Österreich als sozialpolitischer Prügelknabe der Merkel-EU?

Seite 2: Der Weg in einen EU-Krankenkassenimperialismus

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Die politische Entwicklung der Krankenkassenstrukturen in der Europäischen Union hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in vier Phasen vollzogen. In der Gründungsphase der späten 1950er Jahre wurden die nationalen Sozialordnungen, Sozialsicherungssysteme und insbesondere Sozialen Krankenversicherungen bzw. nationalen Gesundheitsdienste als ausschließlich nationale Angelegenheiten respektiert. Lediglich Vereinbarungen über die wechselseitige Erbringung und Erstattung von Gesundheitsleistungen wurden getroffen.

1. Pluralistische Struktur nationaler Sozialordnungen

Dies galt weitgehend auch noch für die 1970er bis 1980er Jahre mit ihrer Süd-, West- und Norderweiterung der EU. In einer pluralistischen Struktur waren damals nebeneinander so unterschiedliche und gegensätzliche Krankenversicherungssysteme und Gesundheitssysteme tätig wie beitragsfinanzierte Soziale Krankenkassen einerseits und steuerfinanzierte Nationale Gesundheitsdienste andererseits.

Steuerfinanzierte Nationale Gesundheitsdienste waren dabei erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien, Skandinavien, Mittel- und Osteuropa und Südeuropa eingeführt worden. Dementsprechend war es damals ausreichend, zwischen steuerfinanzierter und beitragsfinanzierter Gesundheitsversorgung zu unterscheiden. Jede Art von Harmonisierung wurde als überflüssig und abwegig betrachtet.

2. Sozialkolonisierung von Mitte und Osten Europas

Eine zweite Phase der Entwicklung begann mit dem Anschluss der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1990. Unter der Überschrift einer deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion okkupierten die konkurrierenden Krankenkassen der BRD die Aufgabenfelder und Mitgliederbestände der vormaligen Einheitsversicherung der DDR, um im Vorfeld der anstehenden Krankenkassenreform noch möglichst hohe Geländegewinne zu erzielen.

Es gab keine Chance für eine Beseitigung der in West-Deutschland bestehenden Spaltung in regionale Arbeiter-Krankenkassen und zentrale Angestellten-Krankenkassen mittels einer durchgängigen Neuaufstellung der Krankenversicherung in Gesamtdeutschland etwa in Form von "Regionalkrankenkassen".

Vorbild hätten die österreichischen "Gebietskrankenkassen" sein können. Im Gegenteil: In Ost-Deutschland wurden gezielt Groß-AOKen aufgebaut, um Zentralisierungsdruck auf die meist kleineren AOKen in West-Deutschland auszuüben.

In den 1990er Jahren wurde dann der Zerfall der Sowjetunion, des Warschauer Paktes und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe vom vergrößerten Deutschland genutzt, um die vormals realsozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas zum peripheriekapitalistischen Hinterland der deutschen Exportökonomie zu machen: Billige Arbeit, Zweigproduktion und Absatzmarkt. Dies geschah in der Form von Freihandelsabkommen der EU mit diesen Ländern und wurde durch eine massive Beratungsoffensive in diesen Ländern vorbereitet.

Bei dieser Beratungsoffensive ging es darum, durch den Aufbau beitragsfinanzierter Sozialversicherungen, insbesondere auch Krankenkassen, diese Länder für eine Wirtschaftsweise reif zu machen, bei der die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung darauf angewiesen ist, ihre Arbeitskraft auf Arbeitsmärkten zu verkaufen.

Auch das größte Land unter den genannten, Polen, hatte ein beitragsfinanziertes regionales Krankenkassensystem installiert. 2004 waren die Länder Mittel- und Osteuropas dann reif für den Anschluss an die EU.

3. Regionalkrankenkassen als Korrektur des Maastricht-Korsett

In diesem Zeitabschnitt wurde auch die Europäische Währungsunion vorbereitet. Die im Maastricht-Vertrag festgelegten Kriterien für die Aufnahme von Mitgliedsländern setzten unter anderem enge Grenzen für die Staatsverschuldung. Zum Staatssaldo wurden auch die Über- oder Unterdeckungen der Sozialversicherungen, d.h. auch der Krankenkassen gezählt. Die steuerfinanzierten Gesundheitssysteme in Europa wurden durch die Euro-Kriterien direkt unter Sparzwang gesetzt.

Aber auch für die beitragsfinanzierten Krankenkassen erhöhte sich der Spardruck. Allerdings hatten die Regierungen gegenüber den beitragsfinanzierten Sozialversicherungen, insbesondere gegenüber autonomen Regionalkassen keine direkten Eingriffs- und Zugriffsmöglichkeiten. Das ist wohl auch ein Hauptgrund für die im Zuge des so genannten "Gesundheitsstrukturgesetzes" von 1992 in die Wege geleitete Eliminierung von 1200 autonomen Regionalkrankenkassen in Deutschland.

Allerdings ließen der "Transformationsschock" in den vormals realsozialistischen Ländern der EU und das "Maastricht-Korsett" der Euroeinführung es den Gremien und Apparaten der EU angezeigt erscheinen, danach nicht noch stärkeren Druck auszuüben. Das Mittel der Wahl, die EU-Länder möglichst freiwillig für eine Marktunterwerfung und Sparpolitik im Gesundheitswesen und in der Krankenversicherung zu gewinnen, nannte sich daher "Offene Methode der Koordinierung" - eine Art Wettbewerb um die "Musterschüler-Urkunde" der EU.

4. Finanzkrise als Chance für Staatszugriff auf die Regionalkassen

Es war dann die 2008 auf Deutschland und Europa durchschlagende Banken-, Finanz- und Budgetkrise, die Merkel-Deutschland als Vormacht und den Europaeliten insgesamt die Chance bot, endlich direkt und offensiv, nicht mehr nur via "Koordinierung", auf die nationalen Sozialordnungen und Sozialversicherungssysteme durchgreifen zu können. Banken- und Budgetrettungsprogramme wurden an harte so genannte "Strukturreformen", insbesondere auch in den Krankenversicherungen und in der Gesundheitsversorgung, geknüpft.

Vom europäischen "Fiskalpakt" waren insbesondere die Krankenversicherungen bzw. Gesundheitsdienste im EU-Süden betroffen. Zu welcher Menschenfeindlichkeit das Merkel-Schäuble geführte EU-Regime hier fähig war, zeigten die Brutalitäten nicht gegenüber den griechischen Steuer-Großhinterziehern, sondern gegenüber den griechischen Krankenhauspatienten und Kleinrentnern.

Deutschland hatte mit der Einrichtung des zentralen Gesundheitsfonds kurz vor Beginn der Krise und mit der Verankerung eines Verschuldungsverbots für den Bundes- und die Länderhaushalte, der so genannten "Schuldenbremse", im Windschatten der auflaufenden Krise vorgemacht, wie durch funktionale Zentralisierung in Gestalt eines "Gesundheitsfonds" auch beitragsfinanzierte Krankenkassen zur Schuldenvermeidung des Staatshaushaltes und zur Bankenrettung herangezogen werden können.

Dementsprechend kam es in den Folgejahren zu den bekannten Zugriffen des damaligen Finanzministers Schäuble auf die mit Sparpolitik den Versicherten und Kranken abgepressten Überschüsse der Kassenkonzerne bzw. des Gesundheitsfonds.

Diejenigen europäischen Länder, die noch autonome Regionalkrankenkassen oder teilautonome Elemente in ihren Nationalen Gesundheitsdiensten hatten, wurden unter Ausnutzung der Krise massiv dazu gedrängt, diese zu zentralisieren.

Nachdem insbesondere die Länder Mittel- und Osteuropas willfährig diesen Vorgaben gefolgt waren, hat sich im Laufe dieser Austerity-Politik wegen der schon seit Kriegsende zentralisierten Gesundheitsdienste Skandinaviens und Großbritanniens mittlerweile eine Mehrheit zentralisierter Gesundheitssysteme in Europa gebildet, die direktem Staatszugriff unterliegen.

Lediglich der Süden Europas, einschließlich des Alpenraumes, aber ohne Frankreich, zeigt noch starke Elemente von Regionalautonomie auch innerhalb Nationaler Gesundheitsdienste. Die von Griechenland unter enormen Gesundheitsopfern der Bevölkerung erpresste Zentralisierung seiner Krankenkassen war und ist eine anhaltende Drohung des EU-Regimes gegen den gesamten EU-Süden.