Nordsyrien: IS in neuen Uniformen

Seite 2: Gefahr auch für Europa

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Schon im April dieses Jahres warnten kurdische Medien vor einer Reorganisierung des IS mit Hilfe der Türkei. Damals entwickelte sich der Ort al-Bab zum Zentrum der Rekrutierung von ehemaligen IS-Terroristen. In al-Bab regiert mittlerweile ein von der Türkei eingesetzter dschihadistischer Militärrat und das türkische Militär.

Immer wieder gibt es Anschläge gegen die noch verbliebene Bevölkerung, um sie zu vertreiben. Als die Bevölkerung vor ein paar Tagen nach einem Bombenanschlag gegen die türkische Besatzung demonstrierte, eröffneten der Militärrat und türkische Soldaten das Feuer auf die Demonstrierenden. Es gab Tote und Verletzte. Verantwortlich für den Anschlag zeichnete die protürkische Miliz Furqat al-Hamza.

Hawarnews veröffentlichte Dokumente, die ebenfalls die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem IS auch in jüngster Vergangenheit belegen: Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass IS-Angehörige über die Türkei nach Deutschland gehen sollten, um in Europa aktiv zu werden.

Indirekt bestätigte das auch der ehemalige US-Gesandte der Internationalen Koalition gegen den IS, Brett McGurk vor einem Monat, am 20. Oktober: "Ich habe die Kampagne der Internationalen Koalition gegen IS geleitet. Die Türkei hat 40.000 Einreisen von Islamisten (2015 nach Syrien) erlaubt ... Sie kamen aus 110 Ländern über ihre Flughäfen und fuhren dann zur syrischen Grenze."

Brett McGurk erklärte, der IS sei auch an der türkischen Grenze präsent gewesen. Die USA hätten mit der Türkei zusammengearbeitet und sie versucht dazu zu bewegen, die Grenze für Dschihadisten zu schließen, aber sie hätten das nicht getan.

Diese Aussage deckt sich mit Aussagen inhaftierter Dschihadisten in kurdischen Gefängnissen. Der irakische Geheimdienst ließ am vergangenen Dienstag wissen, dass sich die Führung des IS in der Türkei aufhalte. In einem CNN-Interview berichtete der Geheimdienstleiter, General Saad al-Allaq, dass sich neun hochrangige IS-Terroristen mit Zugang zu großen Geldquellen in der Türkei befinden würden.

Pläne des IS würden darauf hindeuten, Gefangene aus Lagern und Gefängnissen in Syrien und dem Irak zu befreien: "Es sollten große internationale Anstrengungen unternommen werden, um dieses Problem anzugehen, denn diese Kriminellen sind in der Lage, diese Lager zu verlassen und in ihre Länder zurückzukehren. Damit stellen sie eine große Gefahr in Europa, Asien und Nordwestafrika dar", so Saad al-Alltaq.

Diese Kader des IS spielen eine Schlüsselrolle bei der Rekrutierung von Kämpfern und Terroristen, sagt der irakische Geheimdienstchef. Mit der Befreiung der IS-Gefangenen plane der IS eine Reorganisierung. Das deckt sich mit Berichten der kurdischen Nachrichtenagentur ANF aus dem April 2019, also vor dem Einmarsch der türkischen Truppen im Oktober 2019.

"Türkei als strategische Basis der Reorganisation"

Sie berichtete über Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes MIT, der IS-Terroristen von Syrien in die Türkei holte, um diese in Camps neu zu organisieren. Das Ergebnis ist die sogenannte Syrische Nationale Armee, die jetzt in Nord- und Ostsyrien ihr Unwesen treibt. Der niederländische Geheimdienst (AIVD) ist ebenfalls der Auffassung, dass der so genannte "Islamische Staat" (IS) die Türkei als strategische Basis für die Reorganisation nutzt und eine Bedrohung für die Sicherheit Europas darstellt.

In einem am vergangenen Montag veröffentlichten Bericht heißt es, der IS und al-Qaida würden die Türkei als strategische Basis nutzen, von der aus sich der IS reorganisieren und auch seine internationalen Pläne weiterentwickeln könne. Nach Ansicht des niederländischen Geheimdienstes betrachtet die Türkei die Dschihadisten nicht als Bedrohung.

Ahmet S. Yayla, Assistant Professor of Homeland Security an der DeSales University war zwischen 2010 und 2013 der Leiter der Anti-Terror-Abteilung der türkischen Nationalpolizei in Urfa. Er berichtet, die Türkei habe seit 2014 keine Operationen mehr gegen al-Qaida oder ihre Verbündeten durchgeführt. Die Gruppe galt "als Freund", so Yayla. Auch dem IS gegenüber seien Geheimdienst und Strafverfolgungsbehörden wohlgesonnen - wenn Mitglieder verhaftet würden, kämen sie nach kurzer Zeit wieder frei.

Diese Aussagen decken sich mit einem Bericht von Fehmi Tastekin in al-Monitor. Der Journalist sieht in dem plötzlichen und hektischen Agieren der Türkei gegen IS-Mitglieder einen Zusammenhang mit dem Tod des IS-Anführers Al-Baghdadi. Dieser befand sich fünf Kilometer vor der türkischen Grenze in einem neu gebauten Haus im türkisch kontrolliertem Territorium, als die USA nach Hinweisen der Militärs der Selbstverwaltung SDF das Haus angriffen.

Einen Tag vorher verhaftete das türkische Militär Baghdadis Schwester Rasmiya Awad zusammen mit ihrem Mann, ihrer Schwiegertochter und fünf Kindern in der ebenfalls türkisch kontrollierten nordsyrischen Grenzstadt Azaz. Viele Journalisten fragten sich, wie es angehen könne, dass der türkische Geheimdienst erst jetzt davon Kenntnis bekommen habe, wo er doch bestens mit den Islamisten vernetzt ist.

IS-Anhänger in Abschiebezentren

Wie erst jetzt bekannt wurde, wird Baghdadis erste Frau, Asma al-Qubaysi, seit Juni 2018 in der Grenzregion Hatay/Türkei zusammen mit 11 Erwachsenen und Kindern, darunter Baghdadis Tochter Leila Jabeer, mit 250 weiteren IS-Angehörigen in einem sogenannten "Abschiebezentrum" festgehalten. Daraus könnte man schließen, die Türkei sei nun entschlossen, gegen den IS tätig zu werden. Aber weit gefehlt. Das sind nur Nebelkerzen.

Tastekin stellt wichtige Fragen in diesem Zusammenhang: Warum werden IS-Anhänger in Abschiebezentren festgehalten und nicht wie alle anderen von der Türkei definierten "Terroristen" vor Gericht gestellt und inhaftiert? Seit wann sind diese Leute in den Abschiebezentren? Könnte es sein, dass sie bis vor kurzem in normalen Häusern lebten und erst nach dem Tod Baghdadis in Abschiebezentren gebracht wurden, um den Verdacht auszuräumen, die Türkei unterstütze sie?

Denn Abschiebezentren haben eine ganz andere Funktion: Sie sollen Ausländer bis zur Abschiebung festhalten, die gegen das Passrecht verstoßen haben, ihr Visum überschritten haben oder ein Sicherheitsrisiko darstellen. Sie sind keine Gefängnisse, haben flexible Bedingungen im Kontakt mit der Außenwelt, der telefonischen Nutzung und der persönlichen Treffen mit Verwandten oder Anwälten. Personen dürfen höchstens für 6 Monate in einem Abschiebezentrum festgehalten werden.

Die Dauer der Inhaftierung einer Person in einem Abschiebezentrum ist auf sechs Monate, in Ausnahmefällen auf bis zu einem Jahr begrenzt. Baghdadis erste Frau Qubaysi hätte daher spätestens im Juni 2019 nach einem Gerichtsverfahren in den Irak ausgeliefert werden müssen.

Ein Anwalt, der zwei IS-Angehörige aus dem Kaukasus vertrat, berichtete al-Monitor, seine Klienten seien in ein Abschiebezentrum gebracht worden, nachdem sie in Gaziantep, einer Provinz an der Grenze zu Syrien, erwischt wurden. Die Abschiebeverfahren wurden jedoch durch eine Berufung bei einem Gericht gestoppt, was zur Freilassung des Paares nach einem Jahr führte.

Der Anwalt stellte mutig die Frage, warum denn gefangen genommene YPG-Mitglieder (kurdische Einheiten der Syrian Democratic Forces (SDF) in Nordsyrien, Anm. d. Verf.) nicht in Abschiebegewahrsam genommen wurden, sondern im Gefängnis landeten? "Warum tun sie nicht dasselbe, wenn es um IS geht?", fragt sich der Anwalt.

Ein weiteres Detail dabei ist, dass die Türkei die IS-Angehörigen aus dem Abschiebegewahrsam nicht an den syrischen Staat ausliefert, sondern sie über den Grenzübergang Cilvegozu in die türkisch kontrollierten Gebiete schickt, wodurch sie dann auf freiem Fuß sind.

Trotz dieser offensichtlichen Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem IS, bzw. dem türkischen Support zum Wiederaufbau islamistischer Strukturen in den jüngst eroberten Gebieten in Nordsyrien mit Waffen, Ausbildung und Unterschlupf der IS-Terroristen, nimmt die Türkei an der Anti-IS-Konferenz in Washington teil. Böse Zungen sagen, damit sitze der IS direkt mit am Tisch...

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