Nicht versöhnt

Der Algerienkrieg, die Folter und die Folgen

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Die Schlacht um Algerien - Teil 2

Teil 1: Krieg gegen den Terror: Kolonialismus ohne Lernfortschritt

In Die Schlacht um Algier teilt Colonel Mathieu bei einer internationalen Pressekonferenz mit, dass Ben M’Hidi tot aufgefunden worden sei. Dann kommt die Rede auf gegen die Fallschirmjägertruppe erhobene Foltervorwürfe. Mathieu antwortet so, wie es auch Trinquier und seine Kameraden taten. Damals fragten sich viele, wie es sein konnte, dass ehemalige Résistance-Kämpfer, die von den Deutschen in Konzentrationslager verschleppt und gefoltert worden waren, nun selbst zu solchen Methoden griffen. Mathieu dreht das um, geht zum Gegenangriff über und verwahrt sich dagegen, dass Überlebende von Dachau und Buchenwald als Nazis und Faschisten bezeichnet werden. Das ist ein geschickter Rhetorik-Trick.

Letztlich, meint der Colonel, laufe es auf zwei konträre Positionen hinaus. Die FLN wolle die Franzosen aus dem Land werfen. Die Franzosen hätten beschlossen zu bleiben. Nur mit "Polizeimethoden" - und unter Ausschluss von juristischen Verfahren, die zu lange dauern - könne man die FLN erfolgreich bekämpfen. Andere Möglichkeiten gebe es nicht. Deshalb wolle er nun eine Frage an die Journalisten stellen: "Sind Sie dafür zu bleiben oder zu gehen?" Wer für ein Bleiben sei, müsse die notwendigen Konsequenzen akzeptieren. Pontecorvo und sein Drehbuchautor Solinas fassen da in ein paar Dialogsätzen ein grundlegendes Problem zusammen. In Frankreich war die große Mehrheit, auch wegen der einen Million europäischstämmigen Pieds-noirs, für ein Bleiben. Deshalb wurden die Truppen aufgestockt und die Fallschirmjäger mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet. Wer das mit der angeblichen Alternativlosigkeit geschluckt hatte, der schwieg wie die Journalisten bei Mathieus Pressekonferenz und wollte lieber nicht so genau wissen, was geschah. Dabei ist die "Alternativlosigkeit" (verbunden mit dem Zeitdruck, unter dem man stehe) nur ein weiterer, sehr undemokratischer Rhetorik-Trick. Auch heute funktioniert er, bei Kriegen wie bei Finanzkrisen, noch erstaunlich gut.

Die Folter-Frage

Nach der Pressekonferenz zeigt Pontecorvo die Konsequenzen. Menschen werden mit Methoden gefoltert, die auch schon die Gestapo angewendet hatte. Morricone hat eine abgrundtief traurige Musik dazu geschrieben, und Pontecorvo ergänzt die schockierenden Bilder mit solchen von Leuten, die Zeugen dieser Martern werden und nun auch die Franzosen hassen, falls sie das vorher noch nicht getan haben sollten. Der Konflikt wird dadurch noch brutaler. Aus einem durch das europäische Viertel von Algier rasenden Lieferwagen schießt ein Mann mit einer Maschinenpistole wahllos in die Menge. Am Ende der Amokfahrt werden einige Passanten überrollt, dabei sterben auch die Insassen des Wagens. Pontecorvo friert das Bild ein und lässt es lange stehen. Inzwischen ist der Hass so groß, dass die Aufständischen lieber weiter töten, als sich selbst zu retten.

Der Jurist Paul Teitgen, einst bei der Résistance und jetzt Generalsekretär der Polizei von Algier, war im Zweiten Weltkrieg nach Dachau gebracht und gefoltert worden. Er war der Meinung, dass sehr wohl ein Zusammenhang zwischen der Folter durch die Gestapo und der "eindringlichen Befragung" durch die Fallschirmjäger bestand. Teitgen versuchte erfolglos, das Militär unter zivile Kontrolle zu stellen. Als weiter gefoltert wurde und Internierte in großer Zahl verschwanden, reichte er am 29. März 1957 seinen Rücktritt ein. Vom Generalgouverneur zunächst abgelehnt, wurde der Rücktritt im September 1957 wirksam. Robert Lacoste hatte sich ganz General Massu und seiner Truppe ausgeliefert.

Der einzige hochrangige Offizier, der sich während des Algerienkrieges offen gegen die Folter aussprach, war General Jacques Pâris de Bollardière, ein Held des Zweiten Weltkriegs. De Bollardière wurde Ende 1956 zum Kommandanten eines militärischen Sektors nahe Algier ernannt. Empört über die Folterungen und die Liquidierungen, die er der französischen Streitkräfte für unwürdig hielt, bat er um seine Versetzung. Zurück in Frankreich, schrieb er einen Brief an die Wochenzeitung L’Express. In dem am 27. März 1957 veröffentlichen Brief übte er heftige Kritik an Massu und seinen Methoden. General de Bollardière wurde daraufhin zu 60 Tagen Festungshaft verurteilt. Sein Brief aber zeigte trotzdem Wirkung. Aus Algerien zurückgekehrte Wehrpflichtige erzählten Journalisten von ihren Erlebnissen. In Zeitungen und Zeitschriften erschienen regelmäßig Berichte über die Vorgänge. Angeführt wurde der Protest von Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre.

Für großes Aufsehen sorgte der Fall von Maurice Audin, Mathematikprofessor an der Universität von Algier. Der Kommunist und Antikolonialist Audin wurde im Juni 1957 von Massus Leuten festgenommen. Tags darauf wurde auch der Journalist Henri Alleg verhaftet, als er den Freund in dessen Wohnung besuchen wollte. Alleg und Audin sahen sich im Gefängnis wieder, wo sie beide gefoltert wurden. Audins anschließendes Verschwinden erklärte die Armee damit, dass er geflüchtet sei. Ein aus Kommunisten, Antikolonialisten und Bürgerrechtlern gebildetes "Comité Audin" wies zahlreiche Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung nach. Höchstwahrscheinlich war Audin unter der Folter gestorben, oder man hatte ihn ermordet und beseitigt, weil sein Körper Verletzungen aufwies, die sich mit "polizeilichen Maßnahmen" nicht erklären ließen.

Henri Alleg schrieb im Gefängnis heimlich auf, was ihm in französischem Gewahrsam widerfuhr, und es gelang ihm, den Text herauszuschmuggeln. Am 18. Februar 1958 erschien sein Buch unter dem Titel La Question bei den Editions de Minuit - einem Verlag, der 1941 im besetzten Paris gegründet worden war, um mit Untergrund-Publikationen die deutsche Zensur zu umgehen. Alleg schildert in einer sehr nüchternen Sprache, was man mit ihm gemacht hat: von Elektroschocks bis zu dem, was heute Waterboarding heißt. Der Titel ist klug gewählt. Im vorrevolutionären Frankreich war la question der Terminus technicus für die Folter. Alleg fragt nach deren Legitimität und erinnert zugleich an die revolutionäre Tradition und die Menschenrechte. Damit spricht er das Selbstverständnis der Nation an.

In Frankreich schlug das Buch ein wie eine Bombe. Das Militär beklagte eine Schwächung der Truppenmoral, warnte vor nicht absehbaren Folgen für die Landesverteidigung und übte Druck auf die Behörden aus, die in der Folge gegen Zeitungen und Zeitschriften vorgingen, in denen La Question besprochen oder in Auszügen abgedruckt wurde. Konfisziert wurde etwa eine Ausgabe von L’Express mit einem Artikel von Jean-Paul Sartre. Der dann auf anderem Wege verbreitete Essay erschien als Vorwort der ersten englischsprachigen Ausgabe. Die erste deutsche Ausgabe von La Question (Die Folter) ist noch um einen Text von Eugen Kogon ergänzt, Autor von Der SS-Staat.

Nachdem bereits mehr als 60.000 Exemplare verkauft waren, wurde La Question am 27. März 1958 verboten. Knapp 7000 Bücher wurden beim Verlag konfisziert. Zwei Wochen später wurde La Question in der Schweiz nachgedruckt und von dort nach Frankreich gebracht, wo bis Ende des Jahres mehr als 160.000 Exemplare im Umlauf waren. Für General Massu und alle, die ihn gewähren ließen, war das ein PR-Desaster ersten Ranges. Der Widerstand gegen den Algerienkrieg nahm nun ständig zu.

Henri Alleg war nach dem Verbot einer von ihm in Algier herausgegebenen Zeitung untergetaucht. Ein Terrorist war er nicht. Er wurde gefoltert, weil er nicht bereit war, die Namen von Leuten zu nennen, die seine Zeitung unterstützten. Der von Trinquier, Bigeard und anderen bemühte Sprengsatz, der explodieren wird, wenn man nicht vorher foltert, war ein Vorwand. Bei einer Lagebesprechung in Pontecorvos Film nennt Colonel Mathieu das wahre Ziel. Die FLN, erläutert er, sei wie ein Bandwurm, der immer nachwächst, wenn man ihm nicht den Kopf abschneidet. Deshalb müsse man die Führungsriege ausschalten. Durch die Folter hoffen die Franzosen, mehr über Personen und Strukturen der FLN zu erfahren.

Mathieu erstellt - wie Trinquier in der Wirklichkeit - ein Organigramm der FLN, in das er nach und nach die Namen der Führungsfiguren einsetzt. Die Erstellung eines solchen Organigramms mit Hilfe der Folter, dieses Mal zum Vietcong, war ein wesentlicher Bestandteil des "Phoenix-Programms" im Vietnamkrieg, und von da wanderte es weiter zum "Krieg gegen den Terror". George W. Bush ließ ein Organigramm von al Qaida anfertigen, und anschließend wurde versucht, die dort eingetragenen Personen festzunehmen oder zu töten. Schon anhand des Algerienkrieges hätte man sehen können (denkt sich der außenstehende Beobachter), dass gegen einen sozial verwurzelten Terrorismus nur eine langfristige politische Strategie hilft, kein Schießbuden-Organigramm. Inzwischen liegt das Organigramm auf dem Schreibtisch von Barack Obama, der unverdrossen so tut, als sei man mit einer streng hierarchisch aufgebauten Organisation konfrontiert, nicht mit einer sich rhizomartig verbreitenden Bewegung. Kürzlich, zum ersten Jahrestag der Tötung von Osama bin Laden, hat er das baldige Ende von al Qaida verkündet. Wie viele Namen im Organigramm dafür noch durchgestrichen werden müssen, behielt er für sich.

Schlacht gewonnen, Krieg verloren, Monarchen bekommen

Am 24. September 1957 wurde Saadi Yacef (alias El-Hadi Jaffar im Film von Pontecorvo) festgenommen, der letzte verbliebene FLN-Führer in Algier. Damit war die Organisationsstruktur der FLN in der Hauptstadt zerschlagen, die (vorläufige) Niederlage besiegelt. Ali La Pointe war eine wichtige Figur bei Anschlägen, und er hätte als solche noch einigen Schaden anrichten können, doch zum engeren Führungskreis gehörte er nicht. Im Film ist er Teil der vierköpfigen Spitze der FLN in Algier (in der Realität scheinen es fünf Personen gewesen zu sein). Ich nehme an, das hat dramaturgische Gründe. Yacef sagte später, er sei selbst nicht gefoltert worden. Aussaresses behauptet dagegen, dass Yacef es gewesen sei, der das Versteck von Ali La Pointe verriet. Falls dem so gewesen sein sollte, geschah es wohl unter der Folter. Wahrscheinlicher ist, dass Aussaresses nachträglich versuchte, den am Ende siegreichen Feind zu diffamieren (was noch nicht bedeutet, dass Yacef tatsächlich nicht gefoltert wurde). Der 24-Stunden-Regel der FLN folgend, hätte Ali La Pointe ausreichend Zeit gehabt, sein Versteck in der Kasbah zu wechseln.

Gestellt wurde Ali La Pointe am 8. Oktober 1957, zusammen mit "Petit Omar", Hassiba Ben Bouali (im Film ist sie, auch aus dramaturgischen Gründen, eine von den drei Frauen, die die Sprengsätze des 30. September 1956 gelegt haben) und einem weiteren FLN-Kämpfer. Weil die Vier nicht bereit waren, sich zu ergeben, wurde das Haus, in dem sie sich befanden, von den Fallschirmjägern in die Luft gesprengt. Dabei sollen 16 weitere Menschen ums Leben gekommen sein. Für den Film, sagt Saadi Yacef, wurde auch dieses Haus wieder aufgebaut und dann erneut in die Luft gejagt. Er habe das persönlich finanziert, als Ehrerweisung gegenüber den alten Kampfgefährten. Wie alle Explosionen im Film sieht auch diese wieder sehr echt aus.

"Jetzt hat der Bandwurm keinen Kopf mehr", sagt General Massu bei Pontecorvo, und die Fallschirmjäger triumphieren. Von den Pieds-noirs wurden sie im Herbst 1957 als Helden und Retter gefeiert. Das war zu kurz gedacht. Die französischen Streitkräfte gewannen die militärische Schlacht von Algier. Den politischen Krieg um Algerien verloren sie. Sie gingen so rücksichtslos zu Werke, dass sich die Kriegsverbrechen nicht mehr vertuschen ließen. Dadurch begann die öffentliche Meinung in Frankreich zu kippen. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Algerien hatten die Soldaten sowieso gegen sich. Die Folterungen, Vertreibungen und Internierungen waren durch das Verteilen von kostenlosem Baguette nicht wettzumachen.

In den anderen Regionen Nordafrikas trat die Kolonialmacht Frankreich in den 1950ern den Rückzug an, oft auf internationalen Druck. Für die Grande Nation war das ein schmerzhafter, von den kurzlebigen Regierungen der Vierten Republik zumeist miserabel moderierter Prozess. Bei den Verfechtern eines Algerie française wuchs die Angst, dass Paris auch Algerien aufgeben könnte. Während einer der üblichen Regierungskrisen, am 13. Mai 1958, fand in Algier eine große Protestkundgebung radikalisierter Pieds-noirs statt, zu der auch General Raoul Salan aufgerufen hatte, der Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Algerien. Während dieser Demonstration stürmten Rechtsextreme den Palast des Generalgouverneurs. Die zur Sicherung der Kundgebung abgestellten Soldaten sahen untätig dabei zu. In der Residenz wurde eine von General Massu geführte Gegenregierung gebildet, die sich in Anspielung auf die Französische Revolution "Wohlfahrtsausschuss" nannte. Ihr gehörten auch viele Gaullisten an.

Kurze Rückblende: General Charles de Gaulle trat im Januar 1946 als Ministerpräsident einer provisorischen Regierung zurück, weil er sich nicht mit seinen Vorstellungen zur neuen Verfassung der Vierten Republik hatte durchsetzen können. Diese Verfassung konzentrierte die Macht beim Parlament. De Gaulle wollte mehr Befugnisse für den Staatspräsidenten. Offenbar dachte er, dass man ihn nach seinem Rücktritt zurückholen und Zugeständnisse machen würde. Als das nicht geschah, gründete er 1947 eine Sammlungsbewegung (Rassemblement du Peuple Français), die erfolglos versuchte, die vom General gewünschte Verfassung durchzusetzen. 1953 zog sich de Gaulle in die Provinz zurück, wartete ab und gefiel sich in der Rolle des über dem Parteiengezänk stehenden Elder Statesman, während seine Anhänger in Paris in seinem Sinne tätig waren und auch gegen die Koalitionsregierungen konspirierten, denen sie angehörten.

Der gaullistische Verteidigungsminister Jacques Chaban-Delmas schickte einen Vertrauensmann nach Algier, um die Entwicklung im Sinne seines Lagers zu beeinflussen. Am 15. Mai 1958 trat General Salan auf den Balkon des Gouverneurspalasts und rief ein "Vive de Gaulle!" in die euphorisierte Menge. Am 19. Mai gab de Gaulle eine Pressekonferenz, bei der er Verständnis für die frustrierten Offiziere äußerte, vor einer nationalen Krise warnte und tröstende Worte fand: diese Krise könne eine Art Wiederauferstehung sein (mit ihm als Retter des Vaterlands). "Wiederauferstehung" war dann der Deckname einer von in Algerien stationierten Offizieren geplanten Operation, an deren Ende Fallschirmjäger in Paris landen, die gewählte Regierung absetzen und de Gaulle zum starken Mann machen sollten. Um zu zeigen, dass man es ernst meinte, landete am 24. Mai eine Spezialeinheit auf Korsika und übernahm die Kontrolle. Die führenden politischen Kräfte des Landes knickten ein.

Staatspräsident René Coty nominierte de Gaulle am 1. Juni zum Ministerpräsidenten (obwohl gerade einer gewählt worden war), das Parlament stimmte seiner eigenen Entmachtung zu und stattete de Gaulle für ein halbes Jahr mit den von ihm geforderten Sonderbefugnissen aus. De Gaulle ließ eine neue Verfassung beschließen, die das Volk im September 1958 per Referendum mit einer Mehrheit von 83 Prozent absegnete. Das war die "Wiedergeburt" Frankreichs als Fünfte Republik - mit den weitreichenden, manchmal mehr an eine Monarchie als eine Demokratie erinnernden Machtbefugnissen des Präsidenten, die jetzt François Hollande fünf Jahre lang genießen darf.

Unternehmen Dampfwalze

Im Rückblick stellen sich die Dinge oft anders dar, als sie gewesen sind. De Gaulle ging als der Mann in die Geschichtsbücher ein, der aus dem wohlverdienten Ruhestand nach Paris zurückkehrte, um die Nation aus der Krise zu führen und den Algerienkrieg zu beenden. Seine Bewunderer vergessen dabei gern, dass er den Krieg noch schlimmer machte und dann den Rückzug antrat, weil in Algerien nichts mehr zu gewinnen war. Bei seinem ersten Besuch in Algier am 4. Juni 1958 rief er den ihm zujubelnden Pieds-noirs einen berühmten Satz zu, den später einige bedeutende und nicht ganz so bedeutende Politiker wiederholten (einer ist derzeit unser Außenminister), weil es ihnen an historischem Bewusstsein fehlte: "Ich habe euch verstanden!"

Charles De Gaulle (1945). Bild: Library of Congress

In Algier war die FLN geschlagen, nicht aber im Rest des Landes. Die von Leuten wie Colonel Trinquier und Colonel Godard institutionalisierte und von General Massu gebilligte Folter wurde besser und zentraler organisiert (verantwortlich war das Détachement opérationnel de protection, die "Operationelle Schutzabteilung"), was dabei half, sie aus den Schlagzeilen herauszuhalten. Aus offizieller französischer Sicht unterstützten die Moslems die FLN nur deshalb, weil sie von dieser indoktriniert und dazu gezwungen wurden (zu "Moslem" siehe die Begriffsklärung in Teil 1). Darum war alles, was man gegen die FLN unternahm, irgendwie eine Maßnahme zum Schutz der Zivilbevölkerung. Komplette Dörfer wurden eingeschlossen und dann, zur besseren Überwachung, auch umgesiedelt. Algerien sollte komplett besetzt und mit einem System miteinander kommunizierender Militärposten überzogen werden. Anfang der 1960er gab es etwa 7500 solcher Posten. Diese "schützten" die 1500 Gemeinden, die es seit der Gemeindereform von 1956/57 gab.

Am 19. September 1958 gründete die FLN in Kairo die "Provisorische Regierung der Republik Algerien". Zur Vorbereitung darauf begann sie, den Konflikt in das "koloniale Mutterland" zu tragen, um die Menschen dort mit Sprengsätzen daran zu erinnern, "dass in Algerien ein schmutziger Krieg im Gange ist" (FLN-Communiqué). Im August und September gab es in ganz Frankreich eine Serie von Anschlägen auf militärische, wirtschaftliche und politische Ziele. Das dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass Maurice Challe, General Salans Nachfolger als Oberbefehlshaber, 1959 eine Großoffensive startete, mit der Algerien von West nach Ost überrollt wurde, um die FLN ein für allemal zu vernichten.

Fallschirmjäger und Fremdenlegionäre durchkämmten die jeweils betroffenen Gebiete nach FLN-Kämpfern. Zum "Challe-Plan", auch als "Unternehmen Dampfwalze" bekannt, gehörte das Verbringen der Bevölkerung ganzer Regionen in "Umgruppierungslager". Challe übernahm die von General Massu in Algier erfolgreich praktizierte Einteilung in Sektoren und vervielfachte die bereits von Salan eingerichteten zones d’insécurité bzw. zones interdites (unsichere bzw. verbotene Zonen), in denen jeder erschossen wurde, den die Armee dort antraf. Sektor um Sektor wurde abgeriegelt und von den commandos de chasse nach FLN-Kämpfern durchsucht. Bei diesen "Jagdkommandos" kamen überwiegend die Harki-Einheiten zum Einsatz, in Algerien rekrutierte Hilfstruppen. Helikopter unterstützten sie aus der Luft. Für Challe waren die Harkis besonders wichtig, weil sie die französischen Streitkräfte entlasteten und ein politisches Signal senden sollten (die Moslem-Bevölkerung kämpft an der Seite der Franzosen gegen die FLN). Ihre Zahl stieg ständig weiter an.

Neben den militärischen gab es auch zivile Maßnahmen. De Gaulle versprach eine Anhebung des Lebensstandards, die Zuweisung von 250.000 Hektar Land an die Moslems sowie die Schaffung von neuen Wohnungen für eine Million Menschen und von 400.000 neuen Arbeitsplätzen (das war zufälligerweise die Zahl der beim "Unternehmen Dampfwalze" eingesetzten Soldaten, plus 40.000 Fallschirmjäger und Fremdenlegionäre plus Harki-Hilfstruppen, die speziell mit der Jagd auf FLN-Kämpfer beschäftigt waren). So sollten die Herzen und der Verstand der muslimischen Bevölkerung gewonnen werden, wie das heute heißt. In einem Land, das im Belagerungszustand war. Man fragt sich, ob ernsthaft jemand glaubte, dass das gelingen würde. Die zur Zwangsbeglückung auserkorene Bevölkerung war dieselbe, die unter den Übergriffen einer Besatzungsarmee litt; eine Bevölkerung, die gefoltert, massakriert, vertrieben, umgesiedelt und überwacht wurde.

Mit seiner Militärwalze brachte General Challe die Unabhängigkeitsbewegung an den Rand einer vollständigen Niederlage - zumindest den Teil, der nicht nach Tunesien oder Marokko geflohen war. Die Grenzen wurden mit Bunkern, Elektrozäunen und Minenfeldern gesichert. Das alles drohte Frankreich international zu isolieren und sich zu einem außenpolitischen Desaster auszuweiten. Einen ersten Vorgeschmack hatte Frankreich erhalten, als die Luftwaffe am 8. Februar 1958 den tunesischen Grenzort Sakhiet-Sidi-Youseff bombardiert und die französische Regierung danach in peinliche Verhandlungen mit der tunesischen hatte eintreten müssen, auf Druck der Briten und der Amerikaner. Auch Konservative waren zunehmend gegen die Verteidigung des Algerie française, in das enorme Summen aus dem Mutterland transferiert wurden statt umgekehrt, wie im Kolonialismus eigentlich vorgesehen. Das war Geld, das bei der Modernisierung Frankreichs fehlte.

Am 16. September 1959, bei einer Fernsehansprache, erwähnte de Gaulle erstmals das Recht der Algerier auf Selbstbestimmung. Im Januar 1960 gab General Massu der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er de Gaulle einen "Mann der Linken" nannte, was ihm eine Strafversetzung einbrachte. General Challe trat im Frühjahr 1960 einen neuen Posten in Europa an. Er meldete voller Stolz, dass die vollständige "Befriedung" der drei algerischen Départements unmittelbar bevorstünde. De Gaulle hatte vermutlich die Abrechnung studiert, verstand jetzt etwas anderes als zuvor und wandelte sich vom Kriegsherrn zum Dekolonisierer, der mit der FLN verhandeln wollte. Befördert wurde sein Umdenken durch die Unruhen vom Dezember 1960. Mit ihnen beginnt der Epilog von Pontecorvos Die Schlacht um Algier.

Generäle und Terroristen

Anlässlich eines weiteren Algerienbesuchs von de Gaulle organisierte die FLN eine Protestkundgebung in Algier. Am 11. Dezember 1960 mobilisierte die scheinbar geschlagene Organisation eine riesige Menschenmenge, die für die Unabhängigkeit demonstrierte und dazu Fahnen mit Stern und Halbmond schwenkte, woraus später die Nationalflagge wurde. Die Massenkundgebungen dauerten bis zum 21. Dezember und konnten nur durch den Einsatz von Maschinenpistolen und Panzern beendet werden. Etwa 120 Demonstranten wurden getötet. In Frankreich fand das ein für die Regierung katastrophales Medienecho. Es sei ganz unerklärlich, lässt Pontecorvo im Off einen Korrespondenten sagen, wie es nach zwei Jahren der Ruhe dazu kommen konnte. Das darf man als Ironie verstehen. Wer den Film gesehen hat weiß sehr wohl, wie es dazu kommen konnte. Indem er die Schlacht um Algier in dokumentarisch wirkenden Bildern nacherzählt (mit einigen Ausnahmen historisch akkurat), zeigt Pontecorvo, wie man (die FLN) während eines Unabhängigkeitskampfes die große Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bringt und wie man andererseits (die französischen Streitkräfte) dazu beiträgt, diesen Kampf um des kurzfristigen Erfolges willen immer tiefer in der Gesellschaft zu verwurzeln, bis man ihn verloren hat.

Als Generalgouverneur Lacoste den Fallschirmjägern alle Vollmachten zur Vernichtung der FLN in der Kasbah gab und sie damit außerhalb jeder zivilen Kontrolle stellte, war das der erste von vielen Tiefpunkten in einem Prozess, der zu einer Verselbständigung von Teilen der kolonialen Streitkräfte führte. Für die Generäle Challe, Jouhaud und Zeller waren de Gaulles Bemühungen um eine Verhandlungslösung Verrat. In der Nacht zum 22. April 1961 führten sie in Algier einen Putsch an, mit dem sie de Gaulle absetzen wollten. General Salan, der seit einem Zerwürfnis mit seinem einstigen Helden im faschistischen Spanien lebte, begab sich umgehend nach Algerien, um ihnen beizustehen.

Die Generäle hatten eine für ihre Pläne günstige Stimmung bei den Berufssoldaten ausgemacht, aber den Widerstand in Frankreich und bei den Wehrpflichtigen in der Kolonialarmee unterschätzt. Die Mehrheit der Truppen wartete passiv ab, der Staatsstreich scheiterte. Challe und Zeller stellten sich, wurden zu Haftstrafen verurteilt und später amnestiert. Jouhaud, Salan und eine Gruppe von gleichgesinnten Offizieren tauchten ab und schlossen sich der im Januar 1961 von französischen Faschisten in Spanien gegründeten Organisation armée secrète (OAS) an, die vor sich hindümpelte und nun praktisch runderneuert wurde. General Salan wurde der Chef der "Bewaffneten Geheimorganisation" mit Sitz in Algier, General Jouhaud sein von Oran, der zweitgrößten Stadt Westalgeriens aus operierender Stellvertreter. Colonel Yves Godard, einer der Veteranen der Schlacht um Algier und eines der Vorbilder für Pontecorvos Colonel Mathieu, half beim Aufbau der OAS nach dem Muster der FLN. Als Mitglied von Massus Stab war er Verbindungsoffizier der Armee zur Polizei gewesen, in deren Reihen sich viele OAS-Sympathisanten befanden. Für die neue Untergrundorganisation war das ein großer Vorteil.

Raoul Salan, Edmond Jouhaud, Maurice Challe und André Zeller. Bild: Public Domain

Die OAS wusste die Mehrheit der in den Jahren des Kriegs radikalisierten Pieds-noirs hinter sich und versuchte, die Verhandlungen zwischen de Gaulle und der FLN mit terroristischen Mitteln zu stoppen. Für den Zeitraum zwischen dem 18. und dem 30. September 1961 gibt es halbwegs verlässliche Zahlen, denen zufolge sie in diesen zwei Wochen 180 Anschläge in Algerien und 34 in Paris beging. Ziele waren alle, die von Salan und seinen Anhängern als Gegner betrachtet wurden: von FLN-Aktivisten bis zu französischen Regierungspolitikern. Staatspräsident de Gaulle entkam mehreren Attentaten nur um Haaresbreite. Am bekanntesten ist der Anschlag vom 22. August 1962, den der Luftwaffenoffizier Jean-Marie Bastien-Thiry plante und mit dem Fred Zinnemanns The Day of the Jackal beginnt. Bastien-Thiry ging als der Mann in die französische Geschichte ein, der als letzter durch ein Erschießungskommando exekutiert wurde.

The Day of the Jackal

Eine unrühmliche Rolle spielte die Polizei von Paris. Maurice Papon, Polizeipräfekt der Hauptstadt und von de Gaulle im Juli 1961 mit dem Kreuz der Ehrenlegion dekoriert, verhängte am 5. Oktober 1961 über alle "moslemischen algerischen Arbeiter" in Paris und den Vorstädten eine nächtliche, von 20.30 Uhr bis 5.30 Uhr dauernde Ausgangssperre. Die Fédération de France, ein Ableger der FLN, rief für den 17. Oktober zu einer Massendemonstration auf. Die friedliche Demonstration wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Beim "Massaker von Paris" starben nach Polizeiangaben drei Demonstranten. Unabhängige Schätzungen gehen von einer Zahl zwischen 100 und 300 Toten aus. Menschen wurden niedergeprügelt, erschossen und in der Seine ertränkt, wo noch Tage später Leichen schwammen. In den Pariser Krankenhäusern wurden 375 Verletzte behandelt. Die Dunkelziffer dürfte ungleich höher sein. 11.500 Demonstranten wurden in improvisierte Internierungslager gebracht, mitten in Paris. Papon wurde nicht etwa abgesetzt, sondern quittierte im Januar 1967 freiwillig den Dienst, um Präsident der später im europäischen Luftfahrtkonzern EADS aufgehenden Firma Sud-Aviation zu werden. (1998 wurde der einstige Kollaborateur zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er die Deportation von 1500 Juden in die Vernichtungslager angeordnet hatte.)

Der immer unpopulärer werdende de Gaulle ließ mit der Provisorischen Regierung der algerischen Republik Geheimverhandlungen führen, die schon bald ein Ergebnis zeitigten. Am 18. März 1962 wurde im Hotel du Parc in Évian ein Waffenstillstand geschlossen, der tags darauf in Kraft trat. De Gaulle ging damals dieselbe Überlegung durch den Kopf wie heute den Gegnern eines EU-Beitritts der Türkei. Wenn Algerien ein Teil von Frankreich blieb, konnte man der Mehrheit der dortigen Bevölkerung nicht auf Dauer die Bürgerrechte verweigern. Das bedeutete, dass Frankreich über kurz oder lang Millionen von muslimischen Bürgern habe würde. Auch deshalb war er bereit, auf diese drei Départements zu verzichten - allerdings nicht ganz.

Das Abkommen von Évian sah die Unabhängigkeit Algeriens nach einer Volksabstimmung und die enge Verknüpfung beider Länder vor. Die Pieds-noirs würden in Algerien verbleiben, Frankreich würde Aufbauhilfe leisten und den Zugriff auf die Erdöl- und Gasvorräte sowie einige Militärstützpunkte und das Gelände in der Sahara für die Atombombenversuche behalten. De Gaulle hätte zufrieden sein können, wenn da nicht noch diese ewig frustrierten Offiziere gewesen wären, die ihm dabei geholfen hatten, zum Staatspräsidenten mit der von ihm gewünschten Machtfülle zu werden und seine Pläne nun zunichte machten. Als Reaktion auf das Abkommen intensivierte die OAS ein letztes Mal ihren Terror, dem in viel kürzerer Zeit mehr Menschen zum Opfer fielen als den Anschlägen der FLN in siebeneinhalb Jahren.

Das Erfolgsrezept der FLN war im Grunde äußerst einfach: Terror erzeugt Repression erzeugt mehr Terror erzeugt noch mehr Repression und irgendwann so viele davon Betroffene, dass aus einer radikalen Randgruppe eine Volksbewegung wird, die sich gegen die Repression erhebt. Die RAF versuchte später, das zu kopieren, hatte aber scheinbar nicht bedacht, dass die Voraussetzungen in Deutschland ganz andere waren. Auch die vom entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums kommende OAS versuchte vergeblich, das Muster für ihre Zwecke zu adaptieren. Durch Anschläge sollten Gegenreaktionen der FLN provoziert werden, was - so das Kalkül - die Armee zwingen würde, wieder in den Krieg einzugreifen. Als dann aber französische Wehrpflichtige starben, sah sich die bis dahin zögerliche Armee veranlasst, gegen die OAS vorzugehen. Jetzt schossen französische Soldaten auf französische Siedler, und auch die Polizei in Frankreich war weniger nachsichtig mit der OAS und ihren Sympathisanten als bisher, nachdem bei einem Anschlag ein kleines Mädchen getötet worden war.

Nach zwei Referenden in Frankreich und in Algerien erklärten die Algerier am 5. Juli 1962 offiziell ihre Unabhängigkeit. Die OAS hatte nicht das Abkommen von Évian weggebombt, wohl aber die Chancen auf die von de Gaulle angestrebte privilegierte Partnerschaft. In der ersten Hälfte des Jahres 1962 explodierten mehrere Hundert Sprengsätze, auch in Schulen und Krankenhäusern. Am 28. Februar ging in Oran eine Autobombe hoch. Dabei starben mindestens 25 Menschen. Am 5. Juli formierte sich in der Stadt ein bewaffneter Mob, der in die europäischen Viertel eindrang und Jagd auf Pieds-noirs machte. Die Angaben zu den Opferzahlen gehen wieder sehr weit auseinander. Sie reichen von 95 Toten (darunter 20 europäische Siedler) über 153 bis zu 1500 oder auch 3500 Menschen, die an diesem Tag starben, bis französische Gendarmen dem Morden ein Ende machten. Die noch in der Stadt stationierten Truppen hatten den Befehl erhalten, nicht einzugreifen. Im Prozess gegen Bastien-Thiry versuchte die Verteidigung, das Attentat auf de Gaulle dadurch zu rechtfertigen, dass sich der Präsident in Oran des Völkermordes schuldig gemacht habe.

Das "Massaker von Oran", gerüchteweise angestiftet von der FLN, hatte eine verheerende psychologische Wirkung. Aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen einer sich abzeichnenden FLN-Regierung für die Exzesse der OAS hatten viele Pieds-noirs das Land bereits verlassen. Daraus wurde jetzt eine Massenflucht. Das Motto "Koffer oder Sarg" wurde zur in Frankreich heute noch gebräuchlichen Redewendung. Innerhalb weniger Monate floh fast die gesamte europäischstämmige Bevölkerung von Algerien (Schätzungen sprechen von mehr als 900.000 Menschen) in ein Mutterland, das viele noch nie zuvor betreten hatten. Ihre Habe ließen sie zurück. Algerien stellte das - ob von der FLN nun gewollt oder nicht - vor unlösbare Probleme, weil es auf einen Schlag den kompletten Mittelstand verlor.

Wiedereingliederung für den General, Stimmen für Familie Le Pen

Muss beim Abkommen von Évian außer mir noch jemand an Afghanistan denken? Oder an diesen Hubschrauber, der die letzten Amerikaner aus Saigon evakuiert, während ihre südvietnamesischen Verbündeten auf den Einmarsch der Kommunisten warten? Längst ist es ein offenes Geheimnis, dass die Amerikaner jetzt mit den Taliban verhandeln, um so etwas wie einen ehrenhaften Abzug hinzukriegen. Wenn das missglückt und man einen extrem teuren, viele Menschenleben fordernden Krieg geführt hat, der einem im Rückblick völlig sinnlos erscheint, behauptet man einfach das Gegenteil. Louis Terrenoire, im Frühjahr 1962 Staatsminister und Regierungssprecher von de Gaulle, schreibt in seinen Memoiren, dass der Präsident im Kreise seiner Minister von einem "ehrenhaften Abgang" gesprochen habe. Damit, so de Gaulle, sei das jetzt erledigt und man könne sich anderen Dingen zuwenden, statt über das zu reden, was unlängst getan oder unterlassen wurde. Der Staatspräsident ging mit gutem Beispiel voran. In der Öffentlichkeit erwähnte er den Algerienkrieg nie wieder.

Für die Aussöhnung mit dem ehemaligen Kolonialvolk und die Integration der Flüchtlinge waren das keine guten Voraussetzungen. Frankreich nahm die Pieds-noirs nur widerwillig auf. Eine politische Strategie, wie man sie in eine ihnen fremde Gesellschaft eingliedern könnte, gab es nicht. Den Zuwanderern mit dem französischen Pass blieb das weitgehend selbst überlassen. Viele der während des Krieges radikalisierten Pieds-noirs drifteten an den rechten Rand ab. Wer sich bei der Berichterstattung über die Präsidentschaftswahlen gefragt hat, warum die Hochburgen des rechtsextremen Front National traditionell in Südfrankreich zu finden sind: Dort siedelten sich die meisten der aus Algerien geflohenen "Schwarzfüße" an. Jean-Marie Le Pen war 1957 als Nachrichtenoffizier in Algerien. Vorwürfe, auch selbst gefoltert zu haben, hat er wiederholt zurückgewiesen.

Jean-Marie Le Pen (2007). Bild: Manuel. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

1968 wurden die im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg verübten Verbrechen amnestiert. Rechtsfrieden herzustellen ist oft eine gute Entscheidung. In diesem Fall war es der untaugliche Versuch, einen Schlussstrich unter eine Vergangenheit zu ziehen, die man verdrängen wollte. Die Vergangenheit und deren Interpretation überließ man damit anderen. Im Umfeld der Ultras unter den Pieds-noirs und der alten OAS-Kämpfer bildete sich ein rechtes, nationalistisches Milieu, auf das der 1972 von Le Pen gegründete Front National seither bauen kann. Die anderen Parteien sind bemüht, die Wähler der Rechtsextremen durch Zugeständnisse an sich zu binden, statt klare Kante zu zeigen. So hat der Algerienkrieg noch heute Einfluss auf das Leben der Nachgeborenen. Unter François Mitterand, dem letzten sozialistischen Präsidenten vor Hollande, wurden 1982 Raoul Salan, der zum Tode verurteilte und später begnadigte Chef der OAS und sieben weitere noch lebende Generäle, die an Putsch und Terrorakten teilgenommen hatten, per Gesetz wieder in die Armee aufgenommen. Was solche Bemühungen, der FLN das Wasser abzugraben, für Erfolge zeitigten, ist an den jüngsten Wahlergebnissen von Marine Le Pen abzulesen.

Marine Le Pen (2012). Bild: Jérémy Jännick. Lizenz: CC-BY-3.0

1999 beschloss die Nationalversammlung, dass der Krieg ein solcher gewesen war und deshalb in offiziellen Verlautbarungen auch so genannt werden darf. Bis dahin folgte man der alten Lesart vom Kampf gegen die Männer (Frauen waren ebenfalls dabei) mit den kriminellen Tendenzen. Finanziell war das von Vorteil. Nach französischen Angaben starben in dem Krieg, der bis 1999 keiner war, knapp 17.500 Soldaten (darunter fast 2000 Fremdenlegionäre). Weil sie aber offiziell an einem im Inneren des Landes stattfindenden Konflikt und da an polizeilichen "Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung" teilgenommen hatten, bestand kein Anspruch auf die staatlichen Versorgungsleistungen für Kriegsveteranen. Der Nicht-Krieg war so schon teuer genug gewesen. Dass für die Linderung der Spätfolgen kein Geld da ist, erfahren derzeit auch die Afghanistan- und Irak-Veteranen der USA.

Die ärmsten der Armen waren die Harkis, die muslimischen, beim Abzug entwaffneten Hilfstruppen der Franzosen und ihre Familien. An eine Evakuierung war nicht gedacht. Regierungsstellen rechneten 1962 mit 250.000 potentiellen Flüchtlingen aus dieser Bevölkerungsgruppe. Ein offizieller Plan sah vor, 5000 von ihnen aufzunehmen. Am 19. Juli 1962 teilte der Armeeminister mit, dass in Frankreich nun kein Platz mehr sei für solche Moslems. Übersiedelungen seien zu unterbinden. In Algerien war auch kein Platz für sie. Dort brachen nach dem Ende des einigenden Krieges gegen die Kolonialherren die alten Machtkämpfe innerhalb der FLN wieder aus. Die Harkis waren der ideale Sündenbock und Blitzableiter. Als Verräter wurden sehr viele von ihnen ermordet. Wie fast immer beim Algerienkrieg gibt es nur stark variierende Schätzungen. Die bis heute kursierende Zahl von 150.000 massakrierten Harkis (nebst Angehörigen) übermittelte 1963 der Präsident einer Vereinigung von in Kolonialkriegen eingesetzten Fallschirmjägern. Dieser Herr hatte ein Interesse daran, den ehemaligen Kriegsgegner als möglichst blutrünstig hinzustellen. Neuere und seriösere Schätzungen gehen von 15.000 bis zu 40.000 Opfern aus, was immer noch schlimm genug wäre.

Etwa 67.000 Harkis und 80.000 Angehörige schafften es trotz Verbots nach Frankreich. Dort äußerten Politiker in Hintergrundgesprächen und manchmal auch ganz offen die zynische Ansicht, dass man mit solchen Leuten, die ihr Land verraten hatten, nichts zu tun haben wolle. Dabei übersahen sie geflissentlich, dass diese Leute oft schon seit mehreren Generationen zu den Hilfstruppen gehörten und nicht nur gegen die FLN gekämpft hatten, sondern in zwei Weltkriegen gegen die Deutschen, in Indochina gegen den Viet Minh und in Algerien gegen die OAS, als die Führung der Kolonialarmee gezwungen war, gegen diese vorzugehen. Letzteres konnte man ihnen wieder als Verrat auslegen, dieses Mal eben an den Pieds-noirs. Die muslimischen Algerier, die keine Franzosen sein wollten, hatte man so lange wie möglich gezwungen, solche zu bleiben (aber ohne deren Rechte). Die muslimischen Algerier, die nichts lieber sein wollten als Franzosen, lehnte man ab, weil sie (als Araber!) Franzosen in Frankreich sein wollten und nicht in einer Kolonie, die offiziell nie eine gewesen war. Den an Absurdität und Sinnlosigkeit kaum mehr zu überbietenden Algerienkrieg charakterisiert das sehr gut.

Desintegration

In der letzten Wahlkampfwoche sagte der nach Stimmen aus dem rechten Lager fischende Nicolas Sarkozy, der Freund der Kanzlerin, dass Frankreich zwar nicht ausländerfeindlich sei, jetzt aber keine Ausländer mehr haben wolle, weil der Zuzug (ein Vermächtnis der kolonialen Vergangenheit) nicht mehr zu bewältigen sei. Bevor man die einen Ausländer integriert habe, so Sarkozy, kämen schon die nächsten. Bei den Harkis verlief die Integration wie folgt: 1962 wurden sie in stacheldrahtumzäunte Lager gesteckt, irgendwo an der Peripherie, wo man sie nicht sehen musste. Es gab da keine Moscheen, keine Schulen, keine verkehrstechnische Anbindung an die Umgebung. Anfang der 1990er, fast 30 Jahre nach dem Ende des Algerienkriegs, wurde die französische Gesellschaft durch Unruhen in den Vorstädten erschüttert. Dort rebellierten die "Beurs", also die in Frankreich geborenen Nachkommen maghrebinischer Einwanderer (Maghreb = Algerien, Marokko, Tunesien), gegen die triste Existenz in zum Ghetto gewordenen Sozialbauten.

Nicolas Sarkozy (2008). Bild: Aleph. Lizenz: CC-BY-SA-2.5

Durch die Ausschreitungen in den Banlieus erinnerte man sich auch an die Harkis und ihre Kinder und Enkel, die inzwischen eine schlecht bis gar nicht integrierte Bevölkerungsgruppe mit etwa 420.000 Menschen bildeten. Viele von ihnen lebten noch immer in den Lagern. Zwei Drittel der Harkis waren jünger als 25 Jahre. Die große Mehrheit verfügte über eine bestenfalls rudimentäre Schulbildung, die nicht ausreichte, sich für einfachste Berufe zu qualifizieren. Die jungen Harkis machten auf sich aufmerksam, weil es auch zwischen ihnen und der Polizei Zusammenstöße gab. Demonstranten wurden niedergeknüppelt, und der Geheimdienst schrieb Berichte für die Regierung, in denen von großer Frustration und einem hohen Gewaltpotential die Rede war. Die regierenden Sozialisten waren alarmiert und versprachen, dass jetzt alles besser werden würde - für die Harkis genauso wie für die Beurs.

Anfang der 1990er, das war die Zeit, als in Algerien die ersten freien Wahlen der arabischen Welt stattfanden und die FLN von den Geistern eingeholt wurde, die sie rief, als sie ihren Befreiungskampf mit dem Islam verband und die Reinigung der muslimischen Gesellschaft von westlichen Einflüssen propagierte. Im Dezember 1992, nach dem ersten Wahlgang, zeichnete sich ein Sieg des Front islamique du Salut ab (Islamische Heilsfront). Um das zu verhindern, annullierten die Generäle der algerischen Armee unter beifälligem Nicken der westlichen Welt die Wahl. Die Islamisten wurden in den Untergrund abgedrängt. Das war der Beginn eines Bürgerkriegs mit allem, was man von früher kannte: Massenverhaftungen, Internierungslager, Folter, Liquidierungen, spurlos verschwundene Menschen. Algerien ist jetzt eine ausgeblutete Gesellschaft, an welcher der arabische Frühling bisher vorbeigegangen ist.

In Frankreich haben seit den frühen 1990ern wechselnde Regierungen versprochen, dass alles besser wird. Geld wurde in die Hand genommen, konkrete Fortschritte gab es kaum. Der Frust und das Gewaltpotential sind gestiegen, statt weniger zu werden. Jugendliche mit Migrationshintergrund, wie man jetzt sagt, leben weiter in ethnischen oder konfessionellen Ghettos. Zwischen den Beurs und den Harkis, die jetzt schon in der dritten Generation in Frankreich leben, gibt es fast keine sozialen Kontakte. Nach letzten Erhebungen sind etwa 80 Prozent der erwerbsfähigen Harkis arbeitslos. Sie und die Beurs (auch hohe Arbeitslosigkeit) fühlen sich gegenüber den kürzlich Zugezogenen benachteiligt und sind deshalb schlecht auf diese Ausländer zu sprechen. Für viele nationalistisch gesinnte Franzosen, die gern Marine Le Pen wählen (oder früher ihren Vater), sind sie selbst Ausländer und ein besonderer Dorn im Auge. Auch wenn sie nach 1962 in Frankreich geboren wurden, gelten sie denen, die sich nicht von der alten Kolonialromantik trennen möchten, als lebender Beweis für einen verlorenen Krieg, den man lieber vergessen würde.

Die Wähler des rechtsextremen Front Nationale dürfen traditionell auf viel Verständnis bei den Präsidentschaftskandidaten anderer Parteien hoffen, weil sie im zweiten Wahlgang den Ausschlag geben könnten. Darum war es durchaus bemerkenswert, was in der Anfangsphase des soeben überstandenen Wahlkampfs geschah. Auch zum 50. Jahrestag des Abkommens von Évian konnten sich die ehemaligen Kolonialherren nicht zu der von Algerien seit einem halben Jahrhundert geforderten Geste des Bedauerns durchringen. Eine solche Geste gilt weiterhin als Affront gegenüber konservativen Wählerschichten. Ein zaghaft angedachtes, gemeinsames Gedenken der früheren Kriegsgegner musste darum entfallen. Andererseits entdeckte nach Nicolas Sarkozy auch François Hollande, dass es die französischen Bürger algerischer Abstammung inzwischen auf mehr als drei Millionen Stimmberechtigte bringen.

François Hollande (2012). Bild: A. Bouirabdane. Lizenz: CC-BY-2.0

Beide, Hollande wie Sarkozy, redeten viel über erlittenes Unrecht, und Sarkozy versprach wie 2007, nach der Wahl die Möglichkeit einer Anerkennung als Kriegsopfer und einer kleinen Rente für die Überlebenden zu prüfen. Neu war, dass 2012 auch die Harkis in so einem Wahlkampf eine Rolle spielten, wenigstens ein bisschen. Anfang April richtete Hollande eine Grußbotschaft an die Interessenvertretung der Harkis, in der er sagte, dass der französische Staat diese Menschen im Stich gelassen habe und sich nun seiner Verantwortung stellen müsse. Sarkozy, der bereits im September 2011 ein paar Harki-Veteranen einen Orden angeheftet hatte, reagierte prompt, fuhr am 14. April in die Pyrenäen und besuchte Rivesaltes, trotz heftiger Kritik des Front National. Rivesaltes ist eines dieser vorwiegend in unzugänglichen Gegenden des französischen Südwestens eingerichteten Lager, in denen die Harkis jahrzehntelang unter menschenunwürdigen Bedingungen leben mussten.

Dann tötete Mohamed Merah sieben Menschen, bevor eine Spezialeinheit der Polizei nach 32-stündiger Belagerung (mittlerweile als "Schlacht von Toulouse" bekannt) seine Wohnung stürmte und ihn erschoss. Mohamed Merah war "ein 23-jähriger Franzose algerischer Herkunft", wie es in den Berichten immer heißt. Die algerische Regierung forderte, das mit der Herkunft wegzulassen, weil es den Eindruck erwecke, Algerien und die Muslime seien schuld. Ganz unrecht hatte sie damit nicht. Noch während der Belagerung wurde gemeldet, Merahs "algerische Mutter" sei eine Salafistin und habe ihren Sohn indoktriniert, oder der Bruder sei ein Salafist, und jedenfalls sei auch Mohamed Merah selbst ein Salafist oder diesen nahe stehend. Damit war das Böse wieder einmal erfolgreich ausgegrenzt und den anderen in die Schuhe geschoben.

Natürlich gibt es gewalttätige Islamisten, den Antisemitismus in Teilen der arabischen Welt und so weiter. Aber Mohamed Merah ist in erster Linie ein Produkt der französischen Gesellschaft. In Toulouse, wo er aufwuchs, tobten 2005 nach Paris die heftigsten Unruhen in den verwahrlosten Banlieus. Er scheint ein von Armut, Diskriminierung und Demütigung geprägtes Leben geführt zu haben. Seine Biographie ähnelt der von Ali La Pointe in Die Schlacht um Algier und unterscheidet sich von der von Tausenden seiner Altergenossen nur dadurch, dass er zum islamistischen Terroristen oder zum Serienmörder wurde oder wie immer man das nennen will. Man kann alles darüber nachlesen in Quatre-vingt-treize, einer kürzlich erschienen Studie von Gilles Kepel über das Département Nummer 93 von Seine-Saint-Denis (2005 der Ort der schlimmsten Ausschreitungen). Da sind die jungen Muslime beschrieben, die täglich eine Gesellschaft erleben, die sie nicht haben will und die sich in oft religiös geprägte Parallelwelten zurückziehen. Einige von ihnen begeistern sich dann für den Jihad.

Den Film zum Thema gibt es auch. Er heißt La Désintégration, lief im Februar 2012 in den französischen Kinos an und wirkt wie eine unheimliche Vorahnung der Morde von Toulouse. Das liegt nicht daran, dass Philippe Faucon, der Regisseur und Drehbuchautor, hellseherische Fähigkeiten hätte. Alles ist seit Jahren bekannt. In einer Sendung des französischen Fernsehens über die Morde von Toulouse sagte Louis Caprioli, früher Chef der Pariser Terrorismusabteilung der Staatssicherheitspolizei, die Behörden seien bestens mit dem "Profil" von "jungen Delinquenten" wie Mohamed Merah vertraut. Das Problem bestehe darin, dass man so schwer bestimmen könne, wer von ihnen "extrem gefährlich" sei. Wenn dem so ist, sollte man sich vielleicht darum bemühen, dass solche "Profile" gar nicht erst entstehen. Das fällt in den Verantwortungsbereich der Politiker.

Damit, dass er drei jüdische Kinder und einen jüdischen Lehrer ermordete, spielte Merah der Führerin der Rechtsextremen in die Hände. Marine Le Pen hat den Front National "modernisiert", die "jüdische Weltverschwörung", mit der ihr Vater Wähler köderte, über Bord geworfen und den Islam als Sündenbock entdeckt (angesichts der Vorgeschichte ihrer Partei ist das ideal). Frau Le Pen hat auf der Straße betende Muslime mit der Eroberung Frankreichs durch Nazi-Deutschland verglichen und eigene Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt. Eine davon besagt, dass das gesamte im Großraum Paris verkaufte Fleisch halal sei, also von nach muslimischen Vorschriften geschlachteten Tieren stamme. Das könnte aus einem Film von Stanley Kubrick sein (in Dr. Strangelove vertritt General Jack D. Ripper die Theorie, dass die Kommunisten unsere Körpersäfte vergiften) und wäre skurril, wenn die anderen Kandidaten im Wahlkampf nicht mit einem Ernst darauf eingegangen wären, als handele es sich um eines der drängendsten Probleme überhaupt.

Sarkozy erklärte Marine Le Pens Mutmaßungen über die muslimische Unterwanderung der französischen Gesellschaft zuerst für Unsinn, vollzog dann unter dem Einfluss seiner Berater eine radikale Kehrtwende und versprach schärfere Fleischkontrollen nebst Kennzeichnungspflicht, auf dass die Franzosen nicht vergiftet werden. Dann stellte er gleich noch fest, dass es in Frankreich zu viele Ausländer gebe. Gemeint waren die Muslime, die auf über fünf Millionen geschätzt werden. Genaue Zahlen gibt es nicht. Viele der Muslime (der Prozentsatz ist sehr hoch und auch nicht so genau bekannt) sind französische Staatsbürger. Sie werden nur als "Ausländer" wahrgenommen und empfinden sich zunehmend auch selbst als solche.

Sarkozys Premierminister François Fillon räsonierte über "antiquierte" religiöse Schlachtriten bei Juden und Arabern. Der Mann hatte offenbar nicht kapiert, dass es jetzt nicht mehr um die jüdische, sondern um die islamistische Weltverschwörung geht, musste sich beim Großrabbi von Paris entschuldigen und ruderte eilig zurück. Den infamsten Beitrag zur "Halal-Debatte" lieferte der damalige Innenminister Claude Guéant. François Hollande hat angekündigt, das Kommunalwahlrecht für Ausländer einführen zu wollen. Der famose Monsieur Guéant warnte davor, dass in einem solchen Fall bald alle französischen Schulkinder zum Verzehr von Halal-Fleisch gezwungen würden. In der Wirklichkeit und abseits der Demagogie ist es so, dass viele Schulkantinen noch immer kein Mittagessen anbieten, das strenggläubige Muslime ohne Bedenken zu sich nehmen können. Gerade da, wo die Integration anfangen müsste, werden viele Kinder von "Arabern" ausgegrenzt.

Nach Toulouse gab Sarkozy den Präsidenten aller Franzosen (Juden und Muslime eingeschlossen), die Wahlkämpfer hielten kurz inne. Dann erfreute Marine Le Pen ihre Gefolgsleute mit einer hasserfüllten Rede über nicht assimilierte Einwanderer und mit Spekulationen darüber, wie viele Mohamed Merahs in den Flugzeugen sitzen, die täglich weitere Immigranten nach Frankreich bringen. So spielt man gesellschaftlich benachteiligte Gruppen gegeneinander aus. Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen erhielt Marine Le Pen besonders viele Stimmen von Menschen weißer Hautfarbe mit geringer Schulbildung und wenig Aufstiegschancen, unter ausländischer Konkurrenz leidenden Bauern, von Arbeitslosigkeit bedrohten Verlierern der Globalisierung. Der echte Mohamed Merah brauchte kein Flugzeug, das ihn nach Frankreich brachte, weil er in Toulouse aufgewachsen war.

So genau wollte das auch Sarkozy nicht wissen. Er erklärte Merah zum Monster und Fanatiker, ließ wissen, dass es ein "moralischer Fehler" sei, die Morde erklären zu wollen (und womöglich nach sozialen Ursachen zu suchen), kündigte weitere Sicherheitsgesetze an und schwadronierte - freundlich unterstützt von der deutschen Bundesregierung - über verschärfte Grenzkontrollen, während die Freunde der Vorratsdatenspeicherung in Berlin die Gelegenheit nutzten, um die Justizministerin unter Druck zu setzen. Prävention erfordert Ursachenforschung und ist ein schwieriges und langwieriges Geschäft, was Politikern keine Freude macht und bei der nächsten Wahl kaum Stimmen bringt.

Erotische Jahre mit Fantômas

Wie oft in solchen Fällen sind die Dinge am aufschlussreichsten, die sich an den Rändern des Scheinwerferlichts abspielen. Ausführlich berichtet wurde über die Beisetzung der drei jüdischen Kinder und des jüdischen Lehrers in Israel und die während der "Schlacht von Toulouse" in Montauban stattfindende Trauerfeier für die drei ermordeten Soldaten. Die Toten hatten bei den Fallschirmjägern gedient und damit bei der Truppe, die bis heute in algerischen Kriegscomics die Stelle einnimmt, die in britischen, amerikanischen oder französischen Comics der SS zugewiesen wird. Auch das, könnte ich mir denken, hatte mit den Morden etwas zu tun. Mit "das" meine ich nicht die Comics (die sind nur ein Symptom), sondern den nie aufgearbeiteten Algerienkrieg und seine Folgen.

Zwei der drei ermordeten Soldaten waren Muslime "nordafrikanischer Herkunft". Einer heißt Imad Ibn-Ziaten. Sein Leichnam wurde nach Marokko überführt. Wenn darüber noch berichtet wurde hieß es in der Regel, er sei in seiner "marokkanischen Heimat" bestattet worden, weil das irgendwie logisch zu sein schien. Imad wurde in Sotteville-les-Rouen geboren. Das ist ein Ort in der Normandie. Dort wuchs er auf. Er wurde in Marokko beigesetzt, weil er es sich so gewünscht hatte oder weil sich seine Eltern dafür entschieden, die beide in Frankreich leben. Wer heute solche Überführungen anbietet braucht sich keine Sorgen zu machen, den Laden zusperren zu müssen, wenn alle gestorben sind, die irgendwann aus den früheren Kolonien in Nordafrika nach Frankreich einwanderten. Viele Kunden dieser Unternehmen sind französische Staatsbürger in der zweiten oder dritten Generation. Über den Zustand der französischen Gesellschaft im Jahr 2012 sagt das eine Menge.

Ob Politikberater wie Patrick Buisson, ein Experte für Meinungsumfragen und gesundes Volksempfinden, daran etwas ändern werden? Nach Toulouse gab Buisson in Sarkozys Wahlkampfteam wieder den Ton an wie schon 2007, als er dem Kandidaten riet, die Einrichtung eines "Ministeriums für Einwanderung und nationale Identität" anzukündigen. Daraus wurde zur Jahreswende 2009/10 eine von der Regierung initiierte Reihe mit über 200 Veranstaltungen und eine Aktion im Internet, wo gefragt wurde: "Was bedeutet es, Franzose zu sein?" Die Antworten konzentrierten sich überwiegend darauf, wer nach Meinung der Teilnehmer nicht dazugehört (Juden, Muslime, echte oder imaginierte Ausländer). Dem Vernehmen nach waren 2500 von 40.000 Beiträgen offen fremdenfeindlich und/oder rassistisch, weshalb Einwanderungsminister Eric Besson seine groß angekündigte Auswertung der Aktion, mit der er den Nationalstolz festigen wollte, auf unbestimmte Zeit verschob. In der Regierungspartei UMP hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass man damit höchstens die Positionen des Front National festigen würde.

Kurz vor dem ersten Wahlgang 2012 entdeckte Sarkozy, welch glorreichen Sieg Napoleon in der Schlacht von Austerlitz errang und dass nicht alles schlecht war in der kolonialen Vergangenheit der Grande Nation. Patrick Buisson (auch "Fantômas" genannt, weil er als Schattenmann hinter den Kulissen tätig ist), dem Sarkozy diese Erkenntnisse verdankte, ist Direktor eines TV-Geschichtssenders, Inhaber der Beratungsfirma Publifact und Autor mehrerer Bücher. In 1940-1945: années érotiques (2008) führt er aus, dass Frankreich auch deshalb vor Nazi-Deutschland kapitulieren musste, weil es unter den französischen Männern zu viele erschlaffte Onanisten gab. Von den virilen und gut gebauten, oft mit nacktem Oberkörper herumstehenden Besatzern wurden die Franzosen dann nachhaltig erotisiert. Für die ihrer masturbierenden Männer überdrüssigen Frauen galt das genauso wie für die Kollaborateure, unter denen sich Buissons Forschungsergebnissen nach überdurchschnittlich viele Schwule befanden. Wie das wohl mit der innigen Beziehung zwischen Merkel und Sarkozy zusammenhängt? Und ob auch der etwas ungelenke François Hollande davon wird profitieren können?

1984 gab Buisson das Album Le Pen heraus (Untertitel: "images d’un français"), über das sich der Vater von Marine nicht beklagen konnte. Im selben Jahr erschien Buissons O.A.S: Histoire de la résistance française en Algérie (1984). Der streng katholische Autor, der in den 1980ern die - vorsichtig gesagt - rechtspopulistische Wochenzeitung Minute leitete, war da kein Unbekannter mehr. Er hatte erstmals als Schüler von sich reden gemacht, als er sich weigerte, während einer Gedenkminute für die Opfer der O.A.S. aufzustehen. Auch durch die Wahl seiner Berater kann man Geschichte lebendig machen - und ganz schnell vergessen, woran man sich soeben erst erinnert hatte.

Im Dienst der Republik

Ebenfalls ganz schnell vergessen wurden die Folterungen und die übrigen Gräuel des Algerienkriegs, der bis 1999 keiner gewesen sein durfte. Der von wüsten Beschimpfungen und Todesdrohungen begleitete Skandal, den im Jahr 2000 ein Zeitungsartikel auslöste, lässt sich anders kaum erklären. Am 20. Juli veröffentlichte Florence Beaugé in Le Monde einige Ergebnisse ihrer Recherche zur "Folter durch die französische Armee in Algerien". In dem Artikel berichtete Louisette Ighilariz, ehemals Mitglied eines FLN-Kommandos, was ihr von September bis Dezember 1957 bei den Fallschirmjägern widerfahren war. Ihrer Aussage nach war sie wiederholt nackt ausgezogen, sexuell missbraucht und gefoltert worden. Um Informationen zu erpressen, habe man fast ihre gesamte Familie verhaftet und auch gefoltert. Ihre Mutter habe drei Wochen lang "le supplice de la baignoire" (die Qual der Badewanne) ertragen und dabei zusehen müssen, wie ihr dreijähriger Sohn aufgehängt wurde. Die Badewanne ist nicht wörtlich zu verstehen. Die englische Übersetzung von la baignore ist Waterboarding.

Solche Vorwürfe hatte es auch früher schon gegeben. Die Armee hatte dann immer die Reihen geschlossen, und daran war alles abgeprallt. Dieses Mal war es etwas anders. Der von Louisette Ighilariz namentlich genannte Marcel Bigeard, später zum General und unter Präsident Giscard d’Estaing zum Staatssekretär im Verteidigungsministerium aufgestiegen, zeigte die übliche Reaktion, stritt alles ab und bezeichnete Louisette Ighilariz als Lügnerin. Aber General Massu, auch namentlich genannt, gab Florence Beaugé ein am 22. Juni veröffentlichtes Interview, in dem er bestätigte, dass in Algerien gewohnheitsmäßig gefoltert worden war. Im Fall von Louisette Ighilariz sei man wohl etwas zu weit gegangen. Massu versicherte, dass er diese Vorgänge inzwischen bedauere und persönlich nie gefoltert habe. Dieses und ein im November folgendes Interview brachten es in die wichtigsten Nachrichtensendungen des Fernsehens. Damit wurden mehr Franzosen als je zuvor mit einer verdrängten Vergangenheit konfrontiert.

Am 31. Oktober erschien in L’Humanité ein - am 7. November in etwas veränderter Form von Le Monde nachgedruckter - Aufruf, dessen Unterzeichner (einer war Henri Alleg) eine Entschuldigung im Namen der Republik verlangten. Das hätten damals der sozialistische Premierminister Lionel Jospin und Jacques Chirac machen müssen, der Vorgänger von Sarkozy als Staatspräsident. Für die Opfer und ihre Angehörigen sind solche Entschuldigungen wichtig, weil sie ihr Leid anerkennen und ihnen einen gewissen Seelenfrieden verschaffen. Spitzenpolitiker überlegen in solchen Situationen, ob eine Entschuldigung Schadensersatzforderungen nach sich ziehen wird, ob sie ihren Wählern (und denen, die es beim nächsten Mal werden sollen) zumutbar ist und was sonst noch alles herauskommen könnte. Also war es so wie eigentlich fast immer. Weder Jospin noch Chirac nahmen die Gelegenheit wahr, das Verdrängte ehrlich anzusprechen und damit etwas für die Gegenwart zu tun. Beide Herren beschlossen, sich bedeckt zu halten und den Sturm vorüberziehen zu lassen.

Eine neue Dimension erreichte die durch Florence Beaugés Recherchen ausgelöste Debatte, als am 23. November 2000 das Interview mit General Aussaresses erschien. Offenbar hatte sich in den Jahren, in denen er sein Gewerbe überwiegend im Verborgenen ausgeübt hatte, ein großes Mitteilungsbedürfnis in ihm aufgestaut. Vielleicht hatte er sich über den einst so forschen Massu geärgert, der aus seiner Sicht wohl zum Weichei geworden war, oder er hatte genug von der Heuchelei, mit der immer von "Polizeimethoden" oder "blutigen Ereignissen" gesprochen wurde. Aussaresses ging die Sache offensiv an, bestätigte Folter und Liquidierungen, bekannte sich zu persönlich verübten Taten und erklärte, dass so etwas im Interesse des großen Ganzen eben manchmal sein müsse, weshalb es nichts zu bedauern gebe. 2001 legte er mit seinem Buch Services spéciaux noch einmal nach. Da erfährt man mehr, als man je wissen wollte. (Die englischsprachige Version, 2004 bei Enigma Books erschienen, hat den Titel The Battle of the Casbah: Terrorism and Counter-Terrorism in Algeria 1955-1957.)

Nach der Veröffentlichung von Services spéciaux konnten sich der Präsident und der Premierminister nicht länger wegducken. Jospin teilte mit, dass er den General moralisch verurteile und Chirac war via Presseaussendung vom 5. Mai 2001 "entsetzt". Aussaresses, damals noch Mitglied der Reserve, wurde in den endgültigen Ruhestand verabschiedet. Als sonst nichts geschah, zeigte die Französische Liga für Menschenrechte den General wegen der "Entschuldigung von Kriegsverbrechen" an. Einer Anklage wegen der 24 Gefangenen, die Aussaresses laut seiner Aussage in Le Monde eigenhändig getötet hatte, gaben die Juristen wegen der Amnestie von 1968 keine Chancen. Hohe militärische Würdenträger waren wütend auf Aussaresses, weil er sich nicht an das Schweigegebot gehalten hatte, sahen sich nun aber genötigt, die Ehre der Armee zu verteidigen.

General Maurice Schmitt, von 1987 bis 1991 Generalstabschef, tat das vor Gericht und mit einem eigenen Buch (Alger - Été 1957. Une victoire sur le terrorisme). An der Verteidigungslinie der Militärhierarchen kann man sehen, wie sehr sie in den alten Denkmustern gefangen waren und wie wenig sie die Revolution in Algerien verstanden hatten. Damals, machten sie geltend, kämpfte man gegen die Agenten der die Weltherrschaft anstrebenden Sowjetunion, sogar daheim in Paris gab es kommunistische Verschwörer, die Gegner waren schlimme Leute, auf französischer Seite gab es einzelne Übergriffe und vielleicht nicht mal die (in Interviews erklärte Schmitt den im Oktober 2002 verstorbenen Massu für dement und Aussaresses für größenwahnsinnig). Ich behaupte nicht, dass ich die arabische Welt nach 1945 verstanden habe, bin aber überzeugt, dass sie noch nie in die Raster des Kalten Kriegs passte. Die französische Kolonialarmee scheiterte auch deshalb an der FLN, weil sie das offenbar nicht begreifen konnte.

2002 wurde General Aussaresses zu einer Geldstrafe von 7500 Euro verurteilt. Die beiden Direktoren des Verlags Plon, bei dem Services spéciaux erschienen war, mussten je 15.000 Euro zahlen. Aussaresses sagte vor Gericht, dass nie ein direkter Folterauftrag erteilt worden sei. Er habe trotzdem verstanden, was erwartet wurde und seine Pflicht getan. Er hätte keine Skrupel, auch Osama bin Laden zu foltern. Die meisten Terroristen würden früher oder später zusammenbrechen und einem verraten, was man wissen wolle. Wenn man daran denkt, was zu der Zeit in Guantanamo und in anderen Folterlagern passierte, kann einem schlecht werden. Im September 2003 meldete die Washington Post, dass die Militärstrategen im Pentagon Pontecorvos Die Schlacht um Algier studierten, um daraus für den Irak zu lernen, nachdem es in Afghanistan nicht ganz so gelaufen war wie erwartet. Welche Lehren die Experten aus dem Film zogen, unterlag der Geheimhaltung. Es war sogar so geheim, dass man bis heute nichts davon mitbekommen hat.

Das Urteil gegen General Aussaresses wurde im Dezember 2004 in letzter Instanz bestätigt. Die 7500 Euro musste er nun - vorläufig - überweisen. Im Juni 2005 wurde im französischen Amtsblatt veröffentlicht (und damit rechtswirksam), dass Präsident Chirac den General aus der Ehrenlegion ausgeschlossen hatte. Das offizielle Frankreich hatte sich darauf verständigt, dass Aussaresses ein böser Mensch war und ein Einzeltäter und als solcher keineswegs repräsentativ für das Verhalten der Streitkräfte im Algerienkrieg. Der Verlag zog vor den Europäischen Gerichtshof. Im Januar 2009, mehr als fünfzig Jahre nach den von Aussaresses geschilderten Ereignissen, urteilte der Gerichtshof im Sinne der Beschwerdeführer. Die Geldstrafen, so die Begründung, verstießen gegen das Recht auf Meinungsfreiheit. Diese gelte auch für Informationen, die "verletzen, schockieren und beunruhigen". Außerdem handele es sich um einen Fall von öffentlichem Interesse. Das Buch liefere einen wichtigen Beitrag zur Diskussion darüber, ob im Algerienkrieg gefoltert wurde und ob dies mit Zustimmung der französischen Regierung geschehen war. Den Beschwerdeführern wurde eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 33.000 Euro zugesprochen.

Das sind die Geschichten, die sich mit ein wenig Geschick weiterspinnen lassen. Dann wird - beispielsweise - eine Erzählung über die Verderbtheit des Westens daraus, der Muslime foltert, den Tätern und deren Helfern am Ende noch Geld bezahlt und das mit der angeblich so wichtigen, die Gefühle der Muslime verletzenden Meinungsfreiheit rechtfertigt. Schuld daran ist nicht der Europäische Gerichtshof. Das Verdrängen von dem, was gewesen ist, hat Folgen, die schwer zu kontrollieren sind. Irgendwann wird jemand genauer untersuchen, was die unrühmliche Vergangenheit und der Umgang mit ihr in der Gegenwart für Spuren bei den jungen Leuten mit gespaltener Identität hinterlassen hat, die in die Vorstadtghettos abgeschoben wurden und sich mit einer Religion oder einem anderen Gesellschaftsmodell identifizieren, weil ihnen das Land, in dem sie leben, nichts anzubieten hat.

Teufelskreis

Zum Schluss möchte ich auf Jean Martin zurückkommen, den einzigen Profi-Darsteller in Gillo Pontecorvos Die Schlacht um Algier und auf The Day of the Jackal von Fred Zinnemann, mit dem dieser Aufsatz angefangen hat. Der im ehemaligen Österreich-Ungarn geborene, in Wien aufgewachsene und über Berlin nach Amerika übersiedelte Zinnemann drehte 1944 mit The Seventh Cross einen der ersten KZ-Filme (nach dem Roman von Anna Seghers). Von den Franzosen nicht in den Himmel für auteur-Regisseure aufgenommen, weil er angeblich nur Auftragsarbeiten ohne persönliche Handschrift ablieferte, wird er meistens unterschätzt. Die persönliche Handschrift ist durchaus zu erkennen, wenn man genauer hinschaut. Sie zeigt sich zum Beispiel in der Besetzung der Nebenrollen.

Jean Martin spielt bei Pontecorvo den Colonel Mathieu, jenen aus mehreren realen Vorbildern zusammengesetzten Repräsentanten der in Algier gegen die FLN und die Bewohner der Kasbah kämpfenden Fallschirmjäger. Früher Mitglied der Résistance und Opfer der Gestapo, rechtfertigt Mathieu die Folter, indem er sie relativiert wie nach ihm Aussaresses in seinem Buch: Die liquidierten, in Lager gesperrten und gefolterten Menschen wiegen weniger schwer als diejenigen, die dadurch theoretisch gerettet werden; die anderen sind viel schlimmer, und die Nazis sowieso, und verglichen mit ihnen ist unsere Folter gar keine Folter, weshalb wir sie auch nicht so nennen; etc.

Pontecorvo lässt das nicht gelten. Wer foltert, sagt sein Film, überschreitet eine Grenze, die nicht überschritten werden darf und begibt sich auf eine abschüssige Ebene, auf der er unweigerlich in die Tiefe rutscht. Und als Botschaft an die Pragmatiker: Wer zu solchen Mitteln greift, kann vielleicht kurzfristig einen Erfolg erzielen, auf lange Sicht jedoch nur verlieren. Jacques Allaire, zur Erinnerung, war der Offizier, der Larbi Ben M’Hidi festnahm und in dem Wissen an seine Vorgesetzten übergab, dass diese ihn foltern und ermorden würden. Er denke nicht, meinte er 2002 in einem Fernsehinterview, dass er in Algerien seine Ehre als Soldat verloren habe - ein Stück von seiner Seele aber sehr wohl. Wie soll man so einen Krieg gewinnen, in dem es auch um konkurrierende Wertvorstellungen und Ideale geht, nicht nur um Öl und Waffen?

The Day of the Jackal

Wenn man Die Schlacht um Algier zusammen mit The Day of the Jackal sieht, wird aus Pontecorvos schiefer Ebene ein Teufelskreis. Das ist kein Trost, vertieft aber die Erkenntnis. Jean Martin taucht als einer von den Offizieren der französischen Kolonialarmee wieder auf, die sich der OAS angeschlossen haben und durch ein Attentat de Gaulle beseitigen wollen, um das Abkommen von Évian zu torpedieren. Zinnemann schreibt damit die Biographie von Pontecorvos Colonel Mathieu alias Wolenski (Martins Rollenname in Jackal) weiter fort. Die französische Polizei und der Geheimdienst wollen das Attentat verhindern. Dafür brauchen sie Informationen. Wolenski wird auf offener Straße entführt, nach Frankreich in ein Geheimgefängnis geschafft und gefoltert. Damit schließt sich der Kreis. Martin alias Wolenski alias Mathieu wird als Mitglied einer Untergrundorganisation (die Résistance) von der Gestapo gefoltert, foltert als Angehöriger einer Besatzungsarmee mit den bei der Gestapo gelernten Methoden die Mitglieder einer Untergrundorganisation (die FLN) und wird dann wieder als Mitglied einer Untergrundorganisation (die OAS) gefoltert. Durch die Folter ist er genau dahin zurückgekommen, wo er angefangen hat. Es gibt nur immer noch mehr Tote und noch mehr Gewalt. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

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