Österreich als sozialpolitischer Prügelknabe der Merkel-EU?

Seite 3: Dank Sozialdemokratie jetzt im Visier: Österreichische Regionalkrankenkassen

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Von der deutschen "Gesundheitslinken" unbemerkt und andernfalls wohl sogar heimlich gutgeheißen hat nun die neue konservativ-nationale Bundesregierung in Österreich ganz auf EU-Linie eine Liquidierung der österreichischen Regionalkrankenkassen zum Regierungsprogramm erklärt.

Das Ziel ist eine Zentralisierung der österreichischen Bundesländer-Gebietskrankenkassen zu einer so genannten "Österreichischen Krankenkasse" mit Sitz in Wien. Damit würde Österreich im Windschatten der Flüchtlingskrise nachholen, was in Deutschland im Windschatten der Wiedervereinigung durchgesetzt worden ist: Die Eliminierung autonomer und solidarischer Regionalkrankenkassen.

Zwar war die Beseitigung seiner Regionalkrankenkassen eine der ersten brutalen Forderungen der so genannten "Troika" zur EU-Kolonisierung Griechenlands. In den Medien der deutschen "Gesundheitslinken" findet man dennoch zur ebenfalls von der EU geforderten Zerstörung der Regionalkrankenkassen Österreichs weder Meldungen noch Meinungen. Verwunderlich ist dies freilich nicht.

Die "Gesundheitslinke" in Deutschland ist auf weite Strecken ein Sammelplatz und Abstellgleis der Reste der Reform-Sozialdemokratie, pensionierter SPD-Gesundheitsbürokraten, der theorielosen Branchengewerkschaft ver.di, grün-alternativer Wohltäter und "kritischer" Medizin und Medizinsoziologie.

In diesem Milieu ist es kein Aufreger, dass der vormalige österreichische und sozialdemokratische Sozialminister Alois Stöger den Anschlag auf die Regionalkrankenkassen der Alpenrepublik vorbereitet hat. Dazu hat Stöger bei der London School of Economics(LSE) ein "Gutachten" gekauft, das nunmehr von der FPÖ-Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein als Legitimation für die Eliminierung der Regionalkassen berufen wird.

Miserables Alibigutachten

Immer wieder wird in der Öffentlichkeit auf das schmutzige Gutachtengeschäft verwiesen, bei dem sich Politiker und Regierungen von willigen "Wissenschaftlern" Rechtfertigungstexte für gemeinschaftsschädliche Zustände und Vorhaben schreiben lassen. Das vom inzwischen abgehalfterten SPÖ-Sozialminister eingekaufte "LSE-Gutachten" ist offenbar ein Paradebeispiel für diese Art von "Wissenschaft".

Es hat nicht nur die Unsumme von 630.000 Euro gekostet, ohne dafür wenigstens ins Deutsche übersetzt zu sein. Es täuscht auch auf geradezu pennälerhafte Art und Weise bei gähnender Leere "Viel Inhalt" vor. Von den ca. 1400 Blättern dieses Werkes sind bald die Hälfte nichts weiter als Kopien der Antwortschreiben, die von den "Gutachtern" bei österreichischen Einrichtungen, Verbänden etc. im Rahmen einer höchst dürftigen "Umfrage" eingesammelt worden sind.

Studierende, die eine Bachelorarbeit präsentieren, von der die Hälfte aus kopierten Notizzetteln besteht, werden von ihren Lehrenden bzw. Prüfenden zu Recht nur ausgelacht. Der eigentliche Skandal dieses Gutachtens besteht aber darin, dass ein sozialdemokratischer Sozialminister sich Argumentationshilfe von einem weltweit als Brutstätte des Neoliberalismus berüchtigten Institut geholt hat.

Soweit es die letztendlich entscheidende Qualität der Ausarbeitung der London School of Economics betrifft, stellt der österreichische Gesundheitsökonom Ernest G. Pichlbauer in der Wiener Zeitung bereits im August 2017 diesbezüglich ein verheerendes Zeugnis aus:

Die Rede ist von einer Studie der London School of Economics (LSE) im Auftrag des Sozialministeriums, die eine Handlungsanleitung zur Reform der Sozialversiche- rung geben sollte. Nach der Lektüre einiger hundert Seiten stellt sich das Werk als Zusammenfassung bekannter Lehrmeinungen und Theorien ohne eigene Berechnungen dar - also ein Lehrbuch. Eine Studie, die helfen soll Entscheidungen zu treffen, ist es nicht - nicht nur wegen des Umfangs. Selbst dort, wo es Vorschläge gibt, bleibt es eine Aufzählung von dem, was die Lehre der Gesundheitssystemforschung anzubieten hat. Eine Bewertung der Vorschläge fehlt…"

Ernest G. Pichlbauer, Wiener Zeitung, 31.8.2017

Propagandaparolen der EU-Kommission

Die sozialen und die ökonomischen Vorzüge der österreichischen Gebietskrankenkassen wurden eingangs schon dargestellt. Nachzutragen ist an dieser Stelle nur noch, dass die Regionalkrankenkassen in der Alpenrepublik nur etwa halb so hohe Krankenkassenbeiträge benötigen wie die Kassenkonzerne des Berliner Staates. Dabei sind die österreichischen Leistungen mindestens gleichwertig oder wie im Falle der Pflege sogar besser als die deutschen Leistungen.

Nach der neoliberalen Glaubenslehre sind letztlich niedrige oder möglichst sinkende Beitragssätze in der Krankenversicherung der Beweis für eine hohe Systemeffizienz. Gleichwohl unterstellt die EU-Kommission im Rahmen ihres so genannten "Europäischen Semesters" dem österreichischen System Defizite bei Kosteneffizienz, Transparenz und Gerechtigkeit und plädiert daher für eine Zentralisierung der Gebietskrankenkassen.

Dieses hemmungslose Verdrehen der tatsächlichen Fakten in die behaupteten Dogmen zeigt, worum es sich bei den Thesen und Argumenten des "Europäischen Semesters" der EU-Kommission handelt: Um Propagandaparolen zur Umwandlung auch noch des österreichischen solidarischen Sozialstaats in ein Funktionselement des europäischen kapitalistischen "Sozial"-Staats, der "marktkonformen Demokratie" Merkels.

Wörtlich fabuliert die EU-Kommission:

Die hohe Zahl an Krankenversicherungsträgern deutet auf Potenzial für Effizienzgewinne hin. Österreich zählt derzeit 18 Krankenversicherungsträger, denen die Versicherungsnehmer auf der Grundlage ihres Wohnorts und Berufs zugewiesen werden… Im neuen Regierungsprogramm wurde eine Senkung der Zahl der Sozialversicherungen aufmaximal fünf Träger angekündigt. Dies könnte dazu beitragen, die Kosteneffizienz, Transparenz und Gerechtigkeit des Systems zu verbessern.

Europäische Kommission: 2018 European Semester: Country Reports 7.3.2018

Will die Wiener Regierung ihre Bundesländer wirklich durch die Merkel-EU wirtschaftlich schwächen lassen?

In den zurück liegenden Jahrzehnten haben die Sozialversicherung und die Gesundheitswirtschaft in allen entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften eine bedeutende Rolle in der Finanzwirtschaft und in der Realwirtschaft erlangt.

Sie sind zu wichtigen Wachstumsfaktoren und Schwankungsstabilisatoren geworden. In der neoliberalen Glaubenslehre aber werden sie noch immer als Angebotsbeeinträchtigungen und Kostenbelastungen verdammt. Neoliberale Spareingriffe beinhalten daher ein erhebliches rezessives Risiko. Die verheerenden Folgen des jahrelangen Austerity-Diktates von Merkel-Schäuble für den EU-Süden sprechen eine deutliche Sprache.

Die von der EU-Kommission empfohlene Zentralisierung der österreichischen Gebietskrankenkassen würde ohne Zweifel vor allem in den wirtschaftlich schwächeren Bundesländern der Alpenrepublik erhebliche Nachteile für Wertschöpfung, Beschäftigung, Einkommen und Nachfrage bewirken. Ob eine wirtschaftliche Schwächung der Bundesländer nach den Vorgaben der Merkel-EU im Sinne der Regierung von Sebastian Kurz ist, darf bezweifelt werden.

Jedenfalls hat die Johannes Kepler Universität Linz schon einmal ausgerechnet, dass durch die geplante Zentralisierung dem Wirtschaftskreislauf im Bundesland Oberösterreich nach heutigen Zahlen zwischen 85 und 188 Millionen Euro jährlich direkt entzogen würden.

Übersicht: Mittelabfluss aus Oberösterreich infolge Zentralisierung der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse
Mittelabflüsse 2018 Szenario 1 Szenario 2
Insgesamt 84,7 Mio. EUR 187,8 Mio. EUR
darunter:
Auftragsrückgang durch zentrale Beschaffung 17,6 Mio. EUR 44,1 Mio. EUR
Verlust von Transportaufträgen 1,5 Mio. EUR 7,5 Mio. EUR
Auftragsrückgang Investitionen / Instandhaltung 3,3 Mio. EUR 16,7 Mio. EUR
Quelle: Johannes Kepler Universität / GAW Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Fusion regionaler Gebietskrankenkassen, Linz und Innsbruck 11.6.2018

Beantwortung offener Fragen

Zum Beitrag gab es eine ernsthafte und sachbezogene Debatte. Zu zahlreichen von den Lesern aufgeworfenen Fragen formulierten andere Leser zutreffende Antworten. Zwei Fragen blieben offen, die nachfolgend beantwortet werden.

Zunächst: Was bedeutet "Autoritärer Neoliberalismus" in der Gesundheitsversorgung ? In der neoliberalen Dogmatik werden die in der Mehrheit der Staaten und dort überwiegend durch Beiträge oder Steuern finanzierten Ausgaben für Gesundheit einseitig als "Kosten" der Wirtschaft betrachtet. Diese Nebenlohn-"Kosten" beeinträchtigen, so das Dogma, das Wachstum und die Beschäftigung. Demgegenüber sind in der Realität derentwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften wegen des Strukturwandels der Gesellschaft (z.B. Funktionsverlust der Familie als Gesundheitsagentur) die Gesundheitsversorgung und die Sozialsicherung zu bedeutenden Faktoren von Wirtschaft und Finanzen geworden: Hunderte von Milliarden Umsatz, viele Tausende von Betriebsstätten, Millionen von Beschäftigten und Milliarden von eigenen Beitrags- und Steuerzahlungen. Die verfemten Nebenlohn-"Kosten" haben also in Wahrheit einen hohen Wachstums-"Nutzen".1

Ganz im Gegensatz zu ihrem Kostendogma möchte die neoliberale Politik natürlich dieses enorme Wirtschaftspotential der Gesundheitsversorgung und Sozialsicherung durch Deregulierung als Profitquelle erschließen. Bekanntes Beispiel ist die rasante Krankenhausprivatisierung in Deutschland.

Es ist leicht erkennbar, dass der neoliberale Politikansatz im Gesundheitssektor, Kostendeckelung einerseits, Gewinnsteigerung andererseits, nicht konsistent realisiert werden kann. Die Auflösung dieses Widerspruchs wird daher in einer autoritären Spaltung des Gesundheitskonsums gesucht: Begrenzung der Gesamt-Nebenlohnkosten durch Ausgliederung ganzer Bevölkerungsgruppe aus der Vollversorgung (z.B. der Pflegebedürftigen), Schlechterstellung großer Bevölkerungsgruppen in der Vollversorgung (z.B. durch Schließung wohnortnaher Krankenhäuser). Gleichzeitig Schaffung von Möglichkeiten zum Erwerb hochpreisiger Gesundheitsgüter und –leistungen für Klientelgruppen(Beitragsbemessungsgrenze für Besserverdiener, Beihilferegelung für Beamte etc.). "Neoliberal" heißt also notwendig auch "autoritär".

Sodann: Wie verändern sich die Finanzströme der Beitragseinnahmen und der Leistungsausgaben der österreichischen Gebietskrankenkassen durch die beabsichtigte Zentralisierung? Hierzu bedarf es einer alle neun Bundesländer umfassenden Analyse. Ein in Verona ansässiges Wirtschafts- und Regionalforschungsinstitut bereitet derzeit eine derartige Studie vor. Im Unterschied zu Österreich mussten in Deutschland solche Analysen bereits seit Mitte der 1980er Jahre erstellt werden.2 Damals begann dort der Kampf um die Regionalkassen. Die Mehrzahl der Untersuchungen wurde von der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. erstellt.