Nordsyrien: Türkei bricht Waffenstillstand bei Ain Issa
- Nordsyrien: Türkei bricht Waffenstillstand bei Ain Issa
- Keine demokratische Lösung für Syrien in Sicht
- Auf einer Seite lesen
Heftige Kämpfe zwischen türkischem Militär und den SDF
In der Nacht zum Freitag startete die türkische Armee ihre Offensive auf die nordsyrische Kleinstadt Ain Issa. Obwohl seit einem Jahr ein Waffenstillstandsabkommen besteht, ist die Stadt seit Oktober immer wieder unter Artilleriebeschuss. Nun will der türkische Präsident Erdogan mit diesem völkerrechtswidrigen Angriff erneut Fakten schaffen und seine Besatzungszone in Nordsyrien erweitern. Die USA, Europa, aber auch Russland lassen ihn erneut gewähren.
Ain Issa ist eine Stadt mit einem großen Anteil an christlicher Bevölkerung, die nun akut in Gefahr ist. Die Stadt hat aber auch eine strategische Bedeutung: Sie liegt 30 km von der türkisch-syrischen Grenze an der Schnellstraße M 4, die parallel zur Grenze bis nach Aleppo führt. Gerät sie unter türkische Kontrolle, ist die Verbindung nach Kobane und in die Sheba-Region gekappt.
Heftige Kämpfe zwischen türkischem Militär und den SDF
In der Nacht auf Freitag schnitt das türkische Militär Ain Issa von der Elektrizität ab und schoss Leuchtkörper über der Stadt ab, die nach Angaben von Syria.liveuamap als Signal für den bevorstehenden Angriff gelten sollten. In den frühen Morgenstunden begannen die Angriffe auf die Dörfer Miserfa und Celbe im Osten von Ain Issa sowie auf das Dorf Seyda im Westen der Stadt.
Es gab auch Versuche, die M 4 unter Kontrolle zu bekommen. Nach Angaben des SDF-Kommandanten Aziz Xerbisan setzte die Türkei erstmalig auch wieder die türkische Luftwaffe ein. Das erstaunt, denn eigentlich steht der Luftraum östlich des Euphrat unter der Kontrolle der Internationalen Anti-IS-Koalition. Daher bräuchte die Türkei die Erlaubnis der USA für Luftangriffe. Aber die USA sind derzeit mit sich selbst beschäftigt. Das nutzt Erdogan aus.
Die SDF (Syrian Democratic Forces, Demokratische Kräfte Syriens) konnten die Angriffe der türkischen Soldaten und ihrer islamistischen Söldner bisher abwehren. Das türkische Militär setzte Panzer, Haubitzen und Mörser sowie Kampfdrohnen ein. Die Junge Welt berichtet unter Berufung auf die kurdische Nachrichtenagentur in Syrien, ANHA, von vielen getöteten türkischen Soldaten und ihren verbündeten Dschihadisten.
Die Syrische Menschenrechtsbeobachtungsstelle (SOHR) berichtet von mindestens zehn Dschihadisten, die bei den Kämpfen am Freitag getötet wurden. Wie viele Zivilisten zu Schaden gekommen sind, ist bislang nicht bekannt. Am Freitagabend verstärkten die türkischen Truppen gemeinsam mit den Dschihadisten ihre Präsenz bei Abu Rasen (kurd. Zirgan) nördlich der christlichen Stadt Til Temir. Bei Til Temir ist auch das Washokani-Camp, das mehr als 13.000 Geflüchtete aus den im Oktober 2019 türkisch besetzten Städten Tall Abyad (kurd.: Gire Spi) und Ra's al-'Ain (kurd.: Serekaniye) beherbergt. Zehntausende Geflüchtete sind zudem in Schulen in Til Temir oder den umliegenden Dörfern untergekommen.
Zeitgleich zu den Angriffen auf Ain Issa wurden auch nordwestlich bei Manbij (kurd. Minbic) türkische Truppen zusammengezogen, das Dorf Toxar, nordöstlich von Manbij geriet dabei unter Artilleriebeschuss. Wenn man sich die Karte von Nordsyrien anschaut, wird deutlich, dass es die Türkei auf die Region Kobane abgesehen hat, um das von ihr besetzte Gebiet von Afrin über Jarablus und Kobane den besetzten Gebieten um Tall Abyad und Ra's al-'Ain anzuschließen.
Der Weg nach Rakka und Deir ez-Sor ist dann nicht mehr weit. Dies sind alles die Gebiete, welche die SDF in den Jahren bis 2018 unter hohen Opfern vom IS zurückerobert hatte. Hier liegen auch die Gefängnisse und Lager mit den IS-Gefangenen. Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn diese Gebiete in die Hände der Türkei und ihrer islamistischen Söldner - viele davon gehörten ursprünglich dem IS an - fallen. Die USA und die Internationale Anti-IS-Koalition sind über die türkischen Angriffe genau informiert.
Russland spielt Zaungast
Obwohl die russische und syrische Armee mit den SDF drei gemeinsame Observierungsposten bei Ain Issa errichtet haben, griffen sie bislang nicht in die Kämpfe ein, wie an dieser Stelle berichtet wurde.
Der Sprecher der demokratischen Selbstverwaltung, Kino Gabriel, warf Russland vor, seiner Verantwortung als Garantiemacht des Waffenstillstands nicht nachzukommen. Im Oktober 2019 legte Russland mit der Türkei die Grenzen der türkischen Besatzungszone fest. Ain Issa gehörte nicht dazu. Die Selbstverwaltung habe das Recht auf Selbstverteidigung, wenn der Waffenstillstand verletzt werde, sagte Gabriel.
Russland versucht immer wieder, die Selbstverwaltung zur Übergabe der von der Türkei bedrohten Gebiete an die syrische Regierung zu zwingen. Die Selbstverwaltung lehnt dies mit gutem Grund ab, denn die Bevölkerung käme damit vom "Regen in die Traufe". Sie erinnert sich noch sehr gut wie viele Menschen grundlos in Assads Folterknästen verschwanden, wie man sich nur im Privaten leise kritisch über das Assad-Regime äußern konnte und wie die allgegenwärtigen syrischen Geheimdienste agierten.
Russlands Deal mit der Türkei
In den letzten Astana-Gesprächen mit Russland war die Türkei bereit, sich von den (durch syrisches Militär umstellten) Beobachtungsposten südlich von Idlib zurückzuziehen. De facto übergab die Türkei diese Gebiete im Westen des Landes an Damaskus, obwohl sie angeblich die Bevölkerung vor dem Assad-Regime schützen wollte.
Das türkische Militär zieht sich in das vom Al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS) kontrollierte Gebiet zurück. Man erinnere sich: die sogenannte "gemäßigte Opposition" in Idlib (die mit islamistischen Milizen wie HTS zum "IS in anderen Uniformen" mutierte) wurde auch von Deutschland gegen das Assad-Regime unterstützt.
Mittlerweile befinden sich in dem von HTS kontrollierten Gebiet von Afrin bis Idlib 60 Stützpunkte und ca. 20.000 türkische Soldaten. Da der Abzug aus den umstellten Militärposten zeitgleich mit den Angriffen auf Ain Issa passiert, muss man davon ausgehen, dass als Gegenleistung für den Rückzug des türkischen Militärs aus der Region um Idlib die russische Erlaubnis für den türkischen Angriff bei Ain Issa erfolgte.
Russland stellt die Selbstverwaltung mit solchen Deals vor die Wahl 'entweder Erdogan oder Assad' und versucht sie auf diese Weise zu zermürben. Ähnliche Deals gab es schon bei früheren Gesprächen in Astana und Sotschi: Russland gab der türkischen Regierung grünes Licht für die Invasion in al-Bab im Austausch für Aleppo und die Annexion von Afrin erfolgte im Austausch für die Räumung von Ost-Ghouta. Damals wurden die Islamisten mit ihren Familien von Ost-Ghouta in Lastwagen nach Afrin und Idlib umgesiedelt.