Nine/Eleven

Zum Weltschicksalstag des 11.09.2001

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Schicksalstage der Menschheit sind zu zahlreich, als dass sie alle erinnert werden könnten: Der große Brand von London 1666, das die europäische Geisteswelt erschütternde Erdbeben von Lissabon 1755, Titanic, Lusitania, Auschwitz, Wilhelm Gustloff, Hiroshima, Nagasaki, Gulags, My Lai, Tschernobyl - um nur einige Namen zu nennen. Die abwechslungsreiche Katastrophengeschichte ist um prominente Ereignisse wahrlich nicht verlegen.

Diese Geschichte kulminiert nicht im 11.09.2001, wenn es um die Zahl der Opfer, die von Menschen angerichteten Schäden oder die Inhumanität des Aktes selbst geht. Sub specie calamitatis gibt es seit Nine/Eleven keine neue Zeitrechnung, wie es amerikanische Patrioten, uneingeschränkt Solidarische und erregte Medienmaschinen laut tönen. Aber diese historische Beruhigung ist schon deshalb keine, weil jede Zeit mit ihrem eigenen Schrecken fertig werden muss. Allein in der Art, wie das geschieht, beschreiben Gesellschaften ihre seelischen Verfassungen und: - schaffen Motive und Anlässe für neue Katastrophen.

Die Katastrophe

Nine/Eleven wurde zum bestdokumentierten Tag der Menschheitsgeschichte: Dauerbrennpunkte, Specials, Memorial-Seiten, Online-Kondolenz Bücher, Satelliten-Aufnahmen bis hin noch zu den Dokumentationen der Dokumentationen, etwa in den unzähligen Screenshots von Online News Seiten.

Jedes Bild, jedes Detail dieses Tages und seiner Folgen, noch die unbedeutendste Kleinigkeit, wurden großflächig ausgeleuchtet und uns seit einem Jahr mit immerwährendem Elan einmassiert.

Was verrät uns diese Abbildungs- und Erinnerungswut über das Ereignis selbst? Glaubten wir schon nach dem Ende des atomar bedrohlichen Ost-West-Konflikts in der ereignislosen Nachgeschichte angelangt zu sein, frei vom Schicksal und einer unvorhersehbaren Zukunft, hat der 11.09. die westliche Welt tief in die Geschichte zurückgestoßen. Das Sicherheitsdenken, das Amerika und Europa zur zweiten Natur ihrer gesellschaftlichen Verfassungen gemacht hatten, wurde in weniger als einer halben Stunde weggefegt. Die unvorhersehbare Katastrophengeschichte, der keine menschliche Konstruktion Einhalt gebieten kann, wurde wieder in ihr angestammtes Recht gesetzt. Das war der existenzielle Rahmen des Ereignisses, das so technologiegläubige wie sicherheitsfanatische Gesellschaften in ihren fragilen Fundamenten erschütterte.

In dieses Passepartout fügte sich dann die Interpretation des Ereignisses als einer nationalen Tragödie der Vereinigten Staaten von Amerika. Amerikas Wahrzeichen kapitaler Macht und Herrlichkeit in Tonnen brennenden Kerosins eingestürzt, verglüht, ein Trümmerhaufen (Vgl. Trümmer über Trümmer), wo zuvor die dem Geld brüderlich verbundene Macht nicht nur die Geschicke Amerikas lenkte. Die symbolische Kastration der Macht war mindestens eben so schwer zu ertragen wie die reale Vernichtung. Im Herzen Manhattans stand auf einmal eine postapokalyptische Landschaft, als ob ein surrealistischer Maler die Wirklichkeit durch seine mutwillige Montage ersetzt hätte. Dieses Bild traf das Selbstwertgefühl, provozierte den Narzissmus von godŽs own country, vor Gott doch keinen Sonderstatus zu genießen.

Die Medien

Nine/Eleven wurde zum Kristallisationspunkt ungezählter Erzählungen, apokalyptischer, politischer und ästhetischer Betrachtungen, Bekenntnisse, Verschwörungs- und Beschwörungsdiskurse. Längst geht es dabei nicht um Informationen, wenn bis heute und gerade jetzt wieder zum Jubiläum immer "neue" Bilder des Anschlags den Sensations- und Betroffenheitshunger befriedigen. Einschließlich den Urlaubsbildern von Attentäter Atta in Al-Arisch und obskuren Terroristen-Homestorys gibt es keine Belanglosigkeit, die es nicht wert wäre, erinnert zu werden. Nine/Eleven wurde zum Bekenntnisobjekt des eigenen Weltverhältnisses. Jeder bekam seinen eigenen 11. September, um ihn in sein eigenes Weltformat zu übersetzen. Politisch korrekt in der allfälligen Dauertrauer die einen oder verwerflich die anderen, die - wie etwa Teile der arabischen Welt - ihre Schadenfreude über den Schlag gegen die mächtigste Nation der Erde zu zeigen wagten. Die Frage, wie man in einer pluralistischen Welt mit ihren paradoxen Informationen seine Identität findet, wurde durch Nine/Eleven ganz im Sinne Carl Schmitts beantwortet: "Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt". Denn die Guten wie Bush können nicht ohne die Bösen wie Usama oder Saddam leben. Und wer wie Bush seinem selbstgewählten historischen Auftrag nach alle Feinde besiegen würde, würde zuletzt arbeitslos. Doch davon sind wir auf dem Zeitstrahl der Ewigkeit weiter entfernt als vom 11. September.

Dem Fundamentalismus der Attentäter korrespondierte der professionelle Fundamentalismus der amerikanischen Trauerarbeit. Die Unfähigkeit, nicht zu trauern, wurde zum wahren Ausweis der Patrioten. Wer wie etwa Karlheinz Stockhausen (Vgl. Terroranschläge als größtes Kunstwerk bezeichnet) das erhabene Ereignis künstlerisch interpretierte, wurde geächtet, obschon die Medien zum wenigsten je etwas anderes taten, als das Ereignis aus jedem verfügbaren Kamerawinkel so ästhetisch wie spektakelhaft nachzuinszenieren.

Es gibt keine einsinnige Wahrheit über diesen Tag, sondern nur Medienkonstruktionen. Was letztlich das Werk einiger Terroristen mit vergleichsweise simpler Logistik wie Strategie war - die vermutlich über die Kettenreaktionen ihres Handelns nicht weniger erstaunt waren als der Rest der Welt - wurde von den medialen Nachbearbeitern zum überwirklichen Blow-Up des Schreckens hochgefahren. Bis zum Überdruss mobilisierte das Ereignis die Medienmaschine, die den Terroristen erst die globale Aufmerksamkeit verlieh. Das primäre Motiv gerade für diese Tat lieferte die Mediengesellschaft selbst. Insofern haben die Medien nicht nur ihr heimlich ersehntes Großereignis bekommen, sondern es auch gläubig angenommen und in eigener Verantwortung zur Superikone ihrer Aufmerksamkeitsherrschaft (Vgl. Das terroristische Wettrüsten) gemacht.

Nach den Explosionen zeugte sich das Ereignis fortwährend selbst, ohne dass bis zum heutigen Tage ein gnädiges Ende in Sicht wäre. Doch gerade in der entfesselten Aufmerksamkeitsherrschaft musste die feindselige Auftaktveranstaltung des 21. Jahrhunderts zur unwirklichen Endlosschleife verkommen. Die westliche Welt steht unter magischem Wiederholungszwang, das Ereignis immerfort durchleben zu müssen. Warum reicht es nicht, Nine/Eleven als allgemeines Betriebsrisiko einer zerstrittenen Welt dem historischen Katastrophenarchiv zu übergeben?

Die Wiederholung erklärt sich nicht hinreichend aus dem allgemeinen Prinzip selbstreproduktiver Medien oder propagandistischer Perfidie. Im Gravitationszentrum dieser Wiederholung steht der unbedingte Wille, die verlorene Sicherheit zurückzugewinnen. Die Redundanz der Medien ist zuvörderst eine kollektive Sicherheitsmaßnahme gegen das Schicksal. Die Bilder und ihre Kommentierungen sollen die aus dem Lot geratene Wirklichkeit wieder ins Gleichgewicht bringen, wenn schon der Film selbst nicht zurückgespult werden kann. Was weder Vernunft, Religion noch Technologie zu leisten scheinen, ist zur Aufgabe der quasisakralen Ikonografie geworden. Welche unheimlichen Energien hinter dieser unerfüllbaren Aufgabe stehen, macht jetzt etwa das aktuelle Projekt von Ron Howard (Vgl. Intellektuelle Kampfzone) deutlich, der um den Schicksalsort herum sechs Filmkameras postiert hat, die sieben Jahre lang (!) ununterbrochen alle fünf Minuten Aufnahmen von Ground Zero machen werden. Das ist kein Dokumentarismus mehr, nicht nur Patriotismus, das ist bereits Magie. Insofern kommen die Springfluten der Bilder, die sich aufblähenden US-Sicherheitsagenturen und der immerwährende Krieg gegen den Terrorismus aus einer emotionalen Quelle, aus der nun die ganze Welt trinken soll.

Doch zugleich ist der Overkill der Bilder emotional nicht dauerhaft zu ertragen. Solche Bilder verblassen zu nichts sagenden Kürzeln, werden zu sakral verwalteten Museumsstücken und fügen sich schließlich in unsere ohnehin überreichen Bildarsenale des Schreckens. Gibt es einen Unterschied zwischen den imaginären Vernichtungsbildern von Independence-Day und Nine/Eleven? Gewiss: Real sind die Leiden der Opfer. Die Schreie der aus dem Fenster Stürzenden. Real ist das Leiden von Kindern, die ihre Eltern verloren haben. Doch schon bald legte sich die frühe Pietät, die imaginären Bilder des Grauens, die von der Wirklichkeit nachgeahmt und überholt wurden, aus den Medien zu bannen. Hollywood sucht inzwischen zwanghaft bis verbissen nach immer neuen September-Geschichten. Selbst "Independence-Day", das zeitweise der kollektiven Andacht zum Opfer fiel, darf demnächst fortgesetzt werden. Mächtiger als die vorübergehende Trauer sind augenscheinlich die fantasmatischen Stützkonstruktionen, die so patriotische wie aggressive Gesellschaften nicht weniger als die Luft zum Atmen brauchen.

Die Instrumentalisierung

Die offizielle Empathie, die im gottesfürchtigen Amerika zwangsläufig zu zivilreligiösen Ritualen führt, verwandelte das Leiden in eine patriotische Selbstbeschreibung. So wie das Kreuz als römisches Werkzeug der Unterjochung zum christlichen Siegeszeichen mutierte, wurde Nine/Eleven zum Victory-Banner einer kampfbereiten Nation. Nine/Eleven wurde von Präsident Bush zum Feiertag (Vgl. But we are under attack) erhoben. Vielleicht gibt es auch den Terror des Patriotismus. Amerika käme nicht auf die Idee, den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima oder Nagasaki, die erheblich mehr unschuldige Opfer verursacht haben, zum nationalen Gedenktag zu machen. Zählt nur noch die lautstarke Klage des eigenen Leids, wo doch allein das Schweigen der Opfer wirklich beredt wäre?

Während die einen trauerten und die anderen jubelten, bereitete sich die vom neuen Kriegspräsidenten Bush geführte US-Regierung umstandslos darauf vor, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, was Amerika erlitten hatte. Die biblische Lektion wurde von Politikern des 21. Jahrhunderts erteilt, die ihr manichäisches Weltbild bestätigt sahen. Nine/Eleven wurde zur Geburtsstunde des gerechten Krieges, dessen Prinzip doch, wie es Peter Schneider jüngst darlegte, mit den historischen Schrecken der Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Sklaverei unentschuldbar belastet ist. Und dieser Zusammenhang ist keine intellektuelle Konstruktion. Bush selbst entschied sich für das martialische Label "Kreuzzug", was geradewegs in die Paradoxie führt, die Zivilisation retten zu wollen und dafür ihre dunkelsten Kapitel zu bemühen. Taliban, Al-Qaida, Saddam Hussein - alle Widersacher des Guten sollten zahlen. Der Albtraum verwandelte sich bereits in den allerersten Ankündigungen des US-Präsidenten und der Seinen in ein politisches Instrument, das amerikanische Glücksversprechen nun endgültig als globale Aufgabe mit Feuer und Schwert zu verwirklichen (Vgl. We're at war). Die Symmetrie zwischen dem eigenen Leid und fremdem Leid musste in der Vergeltung wieder hergestellt werden. Und in diesem Öl der frommen Denkungsart konnten auch weniger biblische Motive und Interessen, politische wie ökonomische, gut deponiert werden. Als Amerika den Fehdehandschuh aufnahm, wurde der 11.September allen Aktualisierungen zum Trotz Geschichte. Der Welttrauertag verwandelte sich zum Kriegslogo.

Es wird neue Katastrophen geben, Die Instrumentalisierung wird sich darin einreihen. Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam. Und Karthago hat seit dem 11. September 2001 mehr Namen, als es sich Cato je hätte träumen lassen.