Offener Brief: Über Wahrheit, Lüge und dröhnendes Schweigen

Seite 2: Die Zukunft Europas steht in Frage

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Als Bundespräsident, sehr geehrter Frank-Walter Steinmeier, wollen Sie sicher der deutschen Jugend ein Vorbild geben und sie ermuntern, auch vor kritischen Fragen nicht zurückzuschrecken. Werden Sie die SPD auffordern, ihre europäische Verantwortung aufzuarbeiten und sich einer offenen Diskussion mit der deutschen Jugend über diese Frage zu stellen und das auch, um damit den rechten Parteien den nationalistischen Wind der Überheblichkeit aus den Segeln zu nehmen?

Als die Agenda 2010 10 Jahre alt wurde, haben Sie mit den anderen, die dafür verantwortlich waren, eine Party gefeiert und betont, wir gut es Deutschland doch wegen der Agenda-Politik geht. Sie haben damals vergessen zu sagen, dass es anderen wegen der Agenda-Politik schlecht geht. Dass beispielsweise Frankreich und Italien seit Beginn der Währungsunion per Saldo im Außenhandel verloren, Deutschland aber gewonnen hat, kann man nicht ernsthaft bestreiten, wenn man die Logik nicht außer Kraft setzt. Da war die "Partnerschaft" eindeutig ein Nullsummenspiel. Sie aber schweigen dazu, obwohl genau deswegen die Zukunft Europas in Frage steht.

Als Außenminister haben sie selbst dann geschwiegen, als Ihr Kollege Schäuble Griechenland zu einer unsinnigen und, wie spätestens heute jeder wissen sollte, in ihren Folgen verheerenden Politik zwang. Werden Sie als Bundespräsident, jenseits der parteipolitischen Zwänge, ein Zeichen der Versöhnung setzen und sich beim französischen, beim italienischen und beim griechischen Volk dafür entschuldigen?

Sie sehen, sehr geehrter Herr Steinmeier, es ist eine komplizierte Sache mit der Lüge und mit der Wahrheit. Nichts ist einfach schwarz oder weiß, entscheidend sind immer die Grautöne. Einen Bundespräsidenten, der nur predigt, hatten wir gerade. Sie kommen mitten aus der Politik der vergangenen zwanzig Jahre, Sie haben große Verantwortung getragen.

Sie können bewegen, was andere in dem Amt nicht bewegen konnten. Man wird Ihnen glauben, wenn Sie zugeben, dass Sie Anfang der 2000er Jahre nicht bedacht haben, welch verheerende Wirkung die allein für Deutschland ausgedachte Politik für Europa hatte. Sie könnten, indem sie ein Zeichen der Einsicht setzten, mit einem Schlag einem strauchelnden Europa neuen Halt geben und den rechten Feinden Europas im In- und Ausland ihr wichtigstes Argument nehmen.

Ich wünsche Ihnen in Ihrem neuen Amt viel Erfolg und verbleibe mit den besten Grüßen

Heiner Flassbeck

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung von der Website makroskop übernommen. Deren Herausgeber Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt sehen ihre Aufgabe darin, "das massive Versagen der Politik zu thematisieren und Lösungswege aufzeigen, die sich auch am Interesse derjenigen orientieren, die in der Gesellschaft keine eigene Stimme haben".