Noam Chomsky: Das Schicksal der Menschheit ist nicht besiegelt – wenn wir jetzt handeln

Seite 2: Der Fliege den Weg aus der Fliegenflasche zeigen

Der Ukraine-Krieg findet seinen entsprechenden Platz in diesem kollektiven Wahnsinn. Ein Ergebnis von Putins verbrecherischer Aggression und dem daraus resultierenden Sanktionsregime ist, dass dadurch der Strom von fossilen Brennstoffen aus Russland versiegt, auf die Europa angewiesen ist, insbesondere das auf Deutschland basierende System, das das wirtschaftliche Kraftzentrum Europas darstellt. Die ökonomischen Folgen für Europa sind schwerwiegend, nicht jedoch für die USA, die weitgehend davon abgeschirmt sind, oder für Russland, das zumindest im Moment von den steigenden Ölpreisen profitiert und viele begierige Kunden außerhalb Europas hat.

Europa ist nun auf der Suche nach alternativen Öl- und Gasquellen – ein Glücksfall für die US-amerikanische fossile Brennstoffindustrie, die mit neuen Märkten und Fördermöglichkeiten belohnt wird, die es ihr gestatten, das Leben auf der Erde noch effektiver zu zerstören. Und die Rüstungsindustrie könnte kaum ekstatischer sein, während das Töten und die Zerstörung zunehmen.

Die Menschen scheinen eine andere Meinung zu haben. In Deutschland zum Beispiel, wo 77 Prozent der Bevölkerung "der Meinung sind, dass der Westen Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges aufnehmen sollte."

Man kann sich eine Reihe von Gründen vorstellen, um dem Grauen ein schnelles Ende zu bereiten, aber der drohende Untergang der organisierten menschlichen Gemeinschaft ist sicherlich einer davon. Der Krieg in der Ukraine hat die begrenzten Bemühungen, die wachsende Krise der Umweltzerstörung anzugehen, zunichte gemacht. Er hätte die Bemühungen um eine rasche Umstellung auf nachhaltige Energie verstärken können, aber das war nicht der Weg, der von den Regierungen gewählt wurde. Vielmehr hat man sich dafür entschieden, den Wettlauf Richtung Abgrund zu beschleunigen.

Was in diesem kritischen Moment getan werden sollte, hat der Wirtschaftswissenschaftler und politische Analyst Thomas Palley treffend beschrieben:

Die Europäische Union muss den Handel und die Wirtschaft mit Russland ausbauen. Das ist eine perfekte Kombination. Russland hat Ressourcen und braucht Technologie und Investitionsgüter. Europa hat Technologie und Investitionsgüter und braucht Ressourcen.

Und ganz allgemein:

Was getan werden sollte, ist eine tiefgreifende Neukalibrierung, die den Einfluss der USA in Europa verringert, die Europäische Union stärkt und auf die Einbeziehung Russlands in die europäische Familie abzielt, wie sie Präsident Michail Gorbatschow 1990 ins Auge gefasst hat,

wie er sie in seinem Aufruf für ein "gemeinsames europäisches Haus" von Lissabon bis Wladiwostok, ohne militärische Allianzen, ohne Sieger und Besiegte auf den Punkt brachte. Es brauche ein gemeinsames Bemühen um eine gerechtere sozialdemokratische Zukunft – wenn nicht noch mehr als das.

"Es sieht so aus, als ob es unmöglich ist, dieses Ziel zu erreichen", fügt Palley hinzu. Aber eine Einigung zwischen den Großmächten müsse erreicht werden, und zwar bald, wenn es Hoffnung auf ein menschenwürdiges Überleben geben soll.

Der Wahnsinn, knappe Ressourcen für das militärische Abschlachten und die Zerstörung ganzer Länder zu verwenden, während die Zusammenarbeit zur Bewältigung großer Krisen eine absolute Notwendigkeit ist, kann einfach nicht toleriert werden.

Der entfesselte unzivilisierte Kapitalismus ist ein Todesurteil für die Spezies. Das ist schon lange klar, noch bevor er sich selbst zur Satire entfaltete. Das entscheidende Wort ist "entfesselt". Die Leine sollte und kann in den Händen derjenigen liegen, die höhere Ziele im Leben haben als die Bereicherung privater Macht und Stärkung politischer Kräfte, welche globale Dominanz der internationalistischen Gorbatschow-Vision vorziehen.

Wir sollten dabei die Barrieren in der ökonomischen und politischen Sphäre nicht unterschätzen, ebenso wenig wie die dogmatischen Systeme, die die Strukturen der Macht schützen. Diese Aspekte spielen in den USA eine große Rolle, aus Gründen, die zu offensichtlich sind, um sie näher zu erläutern.

Die Hindernisse innerhalb des herrschenden dogmatischen Systems lassen sich zum Beispiel in einem sehr aufschlussreichen aktuellen Aufsatz in der wichtigsten Zeitschrift des US-Establishments ablesen. Die Autoren Fiona Hill und Angela Stent sind zwei gut informierte außenpolitische Analysten, die sich am liberalen Ende des Mainstreams befinden.

Ihr Artikel veranschaulicht die Macht der offiziellen Lehrmeinung, die die US-Eliten auf eine "alternative Realität" festlegt, die wenig mit der Welt draußen zu tun hat. Eingesperrt in ihrem sich selbst immer enger spinnenden Kokon sind sie schlicht nicht in der Lage, die globale Reaktion auf ihren nicht endenden wollenden Aufruf zu neuen Verbrechen zu verstehen.

Hill und Stent verurteilen den Globalen Süden – den größten Teil der Welt – scharf dafür, dass er sich der tiefen Besorgnis der USA darüber, "dass Russland die UN-Charta und das Völkerrecht durch einen nicht provozierten Angriff auf das Territorium eines Nachbarn verletzt hat", nicht angeschlossen hat. Der Globale Süden sei sogar so tief gesunken, dass man dort "argumentiert, dass das, was Russland in der Ukraine tut, sich nicht von dem unterscheidet, was die Vereinigten Staaten im Irak oder in Vietnam getan haben".

Hill und Stent führen dieses Versagen der südlichen Länder, sich auf das westliche Niveau von moralischer Verantwortung und Einsicht in das Weltgeschehen zu erheben, auf Putins Machenschaften zurück. Was könnte sonst der Grund für eine solche Blindheit sein?

Könnte es an einem anderen Grund liegen, zum Beispiel an der Tatsache, dass die Menschen außerhalb des amerikanischen Kokons tatsächlich auf die Welt schauen und schnell feststellen, dass die USA bei der Verletzung der UN-Charta und des Völkerrechts mit Abstand führend sind, indem sie ständig nicht provozierte Angriffe durchführen – und das weltweit, selbst Tausende von Kilometern vom eigenen Land entfernt? Und könnte es sein, dass sie erkennen, dass die militärische Gewalt der USA im Irak und in Vietnam ein unvergleichlich schwerwiegenderes Verbrechen darstellt als Putins Aggression in der Ukraine?

Als kleine Fußnote: Vielleicht sind sich diese "rückständigen" Völker sehr wohl bewusst, dass die russische Aggression, die sie in der Tat scharf verurteilen, in Wirklichkeit vielfältig provoziert wurde – wie westliche Kommentatoren auf ihre eigene Weise, spricht stillschweigend auch anerkennen. Daher haben sie ja den vollkommen neuartigen Begriff "nicht provozierter Angriff" im Ukraine-Krieg fabriziert, um die eindeutig provozierte russische Aggression damit zu titulieren.

Angesichts des Klimas der Irrationalität und des dogmatischen Konformismus in den USA ist es notwendig, noch einmal zu betonen, dass die vielfache Provokation keine Rechtfertigung für eine kriminelle Aggression darstellt.

Die Verzerrung der Realität von Hill und Stent gibt leider die vorherrschende Mentalität in den eher liberalen Schichten wieder, geprägt von einer dogmatischen Glaubenslehre, die durch sich unterordnende Medien und Fachzeitschriften noch verstärkt wird. Diese gesellschaftlichen Gruppen spielen natürlich eine herausragende Rolle bei der Gestaltung des Klimas, in dem Politik entworfen und umgesetzt wird – eine Angelegenheit von sehr großer Bedeutung im mächtigsten Staat der Weltgeschichte, dem kaum jemand das Wasser reichen kann.

Die damit verbundenen Gefahren in der modernen Welt bürden den Amerikanern eine historische Verantwortung auf. Ludwig Wittgenstein beschrieb die Aufgabe der Philosophie einmal als "der Fliege den Weg aus der Fliegenflasche zu zeigen" – wobei die Fliegen die Philosophen sind, die in Denkmustern gefangen verwirrt herumfliegen.

Analog dazu besteht eine Aufgabe derjenigen, die sich um die Zukunft sorgen, darin, den akademischen Meinungseliten zu helfen, aus dem dogmatischen Kokon herauszufinden, in dem sie sich selbst eingeschlossen haben, und die breite Öffentlichkeit von der "alternativen Realität" zu befreien, die elitäre Kreise konstruiert haben.

Keine kleine Aufgabe, aber eine wesentliche.