Österreich: Vorgezogene Neuwahlen im nächsten Jahr?
Koalitionsstreit um CETA - Blau-Schwarz erstmals beliebtestes Koalitionsmodell
In Österreich streitet sich die Große Koalition aus sozialdemokratischer SPÖ und christdemokratischer ÖVP derzeit unter anderem um das Freihandelsabkommen CETA, das die Teilnehmer einer SPÖ- Mitgliederbefragung mit 88 Prozent Mehrheit ablehnten (vgl. Visegrád-Anschluss, CETA-Befragung und Facebook-Zensur). Der SPÖ-Fraktionsvorsitzende Andreas Schieder hat allerdings eine Hintertür offen gelassen und verlautbart, das Parteipräsidium könnte nach einem Zusatzprotokoll diesem Abkommen am Freitag doch zustimmen. Bis dahin sollen Juristen prüfen, was dieses Zusatzprotokoll verhindert und was nicht.
Einem letzte Woche veröffentlichten Gutachten des Kölner Staats- und Völkerrechtlers Bernhard Kempen zufolge würde es reichen, wenn ein einziges EU-Land nicht im Ministerrat zustimmt, um CETA in der gesamten EU zu stoppen, weil auch dessen vorläufige Anwendung nicht nur eine qualifizierte Mehrheit, sondern Einstimmigkeit erfordert. Daran, so Kempen, ändere auch die Herausnahme der besonders umstrittenen Schiedsgerichte aus der vorläufigen Anwendung nichts.
Gutachten: Österreich könnte vorläufige Anwendung von CETA aufhalten
Die österreichische Regierung hatte zuvor die gegenteilige Rechtsauffassung vertreten und durchblicken lassen, eine Ablehnung durch ein einziges Land sei ohnehin nicht von Belang. Ob sich ihre Meinung durch das Gutachten geändert hat, ist bislang nicht bekannt. Außer Österreich könnten zudem die Niederlande gegen CETA stimmen - dort läuft gerade ein entsprechendes Referendumsbegehren. Geringer sind die Chancen, dass das in seiner derzeitigen Besetzung eher wenig regierungskritische deutsche Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass das Freihandelsabkommen nicht mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist.
Schieder meinte auf eine Frage des ORF hin, er sehe in CETA keinen Grund für vorgezogene Neuwahlen, obwohl er nicht ausschloss, dass es solche geben wird. Vor allem aus der ÖVP mehrten sich nämlich in den letzten Wochen Stimmen, die davon ausgehen, dass die nächste Nationalratswahl früher als geplant stattfinden könnte: Die bekannteste unter diesen Stimmen war Außenminister Sebastian Kurz - er begründete diese Einschätzung offiziell jedoch nicht mit dem Koalitionsklima, sondern mit dem 2018 anstehenden Brexit, der seiner Ansicht nach die Wahl stören könnte.
Konjunkturprogramm mit Schulden oder Sparen?
Der Tiroler ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter nannte dagegen in der ORF-Radiosendung Im Journal zu Gast explizit auch den von beiden Koalitionsparteien bemängelten Reformstau in der Regierung. Die von SPÖ-Kanzler Kern geforderten konjunkturbelebende Maßnahmen, die die Kronen-Zeitung im September als "letzten Sargnagel für eine kaputte Koalition" bezeichnete, hält er zwar für grundsätzlich richtig - aber nur dann, wenn sie (anders als von Kern angedacht) nicht mit neuen Schulden, sondern mit Einsparungen finanziert werden.
Kern wiederholte währenddessen in einem Interview mit dem italienischen Fernsehmagazin Agora seine Forderung nach mehr Schulden und einem Ende der europäischen Sparvorgaben. Er, so der österreichische Kanzler in diesem Zusammenhang, könne verstehen, warum der sozialdemokratische italienische Ministerpräsident Matteo Renzi mit den Ergebnissen des letzten EU-Gipfels im slowakischen Preßburg unzufrieden sei.
SPÖ will angeblich FPÖ überholen
Der Zeitung Österreich zufolge hat Kern potenzielles Interesse an Neuwahlen, weil die Umfragewerte seiner SPÖ seit seiner Amtsübernahme von 23 auf 27 Prozent stiegen und weil ihm die Österreicher gegenüber dem derzeitigen ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner mit 40 zu 17 Prozent den Vorzug geben. Allerdings räumt das Blatt ein, dass Kern bei Neuwahlen wahrscheinlich nicht gegen Mitterlehner antreten muss, sondern gegen Sebastian Kurz - und der ist in Umfragen mit 56 Prozent deutlich beliebter als er.
Den Informationen von Österreich nach glaubt man an der SPÖ-Spitze, dass Kern vor allem dann auf baldige Neuwahlen setzen könnte, wenn der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer am 4. Dezember zum Bundespräsidenten gewählt wird. Dabei soll sich der Kanzler auf Umfragen stützen, denen zufolge ein großer Teil der Wähler Hofers nicht möchte, dass eines der politischen Lager über die alleinige Macht verfügt und bei einer der Bundespräsident bald folgenden Nationalratswahl eher für die SPÖ oder die ÖVP als für die Freiheitlichen stimmen würde. Dann, so hofft man angeblich, könnte die SPÖ die FPÖ in der Wählergunst überholen und mit den Grünen und den Neos eine Koalition ohne die ÖVP bilden. Ob dieses Szenario realistisch ist, ist freilich ebenso unklar wie die Frage, ob man das an der SPÖ-Spitze wirklich glaubt oder ob man es nur einem Österreich-Reporter erzählt hat.
Fest steht dagegen, dass die SPÖ den bekannten israelischen Wahlkampagnenmanager Tal Silberstein verpflichtet hat, der vorher unter anderem für Julia Timoschenko, Michael Häupl und Alfred Gusenbauer tätig war. Der Kronen-Zeitung zufolge lautet der Arbeitstitel, unter dem die neue SPD-Wahlkampagne entworfen wird, "Hoffnung statt Neoliberalismus". Angeblich geht die CETA-Mitgliederbefragung bereits auf Silbersteins Konto. Die Presse meinte dazu: "Jedenfalls sind Wahlen meist nicht weit, wenn Silberstein engagiert wird - denn sonst bräuchte man ihn ja nicht zu engagieren."
Blau-Schwarz erstmals beliebtestes Koalitionsmodell
In der Bevölkerung geht die Meinung zu vorgezogenen Neuwahlen einer neuen Gallup-Umfrage nach auseinander: 43 Prozent sind dafür - und 44 Prozent dagegen. Am liebsten wäre den Österreichern nach einer Neuwahl erstmals eine Koalition aus FPÖ und ÖVP, die 22 Prozent der Befragten bevorzugen. Fas so viele - 21 Prozent - sprechen sich für eine Koalition aus SPÖ, Grünen und Neos aus. Deutlich unbeliebter ist mit 17 Prozent eine Neuauflage der Großen Koalition, die nur noch aus Traditionsgründen so genannt wird.
Neun Prozent der Umfrageteilnehmer wäre eine Koalition aus Freiheitlichen und Sozialdemokraten am liebsten, wie sie angeblich FPÖ-Parteichef Heinz-Christian Strache bevorzugen, weil mit ihr nicht Kurz, sondern er selbst Kanzler werden könnte. Die SPÖ brächte für so eine Koalition wahrscheinlich einen neuen Spitzenmann - in Frage dafür kämen beispielsweise Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil oder der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl (vgl. Burgenland: Neuauflage der Chianti-Koalition [Update]).