Nordirak: Was bedeutet das Referendum für wen?
Seite 4: Neue Haltung zur Kurdenfrage erforderlich
- Nordirak: Was bedeutet das Referendum für wen?
- Keine homogene Einheit, aber ein Gemeinschaftsgefühl
- Haltung der Kurden in der Diaspora
- Neue Haltung zur Kurdenfrage erforderlich
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Die europäischen Staaten sollten endlich offen sein für neue Ideen und gelebte Modelle vor Ort nicht mit ideologisch gefärbter Brille ansehen. Sie sollten mit den Kurden und den Regierungen in den betreffenden Ländern in Dialog darüber treten, was ein sinnvolles Modell für den Mittleren und Nahen Osten wäre. Da gehört auch das Modell "Rojava", also die demokratische Föderation Nordsyriens, auf den Prüfstand.
Wäre dies ein Modell, die religiösen und ethnischen Konflikte in der Region zu lösen? Würden die Großmächte es ernst meinen mit ihrem Anliegen, für Frieden im Nahen und Mittleren Osten sich zu engagieren, müssten sie mit den zentralistisch organisierten Regierungen wie bspw. der Türkei und Syrien in Dialog treten und sie von einem föderalen System mit Autonomierechten für Minderheiten überzeugen, eben so, wie es ja innerhalb der EU Standard für Minderheiten ist.
Die Erfolge der syrischen Kurden im Kampf gegen den IS und die stetige Weiterentwicklung einer basisdemokratischen Regionalverwaltung findet mittlerweile internationale Anerkennung - wobei Deutschland eine unrühmliche Ausnahme darstellt. Obwohl die deutschen Leitmedien mittlerweile wohlwollend über die nordsyrische Föderation und die Rolle der Kurden berichten, blendet die Bundesregierung dies weiterhin aus und kriminalisiert die kurdischen Sympathisanten weiter.
Umdenkprozess an vielen Stellen nötig
Europa muss sich endlich der Kurdenfrage annehmen. Es kann nicht sein, die Lösung der Kurdenfrage den Ländern zu überlassen, die seit Jahrzehnten dieses Volk unterdrücken. Diese Meinung vertritt mittlerweile selbst das eher konservative Deutsch-türkische Journal.
Syrien
In Syrien scheint es seitens der Regierung einen Umdenkungsprozess zu geben, trotz lokaler Dissonanzen zwischen SDF und syrischer Armee. Der syrische Außenminister hat unlängst angekündigt, eine nordsyrische Autonomie wäre unter bestimmten Voraussetzungen denkbar.
Die syrischen Kurden erklärten sich trotz politischer Differenzen solidarisch mit den nordirakischen Kurden und boten ihnen im Falle eines Angriffs der Türkei Unterstützung an. Sie regten eine Grenzöffnung zwischen den beiden kurdischen Regionen an. So könnten sich beide Regionen auch wirtschaftlich unterstützen und die nordirakische Region sich aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit mit der Türkei langfristig befreien.
Türkei
In der Türkei muss der von Erdogan abgebrochene Friedensprozess mit der PKK wieder aufgenommen werden, denn ohne eine Lösung der Kurdenfrage wird es keinen Frieden in der Türkei geben. Die PKK hat mehrfach Friedensangebote gemacht und zu Verhandlungen aufgerufen - auch mit der Bitte um internationale Vermittlung - sie wurden vom AKP-Regime abgelehnt und von internationalen Akteuren ignoriert.
Die CHP muss ihre kurdenfeindliche Haltung und das kemalistische Dogma "Ein Staat, eine Nation eine Sprache" aufgeben. Auch in der Türkei sollte eine Diskussion über die Ära nach Erdogan geführt werden, denn dieses Terrorregime hat keine Überlebenschance. Bricht Erdogans Kartenhaus zusammen, sollten demokratische Kräfte am Start sein, die sich für ein föderales, demokratisches System stark machen. Die kemalistische CHP sollte ein Teil davon sein und sich dringend einem Erneuerungsprozess unterziehen.
Irak
Die irakische Regierung täte gut daran, nun nicht mit den Muskeln zu spielen. Das Land ist in einem fragilen Zustand. Es ist zwar föderal organisiert, aber von Demokratie weit entfernt. Der Irak ist seit vielen Jahren kein funktionierender Staat mehr. Klientelismus und kriminelle Banden dominieren die Politik. Die irakische Regierung sollte nach dem Referendum mit den Kurden in einen Dialog treten und Kompromisse aushandeln.
Wenn es gelingen könnte, durch die Errichtung von demokratisch geführten "Bundesländern" unter Einbeziehung aller Minderheiten einen demokratischen, föderalen Staat aufzubauen, wäre dies ein stabilisierender Faktor in dieser Region, der Auswirkung auf die umliegenden Länder haben könnte.
Dazu müsste es aber auch ein Umdenken bei den irakischen Eliten geben. Die kurdische Autonomieregierung im Irak sollte sich jetzt nicht auf Provokationen der Nachbarstaaten einlassen. Vielmehr gilt es wahrzunehmen und zu diskutieren, dass ein kurdischer Nationalstaat, der von allen umliegenden Nachbarstaaten abgelehnt wird, keine Überlebenschance hat.
Versäumnisse der kurdischen Autonomieregierung
Die kurdische Autonomieregierung hat es in den vergangenen Jahren versäumt, eine eigene Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung aufzubauen. Sie haben mit ihren Öldollars alles importiert, vor allem aus der Türkei. Dadurch sind sie erpressbar geworden, denn wenn die Türkei ihre Exporte an Grundnahrungsmitteln und Industriegütern einstellt, bricht in der Autonomieregion alles zusammen.
Klug wäre, jetzt leise zu treten und zu sagen: Die kurdische Bevölkerung wünscht sich einen Staat, jetzt schaffen wir erst einmal die ökonomischen und politischen Voraussetzungen für eine unabhängige Versorgung unserer Bevölkerung in der bestehenden Autonomieregion und setzen uns für einen demokratischen Irak ein, in dem alle Minderheiten ihren Platz haben.