahren von der für Libanon und Syrien zuständigen französischen an die für Palästina zuständige britische Mandatsmacht übergeben worden.
Diese Forderungen und der Angriff sollen der libanesischen Öffentlichkeit die Notwendigkeit einer Fortsetzung des bewaffneten Kampfes gegen Israel vor Augen führen.
Ascher Kaufman
Vor dem Hintergrund der Proteste gegen die syrische Truppenpräsenz im Zedernstaat sei auch zunehmend eine Entwaffnung der Hisbollah gefordert worden: "Der Angriff war auch eine Demonstration der Stärke gegenüber der libanesischen Staatsmacht."
Transformation der Hisbollah
Doch alles in allem hat sich mit der Zeit eine Situation gebildet, in der der Grenzverlauf von den Vereinten Nationen überwacht, Syrien die Kämpfer der Hisbollah mal mehr, mal weniger in Schach hält und Drittstaaten, wie die Bundesrepublik, Kommunikationswege zwischen allen Seiten eröffnen: "Alle drei Staaten sind zu der Ansicht gelangt, dass Frieden und Sicherheit in der Region im eigenen Interesse sind," sagt Neil Lochery, Nahostexperte am University College in London:
Die von Syrien forcierte Transformation der Hisbollah von einer Kampfgruppe zur politischen Partei spielt dabei eine wichtige Rolle: Als bewaffnete Untergrundbewegung war sie zu mächtig, um zerschlagen zu werden, und wurde deshalb mit der Zeit zur Bedrohung für die herrschenden Klassen in Beirut und Damaskus.
Dennoch täuscht die Ruhe an der israelisch-libanesischen Grenze: Die Zentralregierung in Beirut hat es noch immer nicht geschafft, in der ehemaligen Sicherheitszone ihre Rolle als Ordnungsmacht einzunehmen; stattdessen regieren die ehemaligen Kämpfer der Hisbollah, deren bewaffneter, vom Iran und von Syrien unterstützter Widerstand gegen die israelische Besatzung für bis heute anhaltenden Rückhalt in der Bevölkerung gesorgt hat. So stark war die islamistische Gruppe im Laufe der Jahre geworden, dass Beirut es nach wie vor nicht wagt, sich um die Vormacht in der Region zu bemühen, aus Angst, dass fragile Machtgebilde im Land zu zerstören.
Ein Mindestmass an Kontrolle übte hingegen Syrien aus, das bis vor wenigen Wochen noch größere Truppenkontingente im Libanon bereit hielt: "Damaskus gestattete der Hisbollah immer dann eine Ausweitung ihrer Aktivitäten, wenn es für die eigenen strategischen Ziele nützlich war," sagt Nahostexperte Lochery. Israel hält nach wie vor die Golanhöhen besetzt, die im Sechs Tage-Krieg 1967 von Syrien erobert und dann später unilateral von der Regierung in Jerusalem zu Israel annektiert worden waren.
Durch die Hisbollah-Aktivitäten an der israelisch-libanesischen Grenze hoffte Damaskus, die israelische Regierung zu Gesprächen zwingen zu können, ohne die direkte Konfrontation suchen zu müssen.
Neil Lochery
Doch mittlerweile musste Syrien seine Truppen nach Massenprotesten und internationalem Druck aus dem Libanon abziehen (vgl. Siedepunkt unbekannt). Die Analysten des israelischen Verteidigungsministeriums rätseln deshalb darüber, wie sich dies auf die Lage an der Nordgrenze auswirken wird: "Damaskus war im Libanon auch eine ausgleichende Kraft; wir befürchten, dass nun ein Vakuum im Süden des Landes entsteht, mit dem Beirut nicht alleine fertig werden kann," sagt ein Militärsprecher. Gerade deshalb wird jede Entwicklung entlang der Grenze von der internationalen Gemeinschaft mit Sorge beobachtet: So vermelden die UN immer wieder Luftraumverletzungen des israelischen Militärs, und verfolgen jeden neuen Schritt der Hisbollah. Die Lage sei sehr gespannt, sagt ein Mitarbeiter der UN-Friedenstruppen:
Jede Aktion könnte von der einen oder der anderen Seite als Provokation aufgefasst werden, die zu neuen Konfrontationen führen könnte.
Aber die Bevölkerung teilt die Befürchtungen der Sicherheitsexperten offenbar nicht: Die Ruhe im Norden Israels hat einen wirtschaftlichen Aufschwung dort verursacht, der Tausende von neuen Wohnungen erforderte. Und bald werden noch mehr gebraucht: Nach der Räumung der Gazasiedlungen wollen bis zu 3000 ehemalige Siedler hierher ziehen.