US-Kriege seit 9/11: Mindestens 37 Millionen Flüchtlinge
Eine niedrig angesetzte Schätzung, so das Projekt "Kriegskosten" der US-amerikanischen Brown University. In Deutschland werden indessen wieder Forderungen laut, neu über militärische Interventionen nachzudenken
Mindestens 37 Millionen sind aufgrund der "Anti-Terror"-Kriege nach dem 11. September 2001 aus ihrem Zuhause geflüchtet, lautet die Bilanz von Autoren des "Projektes Kriegskosten" der US-amerikanischen Brown University. Gezählt werden Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge jenseits der jeweiligen Staatsgrenzen aufgrund von acht Kriegen. Eine weniger konservative Schätzung würde auf sogar auf bis zu 59 Millionen Flüchtlinge kommen, wie der leitende Autor des Berichts, David Vine von der American University in Washington, gleich zu Anfang seiner Zusammenfassung schreibt.
Dem Bericht über die Entstehung massenhafter Flucht durch Kriege nach 9/11 (vollständig hier: Creating Refugees: Displacement Caused by the United States’ Post-9/11 Wars) liegen militärische US-"Interventionen" in acht Ländern als Reaktion auf die Terror-Anschläge vom 11. September zugrunde: in Afghanistan und Pakistan (infolge des Krieges in Afghanistan), im Irak und Syrien, in Libyen, Somalia, dem Jemen und auf den Philippinnen.
▪ 5.3 million Afghans (representing 26% of the pre-war population)
Creating Refugees
▪ 3.7 million Pakistanis (3% of the pre-war population)
▪ 4.4 million Yemenis (24% of the pre-war population)
▪ 4.2 million Somalis (46% of the pre-war population)
▪ 1.7million Filipinos (2% of the pre-war population)
▪ 9.2 million Iraqis (37% of the pre-war population)
▪ 1.2 million Libyans (19% of the pre-war population)
▪ 7.1 millionSyrians (37% of the pre-war population)
Dass die Schätzung von 37 Millionen Flüchtlingen als niedrig angesetzt - "conservativ" ausgewiesen wird, liege auch daran, dass man eine Menge anderer Konflikte bei der Zählung ausgespart habe. Insgesamt hätten US-Truppen seit der Ankündigung des "Global War on Terror" durch George W. Bush in 21 Ländern Kampfeinsätze bestritten, so der Professor für politische Anthropologie, David Vine, Autor eines Buches über die Geschichte endloser US-Konflikte.
Grauzonen
Im vollständigen Bericht werden als Beispiele etwa Kampfeinsätze von US-Truppen in Afrika, in Burkina Faso, Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik, in Mali, Niger, Südsudan oder auch in Tunesien genannt. Die dort über Kämpfe ausgelösten Fluchtbewegungen seien nicht mit hineingenommen worden in den Bericht, der als "erster umfassend misst, wie viele Menschen die kriegerischen Großeinsätze (in den oben genannten acht Ländern, Einf. d. A.) zur Flucht getrieben hat".
Am Beispiel Syrien wird eine weitere wichtige Frage zur Zählung erörtert. Soll man strikt nur mitzählen, was es an Zahlen über Flüchtlinge aus Syrien bekannt wurde, seit sich die USA dort offiziell militärisch mit dem erklärten Kampf gegen den IS einmischten, also ab 2014, oder soll auch die Intervention durch die massive Unterstützung der bewaffneten Gegner der syrischen Regierung, die schon viel früher erfolgte, mit einkalkuliert werden?
Es wäre ein "weniger konservativer und vertretbarerweise genauer Ansatz", wenn man die Flüchtlinge in Syrien seit 2013 mithinein in die Bilanz nehmen würde, heißt es im Bericht. Weil die USA in diesem Jahr (zumindest erklärtermaßen, Anm. d. V.) damit begannen mit großen, milliardenschweren Programmen die Milizen bei ihrem Dschihad gegen die syrische Regierung unterstützten.
Zur Zahlengrundlage, auf die sich dieser Bericht über die Kriegskosten beruft: Genannt werden Statistiken über Flüchtlinge und Asylsuchende, die vom UNHCR stammen; Statistiken über Binnenflüchtlinge kamen auch vom Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), genutzt wurden Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wie auch vom UN- Büro üfür die Koordinierung von humanitärer Hilfe (OCHA). Dazu noch weitere Datenquellen zum Vergleich und zur Überprüfung.
Allein die Spannweite zwischen den 37 Millionen Flüchtlingen in der konservativen Schätzung und den möglichen 59 Millionen sowie die geschilderten Probleme bei der Eingrenzung von Fluchtursachen, an denen die US-Regierung mitbeteiligt war, zeigt, dass es mehr um eine Größenordnung geht oder gehen kann als um präzise belastbare Zahlen.
Wobei sich auch politisch eine Grauzone zeigt, am deutlichsten in Syrien. Dort unterstützten die USA eine islamistische bis dschihadistische Opposition - immerhin über das Ziel, einen islamischen Staat einzurichten, stellte sich spätestens im Jahr 2012 Einigkeit bei dem wichtigsten und größten Teil der Milizen ein, die sich dem Widerstand gegen Baschar al-Assad anschlossen). Dass dies nicht mit dem Ziel des "War in Terror" zu vereinbaren ist, zeigt allen schon die zentrale Rolle, die die al-Qaida-Miliz al-Nusra-Front, später zu Hayat Tahrir asch-Sham umetikettiert, darin spielt.
"War on Terror"
Die Absicht, deutlich unter der Regierung Obama formuliert, lag wie schon zuvor im Irak bei einem Regime-Change. Der "War on Terror" wurde in Washington zur Mission einer politischen Transformation von Kernländern des Nahen Ostens. Das bisherige Ergebnis kann man auch alltäglich in den großen Medien beobachten. Die Dominotheorie aus der Zeit der Neokonservativen, die die Regierung George W. Bush prägten, hat sich nicht auf eine ganz andere Weise erfüllt.
Statt dass ein Land nach dem anderen durch den Anstoß der US-Intervention, wie es propagiert wurde, ins demokratische, liberale Lager gekippt wäre, muss man derzeit befürchten, dass sie wirtschaftlich oder politisch in den Abgrund kippen, siehe Libanon, Syrien oder den Irak. Die internen Spannungen haben dort zugenommen, alle drei Länder sind fragmentiert, Gespräche über Teilungen des Landes, wie etwa auch in Libyen, sind keine Fantasien, sondern wiederkehrenden Themen, die angesichts der katastrophalen Lage ernst genommen werden.
Das gehört als Hintergrund zu einer anderen Zahl des Berichts, wonach 25 Millionen der Geflüchteten oder Vertriebenen wieder zurückgekehrt seien. Sie sind oftmals in Verhältnisse zurückgekehrt, wo akute Kriegshandlungen aufgehört haben, aber politische Spannungen bleiben und die wirtschaftlichen Aussichten miserabel sind.
Die Sanktionspolitik der USA, die Möglichkeiten, politische Interessen mit Mitteln eines Wirtschaftskrieg zu verfolgen, wird in dem Bericht des Watson Instituts an der Brown University nicht miteinkalkuliert, obwohl wirtschaftliche Notlagen ebenso zu Fluchtgründen gehören.
Dass die war on terror-Militäreinsätze der USA - und man müsste auch ihre Verbündeten dazu nehmen - sind nicht die einzigen Ursachen für die Konflikte und die damit verbundene Massenflucht, betonen die Autoren des Berichts an mehreren Stellen. Allerdings würden die USA ein dominanter Faktor sein.
"Die Bundesrepublik muss ihr Verhältnis zur Intervention überdenken"
Die Angst vor Angriffen, die Zerstörungen der Wohnungen, das Schwinden von Arbeitsmöglichkeiten, von Zugängen zu Nahrung, zu Schulen und Krankenhäuser sind brutale, hässliche Konsequenzen von Kriegen.
Das ist angesichts des gegenwärtigen Trends zur Aufrüstung, der Konjunktur bei den Waffengeschäften und dem komfortablen Abkanzeln vom "resignativen Pazifismus" im Kopf zu behalten.
"Die Bundesrepublik muss ihr Verhältnis zur Intervention überdenken" - Deutschland werde sich auch künftig an Interventionen beteiligen müssen. "Mehr noch: Deutschland und Europa sollten aus eigener Kraft interventionsfähig werden", so der deutsche Diplomat Martin Jäger vor ein paar Tagen in der FAZ. Er ist der Überzeugung, dass man mit Interventionen Ordnung schafft.