"Nichts muss so bleiben, wie es ist."
Angela Merkel als Deuterin von Weltgeschichte
Die Bundeskanzlerin, sonst eher pragmatisch sich äußernd, hat zum 25. Jahrestag des Mauerfalls geschichtsphilosophisch gesprochen: "Nicht muss so bleiben, wie es ist", hieß ihr nun vielzitierter Satz. Als ein Hoffnungszeichen will sie ihn verstanden wissen für die derzeit von schlimmsten Bedrängnissen heimgesuchten Regionen in der Welt. "Träume können wahr werden", fügte sie hinzu. Historisch galt das dem Ende des ostdeutschen Staates, aber es lag Verallgemeinerung darin, Aufmunterung im Hinblick auf die Zukunft anderer Länder und Gesellschaften.
Es empfiehlt sich, Deutungen des Laufs der weltgeschichtlichen Dinge historisch-empirisch näher anzuschauen und der Frage nachzugehen, ob sie sich denn als einigermaßen plausibel erweisen.
Versuchen wir es einmal mit dem Zeitraum nach 1989. Vieles ist seitdem in der Tat nicht so geblieben, wie es war: Weitaus extremer als in den Jahren davor verwüsteten kriegerische Aktivitäten ganze Territorien, vom Mittleren und Nahen Osten über den Balkan bis Afrika. Politisch oder religiös daherkommender Terrorismus ist zum Alltagsphänomen geworden. Massenhafte Fluchtbewegungen haben sich massiv ausgeweitet. Auch in den wirtschaftlich potenten Gesellschaften expandiert Armut, beträchtliche Teile der nachwachsenden Generation befinden sich auch hier in Aussichtslosigkeit.
In der Europäischen Union breiten sich innere Konflikte aus, bestehen begründete Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Währungs- und Finanzsystems, nationalistische Demagogie hat neue Erfolge. Und mit dem geopolitischen Kampf um die Ukraine kehrt der Kalte Krieg zurück. Der Fall der Mauer in Deutschland war keineswegs ein Startsignal für einen internationalen Wettlauf hin zu zivilen, sozial ausgeglichenen, auf Verständigung und Friedlichkeit setzenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Träume, die sich bestätigt haben? Wohl eher Albträume...
So die Weltgeschichte seit 1989. Aber nun eine Wende, alles wird gut? Weil eine deutsche Kanzlerin es ansagt? Verfügt sie über prophetisches Potenzial? Will sie auffordern zu einer weltweiten "Bekehrung" der politischen Akteure, zu einem "Metanoeite" in den Grundmustern der Politik?
Soviel Selbstüberschätzung kann man Angela Merkel nicht unterstellen. Der schöne Satz war eher gedacht als Trost, als Beruhigung für alle diejenigen (auch hierzulande sind das nicht wenige ), denen höchst unwohl ist bei dem Gedanken an den Fortgang der weltweiten politischen und sozialen Entwicklung. Unter den bestehenden Bedingungen des Erwerbs und der Verwendung von Macht. Von denen die Bundeskanzlerin nicht sprechen mag. Sie ist ja Pragmatikerin.