Nukleare Teilhabe: Wie Europa lernte, die Bombe zu lieben

Kurz vor dem Comeback? Die Atombombe "Little Boy 3" als Museumsstück. Foto: Makalu79 / CC0 1.0

In einer existenziellen Frage sind die Mehrheitsverhältnisse in EU-Ländern innerhalb eines Jahres gekippt.

Durch Russlands Krieg in der Ukraine sind auch die Atomwaffen wieder ins Zentrum der Strategie gerückt. Bereits kurz nach Beginn des Krieges versetzte Präsident Wladimir Putin die Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft. Jetzt legte Ex-Präsident Dmitri Medwedew nach und warnte im Zusammenhang mit den Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshof zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine vor einem Atomkrieg:

"Die Idee, ein Land zu bestrafen, das über das größte Atomwaffenarsenal verfügt ist an und für sich absurd." Dadurch könnte eine "Bedrohung für die Existenz der Menschheit" entstehen. Was für eine Hybris! Was für eine Demonstration purer Machtpolitik! Es darf darüber spekuliert werden, was Russland mit den wiederholten Hinweisen auf die Atomwaffen bezweckt. Ist es eine Drohkulisse? Soll der Westen von weiterer Unterstützung der Ukraine abgehalten werden? Droht gar ein Atomkrieg in Europa?

Die russischen Gedankenspiele haben jedenfalls Wirkung gezeigt. Die Menschen in Europa diskutieren wieder die Rolle der Atomwaffen. Bereits mehrfach wiesen Spitzenpolitiker aus Nato-Ländern darauf hin, dass die nukleare Abschreckungsstrategie weiterhin gelte und dass am Konzept der nuklearen Teilhabe europäischer Länder auf keinen Fall gerüttelt werde. Das war vor Beginn des Krieges ganz anders. In fünf Ländern, Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei, sind schätzungsweise 100 amerikanische Atomwaffen stationiert.

Mit für Atomwaffen zertifizierten Kampfflugzeugen sollen im Ernstfall die amerikanischen B-61-Bomben von den Luftwaffen der teilnehmenden Länder ins Ziel gebracht werden. Dieses System der nuklearen Teilhabe war ursprünglich in der frühen Phase des Kalten Krieges konzipiert worden, um die Verbreitung von Atomwaffen unter den westlichen Verbündeten zu verhindern.

Die Nato will, dass "Vorteile, Verantwortlichkeiten und Risiken der nuklearen Abschreckung in der Allianz geteilt werden." Außerdem, so hoffen europäische Strategen, werden die USA damit stärker in die Sicherheit Europas eingebunden.

Die Befürworter dieser nuklearen Teilhabe argumentieren, dass ja die Abschreckung funktioniert habe, wie jeder Tag ohne den Tabubruch des Einsatzes von Atomwaffen beweise. Die Gegner weisen darauf hin, dass diese Abschreckung, die die Vernichtung Europas in Kauf nimmt, unglaubwürdig ist. Die beiden Positionen stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Nur die Türkei ging den umgekehrten Weg

Vor Beginn des Ukraine-Krieges gab es in vier der fünf Länder der nuklearen Teilhabe ernsthafte Diskussionen über ein Ende dieses Systems und den Abzug der US-Atomwaffen. Lediglich die Türkei ging den umgekehrten Weg. Präsident Recep Tayyip Erdogan sprach 2019 davon, es sei nicht akzeptabel, dass Nuklearwaffenstaaten Ankara verbieten wollen, eigene Atomwaffen zu entwickeln. Dabei ließ Erdogan offen, ob die Türkei konkrete Pläne zur Atombewaffnung habe.

In Belgien beschäftigte sich das Parlament mit der nuklearen Teilhabe und mit einer knappen Mehrheit von 74 zu 66 sprachen sich die Parlamentarier gegen eine Mitgliedschaft im Atomwaffenverbotsvertrag aus. Dieser knappe Ausgang der Abstimmung zeigte, wie umstritten die Präsenz von US-Atomwaffen auf belgischem Territorium war.

Immerhin stimmte knapp die Hälfte für die Entfernung dieser Waffen, denn nach dem Atomwaffenverbotsvertrag ist diese Form der nuklearen Teilhabe ausgeschlossen. Umfragen zeigten, dass mehr als drei Viertel der belgischen Bevölkerung für die Mitgliedschaft im Atomwaffenverbotsvertrag plädierte.

Ähnlich groß war die Kritik der niederländischen Bevölkerung an der nuklearen Teilhabe. Fast 80 Prozent befürworteten die Mitgliedschaft im Atomwaffenverbotsvertrag und nur sieben Prozent teilten die ablehnende Haltung der Regierung. Es gab eine Reihe parlamentarischer Diskussionen und die meisten politischen Parteien konnten sich mit der Idee des Abzugs der amerikanischen Bomben anfreunden.

In Italien sprachen sich sogar 87 Prozent der Bevölkerung für einen Beitritt zu diesem Vertrag aus – nur fünf Prozent waren dagegen. Und sogar 76 Prozent meinten, Italien solle dem Vertrag selbst dann beitreten, wenn kein anderes Nato-Land Mitglied werde. Drei Viertel der Italiener befürworteten den Abzug der US-Atomwaffen.

Der Krieg in der Ukraine hat dieses Bild dramatisch verändert. Laut Eurobarometer des Europäischen Parlaments vom Frühjahr 2022 empfinden die meisten Bürger den Krieg in der Ukraine als "grundlegenden Wandel": 61 Prozent der Europäer sind demnach nicht zuversichtlich, dass ihr Leben unverändert weitergehen wird. "59 Prozent der Europäer sehen jedoch die Verteidigung gemeinsamer europäischer Werte wie Freiheit und Demokratie als Priorität an - auch wenn dies die Preise und die Lebenshaltungskosten beeinflussen würde."

In der Umfrage wurde nicht speziell nach der Rolle von Atomwaffen gefragt, aber Verteidigungsanstrengungen im Allgemeinen spielen jetzt eine wichtigere Rolle. "Der Anteil der Befragten, die der Meinung sind, dass das vorrangige Thema die Verteidigung und Sicherheit der EU ist, reicht von 47 Prozent in Polen und Tschechien und 45 Prozent in Litauen bis zu zwölf Prozent in Frankreich, 14 Prozent in Spanien und 16 Prozent in Portugal."

In Deutschland hat sich die Haltung der Menschen durch den Krieg ebenfalls verändert. Heute sprechen sich 52 Prozent der Deutschen für den Verbleib von US-Atomwaffen hierzulande aus. Nur 39 Prozent votieren für einen Abzug.

Zustimmung vor gut einem Jahr nur bei 14 Prozent

In den vergangenen Jahren hatte es deutliche Mehrheiten für einen Abzug der US-Atomwaffen gegeben. Noch Mitte 2021 waren nur 14 Prozent der Bevölkerung für Atomwaffen in Deutschland, eine Mehrheit von 57 Prozent votierte klar für den Abzug.

Dies hat sich grundlegend geändert. Nach der Rolle der Atomwaffen beim jüngsten Nato-Gipfel in Madrid befragt, erstickte Kanzler Olaf Scholz eine mögliche Debatte mit zwei knappen Sätzen: "Die Nato hat hier seit Jahren eine Strategie, die sie weiter verfolgt. Das ist etwas das wir so weiterführen, wie wir es seit Jahrzehnten tun." Keiner der SPD-internen Kritiker, die früher die nukleare Teilhabe beenden wollten, widersprach öffentlich.

Jetzt ist es nicht nur die Türkei, die über eigene nukleare Optionen nachdenkt. Die Stimmen in Europa werden lauter. Der Präsident der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber, sagte in einem Interview: "Wir müssen jetzt auch über die nukleare Option reden." Und der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, optiert für eine Stärkung der europäischen Sicherheit und meint: "In Hinblick auf den nuklearen Schutzschirm müssen wir mit Frankreich ins Gespräch kommen…"

Schon 2020 hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen strategischen Dialog über Frankreichs nukleare Abschreckung mit "unseren europäischen Partner, die dazu bereit sind" gefordert. Damals erhielt Macron keine zustimmende Antwort von den Partnern. Wird dies jetzt anders?

Kurzum: Russland hat die Debatte über die Rolle der Nuklearwaffen in Europa neu eröffnet und von der "Abrüstungsinitiative", die die deutsche Bundesregierung bei ihrem Amtsantritt im Dezember 2021 im Koalitionsvertrag festgeschrieben hatte, ist nichts mehr zu hören. Die Stimmung gegen Atomwaffen hat sich mehrheitlich in ein Pro gewandelt.