Nichts ist schöner als Bausünden

Seite 3: Herr, vergib uns, wie auch wir vergeben unsern Nachbarn

Bertolt Brecht behauptete: "Das Volk ist nicht tümlich." Brechts klassenbewusste Position ist längst von einer Bewusstseinsindustrie okkupiert und überspielt, die das Volkstümlerische nicht erst in den Köpfen platzieren muss, weil es dort je schon vorhanden ist.

Der Austausch zwischen den inneren Bildern und Wunschvorstellungen einerseits und den Angeboten der Kulturindustrie andererseits nennt sich Selbstverwirklichung. Sie scheint am besten einem Mittelstand zu gelingen, der sich im neuen Eigenheim vor der Stadt niederlässt. Oder sind die Traumbilder von einer trauten Trutzburg im Grünen etwa vorfabriziert von der Bauindustrie, die ein Instant-Ambiente frei Haus verspricht?

An dieser Stelle lahmt die Selbstverwirklichung bereits. Individualität wird nachgereicht, wird der Fassade, dem Eingangsbereich und dem Vorgarten verpasst mit allem, was die Baumärkte zu bieten haben. Diesen Besonderheiten widmet sich Fröbe in ihrem jüngst herausgekommenen Bildband "Eigenwillige Eigenheime". Wie im Band davor, der größere Einheiten zum Thema hatte, geht sie bei der Dokumentation von Einfamilienhäusern nicht mit dem architekturpädagogischen Zeigefinger vor, sondern mit feinherber Ironie. Die Eigenheimkolonien sind zu schön, um modern zu sein. Wenigstens nach der Intention ihrer Bewohner.

Fröbe nimmt die Häuser, wie ihre Eigentümer sind. Sie müssen selbst erkennen, wann und wo ihre gestalterischen Bemühungen ins Komische umschlagen. Humor ist, wenn man selber über sich lacht.

Die Individualisierungssucht kann zwanghaft werden, sobald sie auf Nachbarn stößt, die ebenfalls davon befallen sind. Die Distanzierung vom ungeliebten Nachbarn wird besonders an Doppelhaushälften sichtbar. Fassadenmaterial und Anstrich, Friese und Fenster, Aufgänge und Zäune - alles wird strategisch eingesetzt, um die Bausünden der Nachbarn "zu beantworten, zu kommentieren, zu übertrumpfen oder um ganz einfach neben ihnen bestehen zu können." Die Doppelhaushälften sehen dann aus, als sei ein scharfes Messer in sie gefahren. Durch den Riss in der Mitte bekommen solche "Schizohäuser" zwei unterschiedliche Gesichtshälften.

Das Wettrüsten geschieht nach dem Motto: Viel ist nicht genug. Eine durchgehende Erscheinung sind "pseudo-neohistoristische" Fassadengestaltungen. Aber anything goes. Etwa: Bayrischer Barock meets Tausendundeine Nacht. Oder: Gelsenkirchener Barock verläuft sich nach Bayern. Einig sind sich die eigenwilligen Eigenheimbesitzer nur in einem Punkt: Bausünden sind immer die der anderen.

Zur Straße hin entwickeln die Häuser geradezu Street-Art-Qualitäten, findet Fröbe. Mottogärten künden von fremden Kulturen. Miniaturisierte Themenparks inszenieren die italienische Renaissance. Säulen schmücken Schuppen und Garagen. Anklänge an die Antike erheben den Garagenkubus zum sakralen Bezirk eines Auto-Schreins. Wer Glück hat, dem wird das im Schrein Verborgene im Vorübergehen offenbart. Eine neue Sünde tut sich hier auf, die "Autosünde" SUV. Die Garage vermittelt die Innenwelt mit der Außenwelt.

Die Bausünde hat sich nach draußen ausgebreitet. Mit Schottergärten und Gabionen macht man nicht viel verkehrter, als es ohnehin schon ist. Grünpflege war gestern. Doppelstabmattenzäune, in die Fototapeten mit Ziegel, Bambus oder sogar Gabionen-Imitate eingefädelt werden, sind auf dem Durchmarsch von den Baumärkten in die schlechte Realität eigenwilliger Eigenheime. Aus der Montageanleitung eines Baumarktes für Doppelstabmattenzäune: "Du kannst dem Nachbarn zeigen, was Du drauf hast." Steht der Zaun erst einmal, lässt sich jedoch nichts mehr zeigen.

Zum guten Schluss stellt Turit Fröbe einen kleinen Katechismus für Bauherren auf. Daraus:

Sei mutig! / Überrasche deine Mitmenschen! / Bau deine Bausünde nicht für dich, sondern für die anderen! / Sei deinen Nachbarn immer einen Schritt voraus. Sie werden es dir danken! / Alles kann zur Bausünde werden! / Passt nicht geht immer! Vergib deinen Nachbarn!

Die Analogien und Schlüpfrigkeiten zwischen Dichtkunst und Baukunst, von denen dieser Beitrag seinen Ausgang nahm, können nun rekapituliert werden. Der Dichter Robert Gernhardt sagte über Gedichte wie das eingangs zitierte von den "schwebenden Engelein": Schlechte Gedichte müssen außerordentlich gut sein, um komisch zu wirken. - Das trifft nicht weniger auf die Kunst der Bausünde zu.

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