"Obamacare"-Webseite: "Zwei Stunden Folter"

Nach der erfolgreichen Verteidigung gegen Erpressungsversuche der Republikaner muss Obama nun mitansehen, wie sein Prestigegesetz "Obamacare" seit Einführung Anfang Oktober in einem Sumpf technischer Funktionsstörungen versinkt.

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Fehlermeldungen, Time-Outs, Log-In-Probleme, leere Bildschirme - das sind nur einige der Probleme, mit denen sich US-Bürger seit über vier Wochen herumplagen, wenn sie auf der Regierungs-Webseite des Online-Marktplatzes Healthcare.gov nach einem passenden Versicherungsschutz suchen wollen. "Zwei Stunden Folter" nennt es ein Autor der HuffingtonPost nach einem Selbstversuch. Am Ende gelang ihm zwar die Registrierung, aber "Obamacare" ist eine Geduldsfrage.

Besser anrufen?

Die Benutzeroberfläche und der elektronische Prozess des Registrierens sind anscheinend technisch so unausgereift, dass nur ein Bruchteil der fast 10 Millionen Menschen, die die Seite innerhalb der ersten zwei Wochen besuchten, damit zurechtkamen. Lediglich 36.000 manövrierten sich erfolgreich durch alle über dreißig Schritte, erlangten eine Begutachtung, um sich dann um eine Police kümmern zu dürfen, berichtet die Washington Post mit Bezug auf eine Analyse der Marktforschungsfirma Millward Brown Digital.

Ein Teil der 10 Millionen "Unique Visitors" ließe sich freilich in jene Gruppe einteilen, die nach den Wochen des Streits über die Reform neugierig schauen wollten, wie sich "Obamacare" visuell im Internet offenbart. Bleiben aber immer noch drei Millionen Bürger, laut Millward Brown Digital, die sich eigentlich registrieren lassen wollten, am Vorgang aber scheiterten. Lediglich eine Million schaffte es schlussendlich. Davon abgesehen avancierte die "Hilfe"-Seite: "Ich habe Schwierigkeiten, mich in meinen marketplace account einzuloggen" mit über 200.000 Klicks scheinbar zu einer der beliebtesten Unterseiten von Healthcare.gov.

"Miserabel” nannte der Vizepräsent Matthew Pace die Zahlen, so die Post weiter. Aneesh Chopra, ehemaliger leitender Technischer Mitarbeiter Obamas, interpretierte die Daten-Analyse auf seine Weise. Die Zahlen, so Chopra, würden vielmehr das anhaltende Interesse der Menschen für den Versicherungsschutz zeigen. Generell viel wichtiger wäre sowieso, dass über eine Million Menschen einen Account angelegt hätten. Den "heiligen Gral”, wie er nennt. Er sieht das Problem vielmehr in der Beliebtheit der Seite: "Ich glaube, die haben die Seite gebaut, um eine Kapazität von 60.000 Menschen zur gleichen Zeit zu unterstützen. Und was sie tatsächlich bekamen, waren über 250.000 Menschen zur genau gleichen Zeit."

Sein ehemaliger Chef ließ dagegen nach zwei Wochen Webseiten-Chaos verlauten, dass es "keine Ausrede" für das Scheitern gäbe. "Es gibt nichts schönzufärben. Die Webseite ist zu langsam. Menschen sind während des Anmeldungsverfahrens hängengeblieben. Die Probleme werden repariert", versprach Barack Obama während einer medienwirksamen Rede vor dem Weißen Haus. Bis dahin, so Obamas Rat, möge man doch bitte das Telefon oder die Email für die Anmeldung nutzen.

Falsche Datenübertragung, falsche Policen

Die schlechte Benutzeroberfläche ist dabei nicht einmal das größte Problem. Viel schwerer wiegt, was nach Eingabe der Daten passiert, wenn die Daten zur Überprüfung, für welche Versicherungsoption man denn nun berechtigt ist, weitergeschickt werden.

So sind unter anderem Adressen falsch übermittelt worden, ein Mann wurde durch ein Fehler im System gar zum Polygamisten abgeurteilt, statt tatsächlich einer Ehefrau wurden ihm gleich drei zugestanden, und manch ein Ehepartner galt plötzlich als Kind des anderen . Ein Kunde kauft auf Basis einer inkorrekten Datenübermittlung im Glauben, das Richtige zu tun, den falschen Krankenversicherungsplan oder gar keinen - ein Durcheinander, mit dem wohl nicht einmal einige "Obamacare"-Kritiker gerechnet hätten.

"Tech Surge”

Das Gesundheitsministerium (HHS) kündigte daher Mitte Oktober eine Technikoffensive ("tech surge”) an, um Healthcare.gov zu verbessern. Man versprach einige der "Best and Brightest" aus dem Privatsektor von Google und Oracle anzuheuern, um zusammen der Probleme Herr zu werden.

"Best and Brightes”-Zyniker könnten sich an David Halberstams Buch mit dem gleichnamigen Titel erinnert fühlen, in dem jene Besten und Klügsten den Vietnamkrieg verbockten. Doch die HHS ist anscheinend ernsthaft bemüht. Die Seite ist seit der Ankündigung zur Nachtstunde für eine Überarbeitung gesperrt. Innerhalb der letzten Woche wären über zwei Dutzend Verbesserungen durchgeführt worden, heißt es in einem aktuellen "Digitalk-Blog"-Eintrag der HHS.

Einen vor wenigen Tagen sich ereignenden "außerplanmäßigen Ausfall” der Seite konnte man offenbar dennoch nicht verhindern. Zumindest aber sind wohl mittlerweile die Probleme beim Bewerbungs- und Einschreibungssystems behoben. "Wir machen Fortschritte...und kreuzen Punkte vom Mängelprotokol", heißt es aus dem Ministerium. "Wir gehen davon aus, dass (die Webseite) bis zum Ende dieses Monats so funktioniert wie es vorgesehen war", sagte Obama kürzlich.

Zehn Jahre alte Technologie?

Einige Experten bezweifeln jedoch, dass das Beheben von Programmierfehlern ausreichend sein wird. "Healthcare.gov wurde auf Basis einer zehn Jahre alten Technologie gebaut, die vermutlich anhaltende Problembehebungen und Updates benötigt und letztendlich eine Überarbeitung des ganzen Systems", erklärten IT-Experten. "Ich habe in den vergangenen fünf Jahren keine Webseite gesehen, bei der man den Cache löschen muss, um einen Fehler zu beheben", so ein Computer-Ingenieur gegenüber der Zeitung. "Das ist eine Fehlerbehebung für das Web 1.0." Eine Einschätzung, die IT-Experten vom Wall Street Journal teilen. Die Seite, schreibt WSJ, scheint auf Basis einer "schludrigen Software" und unter Zeitdruck zusammengebaut geworden sein (Reddit-Diskussionsrunde über Bugs im System ).

Wie kann ein fast 400 Millionen US-Dollar teures Projekt so drastisch und nachhaltig versagen? Diese Frage und das zweifelhafte Ergebnis haben auch die Republikaner auf den Plan gerufen. Sie luden die verantwortliche Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius vor einem Ausschuss des Repräsentantenhauses. "Wir waren bestrebt die Webseite funktionstüchtig freizuschalten, was wir eindeutig nicht geschafft haben", gab Sibelius zu. Man hätte schlicht kein adäquates "end-to-end testing" durchgeführt.

Das Prestigeobjekt sollte nach all dem Hin-und-her über den Shutdown offenbar endlich und pünktlich an den Start gehen. Sebelius zeigte sich reumütig: "Ich bin verantwortlich für das Debakel. Let me say to the American people: I apologize." Zurückgetreten (worden) ist sie bisher noch nicht, einzig ihr leitender Beamter, Tony Trenkle, verantwortlich für Technologie im Gesundheitsministerium, verlässt die Behörde zum 15 November - für einen Job im Privatsektor. Nicht klar ist, ob er als Reaktion auf das Debakel der Webseite abdankte. Er ist die erste Person, die seit Anfang der Pannenserie ihren Posten verlässt.

Keine Koordination, keine Zeit für Tests, keine funktionierende Webseite

Während der Unterhaus-Anhörung stellte Sebelius in Frage, ob der Auftragnehmer für das Entwickeln der Webseite, CGI Federal, den gesamten Lohn von 197 Millionen US-Dollar wegen der problematischen Einführung ausgezahlt bekommen würde. Man bezahle nicht für etwas, das nicht fertig ist, sagte sie. CGI derweil behauptete in der selben Anhörung, dass man durchaus gerne "Monate" mehr Zeit gehabt hätte, um die Seite zu testen, aber dass die verantwortliche Unterbehörde des Gesundheitsministeriums, die Centers for Medicare and Medicaid Services, sich dafür entschied, erst zwei Wochen vor dem geplanten Launch Tests durchzuführen. Dokumente bestätigen, dass CGI vorweg Sorgen bekundete über eine unzureichende Testphase.

Während die Suche nach Schuldigen und Verantwortlichen auch die kommenden Wochen dominieren wird, kommt das US-Magazin Slate einer Antwort auf die Frage, wie es zu diesen Fiasko kommen konnte, wohl am nächsten: Die Webseite healthcare.gov wurden von zwei verschiedenen Unternehmen zusammengebaut: Verantwortlich für das Back-End war CGI-Federal, für das Front-End die Firma Development Seed. Der fundamentale Fehler, so vermutet Slate, ist, dass jeder für sich allein an Teilen eines komplexen Webprojekts baute und zwischen diesen beiden Auftragnehmern eine Koordination offenbar nicht vorhanden war. Rechnet man dazu den knappen Zeitrahmen hat man ein dilettantisches Großprojekt und einen Sumpf für Steuergelder. Hört sich nach einem zweiten Hauptstadtflughafen an.