Niederlage in Afghanistan: Beginn eines Umdenkens im Westen?
Das Projekt "Kriegskosten" der US-amerikanischen Brown University kommt auf mindestens 38 Millionen Flüchtlinge in der Folge des "Wars on Terror"
Auf mindestens 38 Millionen Flüchtlinge in Folge der Kriege, die von den USA nach 9/11 geführt oder mitinitiiert wurden, kommt eine aktualisierte Bilanz des Watson Institut der US-amerikanischen Universität Brown. Die Zahl umfasst Binnenflüchtlinge wie auch solche, die ihre Länder verlassen haben. Kriterium ist: "They have fled their homes" ("Sie flohen aus ihren Häusern").
Es ist eine "sehr konservative Schätzung", heißt es in dem Bericht. Die Gesamtzahl der durch die US-Kriege seit 9/11 aus ihrem Zuhause Geflüchteten (displaced persons) könnte sich auf bis zu 49 bis 60 Millionen belaufen. Ergänzt wird, dass 26,7 Millionen Menschen nach ihrer "Vertreibung/Dislokation"1 zurückgekehrt seien.
Das heiße aber nicht, dass damit ihr Leben wieder in Ordnung gekommen ist: Die Rückkehr würde das Trauma der Flucht nicht auslöschen und bedeute auch nicht, dass die Geflüchteten in ihr ursprüngliches Zuhause oder in ein sicheres Leben zurückkehren. Zudem würden Kinder, die während der Vertreibung geboren wurden und ihren Eltern nach Hause folgen, ebenfalls zu den "Rückkehrern" zählen.
Genannt werden Kriege, bzw. kriegerische Handlungen in Afghanistan, Irak, Pakistan, Jemen, Somalia, auf den Philippinen, in Libyen und Syrien. Für Afghanistan schätzt man die Gesamtzahl der seit der "Operation Enduring Freedom", Anfang Oktober 2001, Geflüchteten auf 5,9 Millionen. Aus dem Irak, wo mit der Bombardierung durch US-Militärs am 20. März 2003 der Einmarsch von US-Truppen begann, werden mit 9,2 Millionen die meisten Geflüchteten/Vertriebenen angeben. Es folgt Syrien mit 7,1 Millionen.
Grundlagen der Schätzung
Die Schätzungen beruhen auf Statistiken über Flüchtlinge und Asylsuchende, die vom UNHCR stammen. Die Statistiken über Binnenflüchtlinge kamen auch vom Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC). Genutzt wurden dazu Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wie auch vom UN- Büro für die Koordinierung von humanitärer Hilfe (OCHA). Und es wurden noch andere Datenquellen herangezogen, wie dies im Vorgänger-Bericht des Watson-Instituts vom September 2020 ausgeführt wurde.
An dieser Stelle wurde seinerzeit auf den Watson-Bericht, auf Fragen, die er aufwirft, und Grauzonen bereits eingegangen. Damals fiel die Bilanz um eine Million Flüchtlinge geringer aus (US-Kriege seit 9/11: Mindestens 37 Millionen Flüchtlinge).
Das Paradox
Mit der Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban hat sich der Blick auf diese Bilanz noch einmal verändert. Das liegt nicht an der einen Millionen mehr an Flüchtlingen, die der aktuelle Watson-Bericht jetzt erwähnt. Man kann sich über die Zahlen und ihre Erhebung streiten, sichtbar machen die vielen Millionen Flüchtlinge seit Beginn des "War on terror" ein Paradox.
Die Welt sollte sicherer werden, so lautete das damals geäußerte - und seither unendlich oft von unzähligen Politikern, Medienberichten und kommentaren wiederholte - Versprechen der damaligen US-Führung unter Präsident George W. Bush, und sie ist unsicherer geworden.
In vielen Ländern änderten sich im Zuge des "War on Terror" die politischen Prioritäten, die Sicherheitspriorität gewann über die Freiheitsrechte. Zu verfolgen war und ist das bei der Ausstattung und den Überwachungs-Kompetenzen der Geheimdienste, deutlich sichtbar bei der Aufrüstung der Polizei, und zuletzt zeigt sich die Verschiebung der Prioritäten auch bei den Diskussionen über die Staatsautorität beim Umgang mit der Corona-Pandemie.
Eine anderer "Kosten-Bericht" des Watson-Instituts war Grundlage eines Artikels, der vor zehn Tagen an dieser Stelle erschien: Afghanistan: Hier sind die Gewinner. Darin ging es um Korruption und astronomisch viel Geld, das in den Krieg in Afghanistan gesteckt wurde.
Die Verlierer dieses gigantischen Geschäfts ist der Großteil der Bevölkerung, Gewinner sind alle diejenigen, die ein Interesse daran hatten, den Krieg möglichst lange fortzusetzen, allen vor an US-amerikanische Rüstungsunternehmen mit besten Verbindungen in die Politik sowie auch private "Sicherheitsunternehmen".
Ein neuer Blick?
Davon ist nun kaum die Rede in den vielen Analysen, die es zur Zeit zum Afghanistan-Debakel gibt. Auch wenn die Medien wie auch Politiker die großen Worte nicht scheuen: den Vorwurf des "Versagens", der Verantwortlichkeit für die "Katastrophe" hört man aus jedem politischen Lager. Der Zusammenhang zwischen Rüstungsindustrie und Politik bleibt draußen.
Was die Konsequenz aus beiden Watson-Berichten, über die Fluchtbewegungen und die Kriegskosten betrifft, nämlich eine gewachsene Skepsis gegenüber Auslandseinsätzen und deren Ziele, die, wie es der US-geführte Afghanistaneinsatz zeigt, von Terrain und Bevölkerung abgehoben sind, so ist die Hoffnung nicht groß, dass die "Lernkurve" auf einen neuen Weg führt.
Die politischen Diskussionen im Westen nehmen die eigene Rolle bei der Entstehung von Konflikten nicht genug wahr. Das zeigte sich in Libyen, in Syrien, bei der Ukraine-Krise und das zeigt sich auch bei der Analyse des Afghanistan-Schlamassels, wo die Unterstützung der Dschihadisten strategisch schon vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee begann.
Da könnte doch langsam eine Umorientierung, das Mitbedenken der eigenen Rolle, in Gang kommen? Das wird sich bei der nächsten Diskussion über Auslandseinstätze zeigen, wo mit einer "gewachsenen Verantwortung" argumentiert wird.