Nieder mit dem Doping-Pranger!

Stand auch mal auf der Doping-Liste: Koffein. Bild Molekül: NEUROtiker / Grafik:TP

Einnahme leistungssteigernder Mittel im Sport wird hochmoralisch bewertet. Aber wie kommt das Kontrollregime zustande, wer macht die Regeln? Eine Betrachtung anlässlich der anstehenden Winterspiele in Peking (Teil 2 und Schluss)

Grundlage für die heute geltenden Regeln im Kampf gegen das Doping ist der sogenannte World-Anti-Doping-Code (WADC), in der neben einigen grundsätzlichen Bestimmungen und Begründungen vor allem die Liste der verbotenen Substanzen und Methoden eine essenzielle Rolle spielen. Geregelt wird auch, was maßgeblich zu beachten ist, wenn man als Athlet:in Medikamente zu sich nimmt.

Da auch Sportler:innen regelhaft Medikamente zu sich nehmen, ohne sich davon notwendigerweise eine Leistungssteigerung (im Sinne eines Zaubermittels) zu versprechen, müssen sie insbesondere darauf achten, nicht "aus Versehen" das Falsche zu sich zu nehmen.

Als Untersuchungsobjekt bietet sich hier zum einen diese Liste selbst an, vornehmlich wie sie zustande kommt, wie sie sich verändert und welche Diskurse um die Aufnahme (oder gelegentliche Streichung) von Wirkstoffen bestehen.

So war etwa Koffein einst indiziert, ist es längst aber nicht mehr. Cannabis ist es immer noch. Probleme können sich hier ergeben, wenn Cannabis als Freizeitdroge konsumiert wird, primär in Ländern, wo dieses erlaubt oder geduldet ist.

Cannabis ist lange nachweisbar, was problematisch bei Kontrollen sein könnte. Kriminologisch interessant sind also die Regeln selbst, welches legale, und damit soziale Konstrukte sind, die eben nicht vermeintlich natürlichen Vorgaben folgen oder sich einfach logisch aus ihrem Gegenstand ergeben.

Und bereits an dieser Stelle bedeutet es keine Duldung des Dopings, wenn man sich mit den Regeln beschäftigt, denen sich Sportler fügen müssen, ohne dass sie ein Mitspracherecht bei deren Ausgestaltung haben.

Das aber wäre wichtig, da die Kontrollmaßnahmen tiefgreifende Eingriffe in ihre Grundrechte darstellen können (siehe weiter unten).

Law breaking – Regeln brechen

Wo Regeln existieren, können diese gebrochen werden. Deshalb gibt es bei vielen Sportdisziplinen Schieds- oder Wertungsrichter:innen, die über eine Einhaltung wachen. Wenn es also Regeln über die Einnahme von bestimmten Medikamenten oder pharmazeutischen Wirkstoffen gibt, dann, siehe oben, gibt es diese aus bestimmten Gründen.

Einige dieser Gründe liegen in den Werten "Fairness" und "Chancengleichheit" einerseits begründet, sowie andererseits in einer Art "Natürlichkeitsfiktion" körperlichen Leistungsvermögens, welches nicht durch "Mittel von außen" beeinflusst werden soll. Denn dann wäre ja eine Fairness nicht mehr gegeben und die Chancengleichheit aufgehoben.

Aus kriminologischer Sicht handelt es sich hierbei um abweichendes Verhalten, um einen strafbewehrte Regelbruch mit zum Teil drastischen Strafen für die betroffenen Sportler:innen. Abgesehen davon, dass diese von verschiedenen Seiten und in der öffentlichen Wahrnehmung als "Betrüger:innen" o.ä. markiert werden, werden sie innerhalb einer Sportgerichtsbarkeit mit Sperren belegt, und dank des Anti-Doping-Gesetzes von 2015 auch mit Geld- und/oder Gefängnisstrafen durch die ordentliche Gerichtsbarkeit.

Alle drei Bereiche – öffentliche Beurteilung, Sportgerichtsbarkeit, ordentliche Gerichtsbarkeit – sind Grund genug, sich mit dem besonderen Regelbruch im Sport zu beschäftigen, der in der Einnahme von nicht erlaubten Substanzen besteht. Es gibt auch andere Regelbrüche im Sport, die entweder von Schiedsrichtern als Teil des Wettkampfes sofort geahndet werden, oder andere Aspekte betreffen, so etwa Wettverbote oder Richtlinien der Materialbeschaffenheit in bestimmten Sportarten.

Das Wieviel und Warum des Dopings sind deshalb auch der Fokus vielfacher Forschung in diesem Bereich. Grundsätzlich begleitet wird diese Art der Forschung von der Schwierigkeit hier valide Daten zu bekommen.

Allein auf die Zahl der entdeckten Fälle und überführten Sportler:innen zu schauen, würde dem auf keinen Fall gerecht werden, dazu sind die Kontrollen zu gering, die Aufdeckungsrate zu klein. Doping ist wesentlich verbreiteter als es die positiven Kontrollen vermuten lassen.

Vielfach handelt es sich hierbei also um sogenannte Dunkelfeldstudien – das gilt für die quantitative Erfassung als noch mehr für die Gründe, die hinter der Einnahme von bestimmten Mitteln stehen.

Zur Auskunft bereit sind meistens nur überführte und ausreichend reuige Sportler:innen – und selbst letztere stellen nur eine kleine Gruppe der Überführten dar. Und während die Zahlen noch grundsätzlich wichtig sind und eine mehr oder weniger sportbegeisterte Öffentlichkeit daran Interesse zeigt, dürfte das für die Gründe des Dopings so nicht mehr zutreffen.

Wobei festzustellen ist, dass der Sport eine sehr eigenartige Anziehungskraft besitzt, welche dabei hilft, das Thema Doping vor allem als skandalösen Regelbruch wahrzunehmen, aber darüber hinaus das Thema weder zeitlich noch inhaltlich von maßgeblichem Interesse ist. Das gilt für das Publikum bis zu einem gewissen Grad, für den Sport selbst fast vollständig.

Auch wenn Urteile über die "Doper" häufig sehr hart ausfallen, scheinen nur solche Athlet:innen langfristige Konsequenzen zu fürchten haben, die über die sportimmanenten Strukturen Auskunft geben, oder das System Sport als solches kritisieren und angreifen. In eher seltenen Fällen sind dabei auch solche, die es über Maßen übertreiben, wie etwa der Radsportler Lance Armstrong.

Wenn es also um die Gründe geht, dann sind solche, die ein individuelles "Versagen" oder "Verfehlen" in den Vordergrund stellen, weitaus verzeihbarer – wenn man das so ausdrücken möchte –, insbesondere wenn es sich dabei um Sportler:innen mit vielen Erfolgen handelt.

Neben der quantitativen Verbreitung von Doping in den Disziplinen sind aber die Gründe – individuelle als auch systematische – von hohem Interesse, eine solche Forschung also im Kern kriminologisch, nicht zuletzt, weil es gerade zur Erklärung abweichenden Verhaltens eine ganze Palette kriminologischer Theorien gibt, die man hier zur Analyse beisteuern könnte.

Dazu muss dann folgerichtig aber auch gehören, sich weiterhin mit dem "Wie" des Dopens, und im Besonderen auch mit dem Erleben des Regelbuches selbst auseinanderzusetzen. Nur den Regelbruch als die Verletzung einer Norm zu werten und sich nicht mit diesem selbst zu beschäftigen, mit seinen Bedingungen, dem Erleben und Kontext, würde zu wenig mehr führen, als einer Aufzählung und möglicherweise der Psychologisierung sowie der vorschnellen Kriminalisierung der Täter:innen.

Man könnte in der Tat auch darüber streiten, ob es sich bei Regelverletzungen im Sport überhaupt um "kriminelles Verhalten" handelt und warum dieses unter bestimmten Bedingungen so dargestellt wird.

Und wenn man davon ausgehen kann, dass bereits die Regeln, die aus der Einnahme von Medikamenten unter bestimmten Voraussetzungen eine zu sanktionierende Tatsache machen, sozio-legale Konstruktionen sind, dann gehört bei der Analyse der Regelbrüche auf jeden Fall auch das Umfeld des Regelbruchs mit in die Forschung.

Das betrifft in diesem Fall den Sport selbst und das Phänomen der permanenten Leistungssteigerung, welches ab einem bestimmten Punkt dann doch nicht mehr überschritten werden darf. Weiterhin wäre es Teil einer kriminologischen Betrachtung von Doping zu analysieren, wer die Regelbrüche begeht und ob sich hier Muster erkennen ließen, die u.U. auch für eine Prävention nutzbar wären.

Kriminologisch gesehen bedeutet die Betrachtung des Regelbruchs zusammenfasst mehr als nur seine Häufigkeit festzustellen. Vielmehr geraten der Akt und seine Bedingungen in den Blick, jenseits jeder moralischen Betrachtung oder rechtlichen Bewertung. Letztere beiden würden sich dann eher in der Beschäftigung mit den Reaktionen auf den Regelbruch wiederfinden.

Reaktionen auf den Regelbruch beim Doping

Es klang in den beiden vorherigen Abschnitten schon an: Wo es Regeln gibt und Regelbrüche beobachtet werden können, gibt es auch Reaktionen darauf. Diese Reaktionen umfassen sowohl direkte Äußerungen, die als moralische Wertungen direkt Bezug nehmen; sie umfassen aber auch institutionelle Reaktionen und für diese geschaffene Institutionen der Überwachung, Kontrolle und Sanktionieren der Brüche und Abweichungen.

Typische entsprechende Institutionen sind die Polizei, die Strafverfolgungsbehörden und Gerichtsbarkeiten. Diese sind mit besonderen Rechten ausgestattet, die es ihnen erlauben, auch gegen den erklärten Willen von Personen, diese Kontrollen durchzuführen, Gewalt anzuwenden, mithin staatliche Macht auszuüben.

Das betrifft hier vor allem den Bereich des Strafrechts im weitesten Sinn. Innerhalb des Sports gibt es keine ähnliche Institution, die über eine solche Macht verfügt, außer ebendiesen staatlichen Stellen. Und auch wenn der Sport immer wieder auf seine Unabhängigkeit verweist, so steht er nicht außerhalb des Rechts der ihn umgebenden Gesellschaft – wobei der Umgang mit abweichendem Verhalten, etwa bei sexualisiertem Missbrauch, einen anderen Anschein erweckt.

Dort möchte der Sport am liebsten alles immer selbst aufklären und sträubt sich vehement gegen Kontrollen "von außen". Das gilt in ähnlichem Maße auch für das Doping. Das wäre ein Grund, das Anti-Doping-Gesetz von 2015 als einen wichtigen Schritt zur Normalisierung von Kontrolle im Sport anzusehen. Dass es so einfach nicht ist, habe ich an anderer Stelle dargelegt.1

Eine wichtige Reaktion gegen die Einnahme unerlaubter Mittel im Sport sind die Urin- und Blutkontrollen in Training und Wettkampfsituationen. Diese existieren lange, haben aber erst mit der Einführung eines digitalen Systems eine strukturierte Form angenommen, die weit über die eigentlichen Kontrollen von Substanzen im Körper hinausgehen.

Mit dem Adams, dem Anti-Doping Administration and Management System, einem so genannten Whereabout-System, werden die Kontrollen an den Sportler:innen (in Deutschland2) gemanagt.

So ist es dazu nötig, dass die Athlet:innen ihre Aufenthalte eintragen, eingenommene Medikamente, mögliche Krankheiten, die zu Ausnahmen bei der Wirkstoffeinnahme führen könnten und einiges mehr. Wie genau und in welchem Zeitraum diese Daten angegeben werden müssen, richtet sich nach der Sportdisziplin.

Diese sind in Kategorien eingeordnet, die etwas über die Anfälligkeit für Doping aussagen. Athlet:innen werden also entsprechend diesen Kategorien behandelt und kontrolliert. Für eine kriminologische Betrachtung sind diese und ähnliche System, zudem das Anti-Doping-Gesetz von ebenso großem Interesse wie der Regelbruch selbst.

Auch wenn die Kontrollen als logische Folge des ursprünglichen Regelbruchs und des vorhergehenden Einverständnisses mit einer solchen Norm gesehen werden können, so sind sie weder alternativlos noch das zwingende Resultat der Entwicklung. Zu erforschen wäre, wie über solche Institutionen und Systeme Kontrolle ausgeübt wird und ob es sich dabei um verhältnismäßige Maßnahmen handelt. Warum sind diese sozio-technischen Systeme so ausgestaltet, wie sie es sind, wie werden sie legitimiert, wie wird mit Ihnen gearbeitet?

Insbesondere von Interesse ist, ob die den Regeln zugrunde liegenden Werte des Sports, so ungenau und unscharf diese auch sind, in irgendeiner Weise mit den Kontrollsystemen geschützt werden – oder ob sich hier neue Dilemmata ergeben, die nun z.B. Athlet:innen ungleich behandeln oder andere ebenfalls schützenswerte Rechte einschränken oder verletzen.

Es bedarf einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen Reaktionen auf den Regelbruch der Einnahme unerlaubter leistungssteigernder Mittel; nicht zuletzt, um zu verstehen, wie die Regeln mithilfe sozio-technischer Systeme zu etwas gemacht werden, das nicht mehr hinterfragt werden kann oder darf.

Gerade da es beim Doping um ein hochmoralisches Phänomen geht, in dem sportliche Fairness, ein Wert, der über den Sport selbst hinauswirkt, zur Disposition steht, ist es wichtig, dass die Dynamik einer solchen Konstruktion verstanden wird.

Kontrollsysteme sind nie die logische Folge aus sich selbst ergebenden Normen und moralisch unzweifelhaften Annahmen, sie können sowohl missbraucht werden, also auch in sich selbst unfair sein – z.B. durch Ineffizienz, Unverhältnismäßigkeit oder willkürliche Anwendung.

Doping in allen seinen Facetten zu betrachten – von den Regeln, dem Regelbruch und der Regel- bzw. der Abweichungskontrolle – ist wichtig, um ein reflektiertes und umfassendes Verständnis von dem Phänomen zu bekommen. Doping zu skandalisieren, Doper:innen an den Pranger zu stellen und eine Diskussion über mögliche Probleme und Ungerechtigkeiten der Kontrollen mit dem Verweis auf das Gute im Sport und das per se Schlechte des Dopings abzuwehren, kann kein guter Umgang mit dem sozialen Phänomen sein. Damit wird weder dem Sport noch seine Protagonist:innen geholfen.

Und deswegen gehört ein kritischer Vortrag über das Kontrollsystem auch zu einem Anti-Doping-Tag eines Sportverbandes und eine kritische Betrachtung von Sport und Leistungssteigerung und ihrer institutionellen Bedingungen zwingend als deren Begleiter dazu. Die Kriminologie kann diese umfassende Analyse mit dem Blick auf alle wichtigen Bereiche bieten.