Nord-Stream-Ermittlungen: Lag Seymour Hersh doch richtig?

Die kleine pro-ukrainische Tätergruppe ist als Theorie vom Tisch. US-Medien sprechen von einem Ablenkungsmanöver und die Ermittler gehen von einem staatlichen Akteur aus. Das ist der Stand der Dinge.

Die Anschläge auf die Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 geben immer noch Rätsel auf. Zuletzt kursierten mehrere Theorien zu einer möglichen Urheberschaft: Der renommierte Journalist und Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh machte die US-Regierung für die Anschläge verantwortlich; die New York Times und deutsche Medien sahen dagegen eine kleine proukrainische Gruppe als vermeintliche Täter an; andere behaupteten wiederum, Russland hätte die Gasleitungen gesprengt.

Die Theorie, wonach eine kleine proukrainische Gruppe für die Explosionen verantwortlich ist, scheint zunehmend an Boden zu verlieren. Die schwedische Staatsanwaltschaft erklärte am Donnerstag gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, man gehe davon aus, "dass ein Staat dahintersteckt".

In der New York Times wird Schwedens leitender Staatsanwalt Mats Ljungqvist mit den Worten zitiert, dass in seiner Untersuchung zwar nicht-staatliche Akteure nicht ausgeschlossen würden; aber nur "sehr wenige Unternehmen oder Gruppen" kämen dafür infrage. Am wahrscheinlichsten sei immer noch ein staatlicher Akteur.

Der Theorie zufolge mietete eine Firma mit Sitz in Polen, die zwei Ukrainern gehören soll, in Deutschland eine Segeljacht mit dem Namen "Andromeda". Eine Gruppe von sechs Personen habe mehrere hundert Kilogramm Sprengstoff in einem deutschen Hafen an Bord gebracht und sei dann zur Pipeline gesegelt und habe dort den Sprengstoff angebracht.

Ob die Ermittler diese Theorie tatsächlich für glaubwürdig hielten, ist nicht bekannt. Laut New York Times empfanden einige Experten sie als "eine James-Bond-Story". Ein Geheimdienstexperte habe die Geschichte als Parodie bezeichnet, schreibt Seymour Hersh in einem aktuellen Artikel.

Die Washington Post griff die Geschichte kürzlich ebenfalls wieder auf. Demnach soll die Segeljacht nicht das einzige Schiff gewesen sein, das an den Anschlägen beteiligt gewesen sei. Vielmehr habe sie nur dazu gedient, von den wahren Tätern abzulenken.

Theoretisch wäre es möglich gewesen, den Sprengstoff von Hand an der Pipeline anzubringen; aber selbst für erfahrene Taucher wäre es demnach eine Herausforderung gewesen, knapp 80 Meter in die Tiefe zu tauchen und dann langsam wieder an die Oberfläche zu steigen, um ihren Körpern Zeit zur Dekompression zu geben.

Außerdem hätte eine solche Operation mehrere Tauchgänge erfordert, und dabei wäre die Andromeda der Gefahr ausgesetzt gewesen, von anderen Schiffen entdeckt zu werden. "Der Einsatz wäre mit ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen oder kleinen U-Booten leichter zu verbergen und durchzuführen gewesen", erklärten Tauch- und Bergungsexperten demnach gegenüber der Washington Post.

Auf Grundlage der ersten deutschen Erkenntnisse spekulierten demnach Beamte, dass die polnische oder die ukrainische Regierung an dem Anschlag beteiligt gewesen sein könnten. Beide zählten zu den Gegnern der Ostsee-Pipelines und hätten ein Motiv. Die Regierung in Kiew hatte eine Beteiligung allerdings abgestritten.

Ein wichtiger Berater des polnischen Präsidenten mahnte laut Washington Post allerdings zur Vorsicht, wenn aus den ersten Erkenntnissen Schlüsse gezogen werden. Bei der Segeljacht könnte es sich auch seiner Meinung nach um ein Ablenkungsmanöver handeln, der womöglich von Moskau platziert worden sei.

Von einem Ablenkungsmanöver geht auch Seymour Hersh aus – nur dass sie von der CIA durchgeführt wurde und bei der New York Times und den deutschen Medien willige Abnehmer für die Geschichte gefunden habe. Er schreibt:

Der Trick einer guten Propagandaoperation besteht darin, die Zielpersonen – in diesem Fall die westlichen Medien – mit dem zu versorgen, was sie hören wollen. Ein Geheimdienstexperte drückte es für mich noch prägnanter aus: «Wenn man eine Operation wie bei den Pipelines durchführt, muss man eine Gegenoperation planen – ein Ablenkungsmanöver, das einen Hauch von Realität hat. Und es muss so detailliert wie möglich sein, damit es geglaubt wird.»

Übersetzung des Hersh-Textes durch: Die Weltwoche

In seinem Text wirft Hersh den Journalisten vor, nicht den Fragen nachgegangen zu sein, die sich mit etwas Sachkenntnis stellen würden. So hätte jeder wissen können, dass man ein Segelboot nicht in Gewässern ankern könne, die "260 Fuß tief sind"; das sei die Tiefe, in der die Pipelines zerstört wurden. Die Leitungen seien auch nicht in den Seekarten verzeichnet, die mit dem Mietvertrag geliefert würden. Wie konnte die kleine Crew auf der Jacht also die Gasleitungen finden?

Laut Hersh sagte der Geheimdienstexperte weiter:

Keine dieser Fragen wird von den Medien gestellt. Sie haben also sechs Leute auf der Jacht – zwei Taucher, zwei Helfer, einen Arzt und einen Kapitän, der das Boot mietet. Eine Sache fehlt noch – wer wird die Jacht bemannen? Oder der Koch? Und was ist mit dem Logbuch, das die Leasingfirma aus rechtlichen Gründen führen muss?

Wie nun Washington Post und New York Times übereinstimmend schreiben, haben die westlichen Staats- und Regierungschefs wenig Interesse daran, die Anschläge aufzuklären und möglicherweise eine unbequeme Antwort zu finden.

Man wolle sich lieber nicht mit der Möglichkeit befassen, dass die Ukraine oder Verbündete involviert sein, heißt es in der Washington Post. Schuldige zu benennen, könnte ungewollte Konsequenzen haben und womöglich die demonstrative Einigkeit der Nato-Länder untergraben, schreibt die New York Times. Insofern dürfte des Rätsels Lösung noch einige Zeit auf sich warten lassen.

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