"Nicht alle russischen Bürger unterstützen diese Gesetzlosigkeit"

Seite 2: Das Vorgehen einiger baltischer Länder hat Empörung hervorgerufen

Beschreiben Sie den Zustand der linken Bewegung in Russland. Was hat sich im Laufe dieses Jahres verändert? Hat die Wehrpflicht signifikante Auswirkungen gehabt und wenn ja, inwiefern?

Ivan: Die linke Bewegung in Russland ist sehr schwach und zersplittert. Sie ist in Streitigkeiten zwischen Trotzki und Lenin verstrickt und nicht in Lösungen für soziale Probleme. Das liegt zum Teil an der Repression im Land. Solange sie sich nur untereinander streiten, werden sie nicht angefasst.

Außerdem ist die Dämonisierung der UdSSR sehr hinderlich. Die Menschen denken, wenn man links ist, will man zurück in die Sowjetunion. Und oft sind die Anhänger der linken Bewegung gebildet und belesen. Sie verstehen es nicht, den Menschen ihre Ideen in einfachen Worten ohne Jargon so zu vermitteln, dass sie verstanden werden. Viele Menschen haben linke Ansichten und fordern Sozialleistungen. Doch eher bezeichnen sie sich als "liberal" oder sonst etwas als sich als "links" einzuordnen.

Die Teilmobilisierung, die Wehrpflicht, beeinflusst die Meinung der Menschen stark. Solange alles in der Ferne geschah und die Menschen nicht betroffen waren, kümmerten sie sich nicht so sehr um den Krieg, denn alle Gedanken drehten sich darum, wie man bis zum nächsten Gehalt durchhalten und das Kind zur Schule bringen kann. Aber dann änderte sich die Situation derart, dass der Krieg fast jeden zu betreffen begann. Die Unzufriedenheit hat stark zugenommen, der Anteil der Menschen, die gegen den Krieg ist, wächst.

Die Situation ist vergleichbar mit dem Vietnamkrieg in den Vereinigten Staaten: Als alles gut lief, verhielten sich die Menschen ruhig. Als immer mehr Leichen und Krüppel zurückkehrten, wuchs die Unzufriedenheit.

Wie denken Sie heute über den Widerstand gegen Autoritarismus und Wehrpflicht? Was hat der Protest für Sie und andere in Ihrem Umfeld bedeutet?

Ivan: Die Behörden bekämpfen Widerstand mit allen Mitteln. Jeden Tag werden repressive Gesetze gegen Kritik an ihrem Vorgehen erlassen. Jetzt wächst eine andere, neue Form des Protests: eine Art Sabotage im Stillen. Die Menschen beteiligen sich nicht mehr, sie machen das, was von ihnen verlangt wird, nur noch sehr langsam und nicht effektiv, oder sogar absichtlich schlecht.

Sie erscheinen nicht mehr auf den offiziellen Listen. Sie verstecken sich, halten ihre Freunde und Verwandten davon ab, sich bei den Einberufungsämtern zu melden, wechseln Häuser und Wohnungen, ziehen sich zurück auf Datschen und in Dörfer oder verstecken sich in Wäldern. Diejenigen, die die Möglichkeit haben, gehen ins Ausland.

Für mich besteht der Widerstand darin, so viele Menschen wie möglich davon abzuhalten, zum Wehrersatzamt zu gehen, sie davon zu überzeugen, das Land zu verlassen, und den Menschen, die den Krieg unterstützen, zu erklären, dass sie sich irren, dass es für sie nicht gut ausgehen wird, dass es keinen persönlichen Nutzen aus dem Konflikt gibt, sondern nur Verlust.

Wächst die Zahl und das Engagement linker, gemeinwohlorientierter Organisationen in Russland?

Ivan: Die russische Linke versucht stärker zusammenzuarbeiten. Es ist ein langsam voran schreitender Prozess. Linke tendieren dazu, untereinander zu streiten. Sie erhalten keine große Unterstützung aus der Bevölkerung, da sie nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen. Es gibt Organisationen, die versuchen, den Menschen zu helfen und Gewerkschaften zu gründen, aber sie versuchen, nicht als links angesehen zu werden.

Hat sich die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber dem Krieg, Putin und dem herrschenden Establishment im Laufe dieses Jahres verändert? Was passierte seit der Ankündigung der Teilmobilisierung? Welche Gespräche finden zwischen denen statt, die die offiziellen Narrative und Institutionen in Frage stellen?

Ivan: Nach der Ankündigung der Teilmobilisierung (Wehrpflicht) stieg die Zahl derjenigen, die mit Putin und dem Krieg unzufrieden sind. Der Krieg fing an, fast jeden zu betreffen. Dennoch ist die Unterstützung für Putin groß, da er den Eindruck erweckt hat, dass niemand außer ihm das Land regieren kann. Seine Konkurrenten erschienen bei den Wahlen schwach und agierten manchmal wie Clowns.

In unserem Land wird gesagt, dass die Leute Putin nicht mögen, aber wer, wenn nicht er, soll es machen, heißt es – es könnten noch schlimmere Politiker an die Macht kommen. Sie sagen, dass Putin zwar ein Dieb und Schurke sei, aber zumindest nachvollziehbar handele. Bei ihm wisse man, was man hat.

Viele Menschen sind nun von der russischen Armee enttäuscht, weil es an den Fronten zu Rückschlägen gekommen ist und die Erfolge ausblieben. Offiziell sagte man anfangs, dass die Ukraine in ein paar Wochen eingenommen sein würde. Man versprach, dass es keine Mobilisierung geben würde.

Gleichzeitig glauben viele Russen fest daran, dass die Nato Russland angegriffen hätte, wenn wir nicht in die Ukraine einmarschiert wären. So hat man uns in den letzten 30 Jahren immer wieder mitgeteilt, dass die Nato Russland angreifen werde.

Diejenigen, die wenig fernsehen und kritisch analysieren, verstehen sehr gut, dass das alles nicht stimmt. Sie sprechen über die Schrecken, die sich ereignen, und sie schämen sich sehr für das, was unser Land anstellt. Andere Russen leben mit einem Widerspruch. Sie sagen: Einerseits ist der Krieg schlecht, andererseits sei er notwendig gewesen, um sich gegen die Nato zu verteidigen. Die russische Führung mache zudem alles richtig.

Wie werden die Aktionen des Westens von Ihnen und anderen Russen wahrgenommen?

Ivan: Das Vorgehen einiger baltischer Länder hat Empörung ausgelöst. Menschen, die nicht kämpfen wollten, wurde verwehrt, ins Ausland einzureisen. Manche wurden sogar an die russischen Behörden ausgeliefert. Viele vom Westen verhängte Sanktionen treffen letztlich die normalen Menschen, die wenig haben. Medikamente sind teurer geworden oder ganz verschwunden, viele lebenswichtige Produkte sind vom Markt verschwunden.

Diejenigen in den Staatsorganen haben hingegen nicht viel gelitten. Sie haben eine Menge Geld gestohlen und können es sich leisten, sanktionierte Waren über andere Kanäle zu erhalten. Sicher sind die Produkte teurer, aber sie haben weiter Zugang dazu.

Sogar in Kasachstan sind die Folgen der Sanktionen sichtbar, da viele Waren durch Russland transportiert wurden, aber der Handel jetzt nur noch mit China stattfindet. Ein weiteres Problem der Sanktionen ist, dass sie auf den Schultern der einfachen Bürger lasten, da die Preise steigen und die Löhne sinken.

Was würde für Sie Solidarität sowohl innerhalb Russlands als auch von der globalen Linken bedeuten? Wie können Aktivisten Ihre Bemühungen im Ausland unterstützen?

Ivan: Für mich würde Solidarität bedeuten, die Menschen zu mobilisieren und die Zivilgesellschaft in meinem Land wieder aufzubauen. In Russland gibt es sehr wenig wechselseitige Unterstützung zwischen den Menschen, jeder in Russland ist mit sich allein.

Im besten Fall gibt es Familie und Freunde, auf die man sich verlassen kann. Bei anderen Problemen ist man auf sich gestellt, bis hin zu den einfachsten Dingen, wie Hilfe bei einer Autopanne oder alltäglichen Problemen. Zum Beispiel, wenn eine Frau den Kinderwagen mit Kind eine Treppe hinauftragen muss, weil es keine Rampe gibt.

Wir brauchen auch mehr psychologische Betreuung, da viele Menschen depressiv werden. Viele, die in den Krieg gezogen sind, werden zum Beispiel zutiefst unglücklich. Andere ziehen in den Krieg, um vor ihren Problemen zu fliehen oder gar den Tod zu finden.

Die direkte Konfrontation mit den politisch Verantwortlichen ist weiter möglich. Es braucht vor allem Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die russische Bevölkerung.