Nichts ist schöner als Bausünden

Seite 2: Am Anfang war die Ente

Berlin mit seinem unreflektierten Hang, Narben zu kitten und Zwischenräume zu schließen, ordnet Fröbe eher dem Pool der schlechten Bausünden zu. Aber abgespaced im wörtlichen Sinn ist der "Bierpinsel", ein ehemaliges Turmrestaurant, das 47 Meter über dem Straßenniveau wie eine Raumkapsel an einer Hochstraße aufragt.

Das (Flug-)Objekt ist seit Jahren nicht genutzt. Stilistisch liegt es zwischen Pop-Art und Betonbrutalismus. Ein neues Kleid aus Graffiti nimmt ihm die vormalige Schärfe. Es ist angekommen, um zu bleiben. Es wird akzeptiert. So werden aus Bausünden "Friendly Aliens". Von denselben Architekten stammt das wilde, die Technik und den Verkehr verherrlichende ICC Berlin, Dessen Chancen auf Erhalt steigen.

Das "Ahornblatt" in der Nähe des Alexanderplatzes, eine Preziose der DDR-Moderne, wurde nach der Wende durch eine schlechte Bausünde größter Langeweile ersetzt. Der Architekt jenes Großrestaurants, Ulrich Müther, wendete auch hier sein Markenzeichen an, eine Hyparschalen-Konstruktion, die das geflügelt wirkende Dach extra leicht machte. Die Form folgt dem Kraftfluss.

Müthers internationales Renommee konnte den Abriss des denkmalgeschützten Gebäudes im Jahr 2.000 nicht verhindern. Es war eine gute Bausünde ersten Ranges. Der Abriss half, die Spuren der Ostmoderne zu verwischen. Bestand in der Bauverwaltung die Furcht, dass sich das Ahornblatt zu einem Symbol des Widerstandes gegen eine Baupolitik entwickelt, welche die Bausünden der DDR durch die neuen Bausünden des Westens, darunter Rasterfassaden, ablöst? Ähnliches spielte sich um den Palast der Republik ab.

Bausünden stehen als solche im Kontext der Moderne, die sich ihrerseits auf die Neue Sachlichkeit der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts berief, aber in den seriellen Wohnungsbau à la "Platte" und in maßstabslose Monumentalbauten umkippte. Das geschah im Zeichen ungebremsten Wachstums. Diese "schlafenden Riesen" begannen als schlechte Bausünden und läuterten sich in dem Maße, wie sie sich in ihre Umgebung eingewöhnten. Das geht auf der anderen Seite nicht ohne die Gewöhnung des Auges des Betrachters ab.

Der Gewöhnungsprozess dürfte nur teilweise gelingen. Heraus kommt ein Oxymoron: "Hübsch hässlich" sind die aufgeblähten Hinterlassenschaften der Nachkriegsmoderne. Sie gewinnen an Authentizität und an Charme, je mehr ihre ursprünglichen Nutzungen obsolet werden. Sie stellen sich und den in Beton gegossenen Fortschrittsoptimismus aus ihrer Gründungszeit in Frage. Sie enthalten Veränderungspotential, etwa zur Umwandlung in Apartments.

Um es im Sinne Karl Rosenkranz’ zusammenzufassen: Was einst als Bausünde verworfen worden war, offenbart, sofern es in der Zwischenzeit nicht weggeschmissen worden ist, einen Schatz neu zu entdeckender Qualitäten. Die Bauwerke harren der Erweckung.

Die schlafenden Riesen oder "gestrandeten Wale" stellen auch eine Herausforderung für das veränderte soziale Milieu dar, in dem sie austrocknen. Die Modernisierung zu Wohnhochhäusern dürfte dem linksalternativen Publikum als Gentrifizierung sauer aufstoßen, und so wird der Zirkel aus Akzeptanz und Zurückweisung aufs Neue angestoßen.

Gute Bausünden haben einen Urvogel. Nicht Archaeopteryx, sondern eine Ente. Der Architekt Robert Venturi stieß auf sie in Flanders/New York und löste mit ihrer Hilfe eine Architekturdebatte aus, die seit den 60/70er Jahren anhält. Ein freistehendes Ladengeschäft, das ursprünglich Geflügel und Drumherum verkaufte, war in Form einer riesigen begehbaren Ente gestaltet worden. Es ist bis heute ein Blickfang von hohem Wiedererkennungswert. Die Form des Baus ist mit der Botschaft verschmolzen.

Als ein Vertreter der Postmoderne missachtet Venturi bewusst seriöse europäische Symbol- und Zeichentheorien, wonach eine Ente nicht das Symbol einer Ente sein kann. Der ganze Bau ist eine Ente, was Venturi auch umdreht und den von ihm favorisierten plastischen Architekturtyp "Ente" nennt. Streng genommen ist es gar keine selbständige Architektur mehr.

Venturi, der maßgeblich an dem Schlüsselwerk "Learning from Las Vegas" (1972) beteiligt war, leugnet nicht, dass sein Credo für eine "Enten-Architektur" sich mit den trivialen und mitunter hässlichen Formen des Bauens deckt, die für Städte so bemerkenswert sind. Die Städte stellen nach Venturi dennoch tagtäglich ihre Funktionalität unter Beweis, und ihre gegen den guten Geschmack verstoßende Alltagsbaukunst ist bei der Mehrheit der Einwohner populär.

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