"Nicht alle russischen Bürger unterstützen diese Gesetzlosigkeit"
- "Nicht alle russischen Bürger unterstützen diese Gesetzlosigkeit"
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Ein russischer Friedensaktivist berichtet im Interview über die Situation in seinem Land. Er spricht über ein gedemütigtes Volk, wachsende Unzufriedenheit mit dem Krieg und eine Linke, die nach Orientierung sucht. Wie sähe westliche Solidarität aus?
Die Russen leiden seit langem unter Putins autoritärem, neoliberalem Regime mit starker Überwachung und harten Strafen für abweichende Meinungen. Am 21. September 2022 kündigte Putin eine Einberufung an, die 300.000 Zivilisten zum Militärdienst verpflichtet. Damit betrifft der Krieg in der Ukraine alle Russen, die unter die Wehrpflicht fallen oder jemanden kennen, bei dem das der Fall ist.
Wie alle anderen Übel des Kapitalismus trifft auch die Wehrpflicht am härtesten die Armen, die Arbeiterklasse und die Randgruppen, die wenig Geld oder Macht haben, um sich ihr zu entziehen.
Kommentatoren im Westen haben sich vielfältig darüber geäußert, was das für die Russen, Putin und die russische Linke bedeuten wird. Einige bezeichnen die Teilmobilmachung als den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen und eine Revolution und den Sturz Putins auslösen wird.
Andere sehen darin einen Schritt zur weiteren Festigung und Eskalation sowohl von Putins Macht als auch des russischen Rechtsnationalismus. Auch wenn niemand die Ergebnisse mit absoluter Sicherheit vorhersagen kann, ist es wichtig, dass die globale Linke nicht noch mehr nutzlose Meinungssilos aufbaut.
Stattdessen sollte man mit offenen Ohren und Augen die Solidarität mit der russischen Linken in den Vordergrund stellen, von ihren Erfahrungen lernen, ihren Kampf verstehen und ihre Selbstbestimmung unterstützen.
Ich habe zwischen Oktober und Dezember 2022 mehrere Interviews mit jungen Aktivisten in Russland geführt. Einer davon ist "Ivan". Der Name ist geändert worden. Die politischen Zugehörigkeiten wurden vage gehalten, um die Anonymität zu wahren. Der Befragte ist politisch engagiert und ist vor kurzem nach Kasachstan geflogen.
Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Online-Medium Znetwork. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Wie würden Sie Ihr politisches Engagement beschreiben? Warum haben Sie diesem Interview zugestimmt?
Ivan: Ich habe diesem Interview zugestimmt, weil ich nicht wegsehen kann von all dem Grauen, das in meinem Land geschieht, und von den Gräueltaten, die mein Land in einem Nachbarstaat verübt.
Wenn abweichende Meinungen mit Gefängnisstrafen und Verfolgung geahndet werden und die Menschen im Nachbarland sterben und unter den mit dem Krieg verbundenen Entbehrungen leiden, herrscht ein schrecklicher Mangel an Gerechtigkeit gegenüber den einfachen Menschen, die einfach nur überleben wollen, während eine Gruppe von Superreichen mühelos Dekrete unterzeichnet, die unsere Welt in Chaos, Tod und Hunger stürzen.
Ich möchte auch zeigen, dass nicht alle russischen Bürger diese Gesetzlosigkeit unterstützen, dass wir keine Tiere und keine Orks sind, sondern die gleichen Menschen wie in jedem anderen Land.
Ich trete für meine politischen und persönlichen Werte ein.
Was sollten die Menschen in aller Welt Ihrer Meinung nach verstehen in Hinsicht auf das, was heute in Russland vor sich geht? Was sind die Bedingungen, unter denen Sie und andere leben?
Ivan: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir mit den Ereignissen vor 30 Jahren beginnen, als die Sowjetunion zusammenbrach. Damals gab es Wahlen, womit entschieden werden sollte, ob die UdSSR erhalten werden oder zusammenbrechen sollte. Die überwältigende Mehrheit der Bürger stimmte für den Erhalt, aber die Stimme des Volkes wurde nicht gehört. Das Land wurde zerstört, man täuschte die Menschen.
Dann fand der Zusammenbruch statt. Man plünderte alles, was aufgebaut wurde. Die Fabriken mussten schließen, die Menschen hatten nichts mehr. Es wurden Gutscheine an die Menschen verteilt. Aber da man in einem sozialistischen System gelebt hatte, wusste niemand, was diese Scheine darstellten und wozu man sie brauchte. Also verkaufte man die Papierstücke für eine Flasche Wodka oder einen Laib Brot.
Die Menschen mussten lernen, in dem neuen kapitalistischen System zu überleben, über das sie nichts wussten. Sie kannten nur die übertriebene sowjetische Propaganda über die Schrecken des Kapitalismus. Das Ergebnis war die tiefste Depression eines gesamten Volkes, das ausgeraubt und gedemütigt wurde, während man den Menschen einerseits die frühere Größe Russlands und andererseits die Dummheit und Kriminalität der damaligen Machthaber einbläute.
Das Establishment erzählt uns seit 30 Jahren zudem von der Größe der russischen Armee und der russischen Waffen, da unser Volk heldenhaft Nazi-Deutschland besiegte. Man lässt aber weg, welcher Preis für diesen Sieg gezahlt werden musste. Und die früheren Slogans "Nie wieder" wurden zu "Wir können das wiederholen".
Nach der Stärkung des totalitären Regimes wurden Oppositionelle inhaftiert oder getötet, Andersdenkende wurden verfolgt. Die einfachen Menschen kamen zu dem Schluss, dass es zu ihrer eigenen Sicherheit notwendig sei, zu schweigen und sich aus der Politik herauszuhalten. Denn für eine klare Haltung konnte man entlassen werden, und in den Schulen wurden die Kinder schikaniert.
Gleichzeitig waren viele davon angewidert, aber aus Angst, dass es auch sie treffen könnte, spielten sie mit, um nicht aufzufallen. Außerdem wurde jede Wahl im Land gefälscht, und die Menschen lernten, dass die Eliten, egal wie man sich verhält, ihre Interessen durchsetzen.
Das Ergebnis davon ist eine Arbeiterklasse, die denkt, dass man irgendwie überleben wird, solange man nicht auffällt und sich einfach nur still verhält. Sie sagen sich: Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie es sein könnte. Unsere Vorfahren lebten unter noch schlimmeren Umständen. Geschäftsleute verfahren heute nach dem Prinzip, dass es besser ist, den Krieg zu unterstützen, um Geld zu verdienen, oder zumindest nicht den Mund aufzumachen und alles zu verlieren.
Viele Russen leben heute mit einem Widerspruch im Kopf: Krieg ist schlecht, aber die Entscheider in Politik und Wirtschaft werden schon wissen, was sie tun.