Nizza: Nur eine Verzweiflungstat als erweiterter Selbstmord?
Was nutzt ein Ausnahmezustand und die Bombardierung von Syrien, wenn ein junger, offenbar nicht religiöser Mann aus persönlichen Motiven ein finales und blutiges Aufmerksamkeitsspektakel inszeniert
Es gibt keinen Hinweis darauf, ob der Massenmörder von Nizza, der mit einem LKW am Nationalfeiertag auf der Promenade des Anglais in die feiernde Menschenmenge fuhr und dabei 84 Menschen tötete und über 200 verletzte, irgendeiner Terrorgruppe angehörte oder mit einer sympathisierte. Es gab auch noch kein Bekennerschreiben einer Organisation. Anhänger des IS nutzen allerdings das Massaker, um dem Westen mit weiteren Anschlägen und letztlich mit dem Untergang von Rom zu drohen. Aber auch diese Propaganda identifiziert sich nicht mit dem Täter, sondern nur mit dem Schrecken, den seine Tat verbreitet.
Der Anschlag selbst sieht so aus, als habe der Täter, der mutmaßlich 31-jährige Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, eine Handlungsanweisung ausgeführt, die vor Jahren schon AQAP, die al-Qaida-Organisation im Jemen, als "Open Source Jihad" in seinem stylischen Magazin "Inspire" propagierte (Was erwartet die islamistischen Märtyrer oder Terroristen?). Inspire wurde zum Vorbild für den konkurrierenden IS, der mit Dabiq ein ähnliches Magazin veröffentlicht, in dem ebenfalls zu einem Do-it-Yourself-Terrorismus aufgerufen und Anleitungen dazu gegeben werden. Inspire hatte empfohlen, einen Pickup so auszurüsten, dass er "zu einer Mähmaschine wird, mit der nicht Gras gemäht, sondern die Feinde Allahs niedergemäht werden". Dazu müsse man nur Stahlklingen am Kühler des Pickups anbringen und dann mit großer Geschwindigkeit durch einen Ort wie eine Fußgängerzone fahren, wo sich eine möglichst große Zahl von Menschen aufhält. Empfohlen wird, Waffen mitzunehmen: "Du kämpfst solange weiter, bis du zum Märtyrer wirst. Du beginnst deinen Tag in dieser Welt und am Ende des Tages bist du bei Allah."
Bei Allah war auch der Täter, als er nach zwei Kilometern von einer Kugel getötet wurde. Seitdem wird gerätselt, ob es sich um einen Einzeltäter handelte und ob es überhaupt einen Zusammenhang mit dem islamistischen Terrorismus gibt. Zu Letzterem neigt der französische Premierminister Manuel Valls, Innenminister Bernard Cazeneuve weist hingegen darauf hin, dass es sich vermutlich um einen Einzeltäter handelt. Es gibt keine Hinweise auf Verbindungen zum radikalen Islamismus.
Beunruhigender als ein islamistisch motivierter Terroranschlag wäre aber wohl, wenn es sich um einen erweiterten Selbstmord handelt, wie man ihn gemeinhin als "Amoklauf" oder "Massentötung" bezeichnet. Auch dabei handelt es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter, die Ideologie tritt dabei aber zurück, es bleibt der Wunsch eines verzweifelten Menschen, eine finale Aufmerksamkeitstat zu begehen und möglichst viele Menschen mit in den eigenen Tod zu ziehen. Manche ziehen vor, sich selbst am Ende zu töten, andere provozieren, bis die Sicherheitskräfte den Selbstmord übernehmen.
Der Anschlag von Nizza zeigt auch, dass der Ausnahmezustand, der eigentlich auslaufen sollte, zwar aus Hilflosigkeit von der Regierung verlängert wurde, aber gegen solche Anschläge von Einzeltätern, die nicht einmal Waffen verwenden, sondern wie bei 9/11 normale Transportmittel zu Massenvernichtungswaffen umfunktionieren, keinerlei Schutz bieten kann. Der Terror von Palästinensern in Israel, die mit Messern und Autos versucht haben, Juden zu töten, mag ein Vorbild gewesen sein. Die Anschläge von islamistischen Terroristen sicher auch - aber möglicherweise eben nicht durch ihre Motivation, sondern durch ihren spektakulären Charakter, den eigenen Tod zu zelebrieren.
You know what I hate? …MANKIND!!!!…kill everything…kill everything…
Eric Harris
Man kann durchaus auch vermuten, dass viele der erstaunlich unzähligen jungen Männer, die Tag für Tag den Märtyrertod sterben und dabei andere Menschen töten, dies nicht wegen der verqueren islamistisch-salafistischen Ideologie machen, sondern um einen Ausweg aus ihrem Leben zu finden, eine blutige "Krönung". Das Werther-Phänomen der Nachahmung des Selbstmords ist heute zum finalen Massenmord geworden - und er funktioniert wie Terroranschläge als "Propaganda der Tat" über die Massenmedien, die solche Ereignisse herausheben und in ein Ranking einordnen, das von sich aus zur Überbietung herausfordert. Terrorismus und Amoklauf vermischen sich womöglich zunehmend im wachsenden suizidalen Drang der Menschen, die aus der Welt zumindest auffällig aussteigen wollen (Faszinosum und Phantasma des Selbstmordanschlags, Mörderische Wut). Destruktion ist die einfachste Methode, Massenmordwaffen finden sich überall von Sprengstoff über Schusswaffen bis hin zu Autos. Jeder kann damit für ein paar Minuten zu Ruhm kommen und sich in die Geschichte eintragen.
Mohamed Lahouaiej Bouhlel , der mutmaßliche Täter, war ein junger Mann von 31 Jahren, ein Tunesier mit einer Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich und wohnhaft in Nizza, bereits vorbestraft wegen einer Gewalttätigkeit nach einem Verkehrsunfall. Im März war er zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Zudem gibt es eine Vorgeschichte von Gewalttätigkeiten, Sachbeschädigungen oder Diebstählen. Er war verheiratet, hat - oder hatte - drei Kinder, die Scheidung lief, er lebte wohl bereits alleine. Seine Frau ist gegenwärtig in Haft.
Wenn es stimmt, was die Daily Mail nach einem Gespräch mit seinem Cousin berichtet, Vorsicht ist angebracht, soll Bouhlel alles andere als Islamist gewesen sein. Er soll Drogen genommen, Alkohol getrunken und Schweinefleisch gegessen sowie seine Frau geschlagen und Moscheen gemieden zu haben. Religiös sei er nicht gewesen. Er soll ein Einzelgänger gewesen sein, so hätten seine Nachbarn gesagt, was dazu passen würde, wie viele der Attentäter und Amokläufer beschrieben werden. Einsam, verbittert, wütend, ohne Zukunft. Einem habe er kurz vor der Tat beim Trinken gesagt: "Du wirst eines Tages von mir hören."