"Ohne diese Rivalitäten gäbe es keine Taliban"

Geschäftstüchtige Gotteskrieger: Die Taliban kassieren auch mal Geld dafür, eine Pipeline nicht zu sprengen. Foto: isafmedia / CC-BY-2.0

Entgleiste Geopolitik: Wenn radikalislamische Einheiten Schutzgeld von ausländischen Mächten kassieren. Ein Gespräch mit dem russischen Afghanistan-Experten Andrej Kasanzew

Russland schaut aufmerksam auf die Entwicklung des Bürgerkriegs in Afghanistan in Folge des Abzugs der von den USA geführten westlichen Truppen. Das kriegserschütterte Land grenzt an drei Staaten, die mit Russland in vieler Weise verbunden sind: Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Bei einer Machtübernahme der Taliban wäre der Weg für Islamisten von dort bis ins russische Hinterland nicht weit. Telepolis sprach mit dem russischen Afghanistan-Experten Andrej Kasanzew über die aktuelle Lage vor Ort.

Die Einschätzungen darüber, was die 20-jährige Präsenz der Nato in Afghanistan gebracht hat, gehen in der russischen und westlichen Presse völlig auseinander. Was hat der Westen erreicht? Kann man vom Versuch sprechen, einen Staat nach westlichem Muster zu schaffen?
Andrej Kasanzew: Es gab den Versuch des Aufbaus einer staatlichen Struktur. Ich würde nicht sagen vom westlichen Typ, denn immerhin wurden afghanische Eigenarten integriert. Aber "Nation Building" war ein ernstes Projekt, das nicht nur in Afghanistan, sondern auch an vielen anderen Orten betrieben wurde.
Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York wurden mit Osama bin Laden und Al Kaida in Verbindung gebracht. Bin Laden und viele seiner Führungsfiguren versteckten sich in Afghanistan bei den Taliban. Die USA forderten ihre Auslieferung - wenn die Taliban dieser Forderung nachgekommen wären, hätte es keinen Krieg gegeben. Es ist ein wichtiger Punkt: Die Amerikaner waren hier zunächst bereit, weiterhin ruhig zusammenzuarbeiten, aber die Taliban haben Bin Laden nicht verraten.
Dann haben US-Amerikaner Afghanistan besetzt und mussten dort etwas unternehmen. Das war der Beginn der 20-jährigen Präsenz der USA. Ihre Militärressourcen würden ausreichen, die gesamte Bevölkerung Afghanistans tausendfach zu vernichten. Aber sie reichten nicht für die Verwirklichung positiver Ziele. Und das gilt nicht nur für die USA. Vergessen wir nicht, dass Deutschland im Norden des Landes sehr aktiv beteiligt war.

"Ein bedeutender Teil der Bevölkerung kennt nur Krieg als Beruf"

Welche Rolle spielt dabei die lokale Bevölkerung? Warum haben die USA und die Europäer nicht ihre Sympathie gewonnen? Warum sind viele auf der Seite der Taliban?
Andrej Kasanzew: Afghanistan hat eine sehr große Bevölkerung, die ethnisch, sozial und kulturell sehr heterogen ist. Die USA und ihre Verbündeten gewannen mit Sicherheit die Loyalität eines Teils der Bevölkerung - ein anderer erheblicher Teil setzte den Krieg fort. In Afghanistan hat sich eine Kriegskultur entwickelt. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung kennt nur Krieg als Beruf eines respektablen Mannes.
Erst war es die sowjetische Besatzung, dann entwickelten sich auch Kämpfe zwischen den Mudschahedin, die dann zwischen den Taliban und der Nordallianz fortgeführt wurden. Der Krieg zwischen dem Westen und den Taliban war bereits der vierte in Folge. Hier kann die Politik die Situation vor Ort nicht wesentlich ändern. Der Teil der Afghanen, der Krieg führt, kämpft einfach für den Islam und gegen Ausländer.
Derzeit erobern die Taliban weite Teile Afghanistans. Da stellt sich die Frage: Ist für sie ein Dialog mit der Regierung überhaupt noch von Vorteil, wenn sie ohnehin die Oberhand haben?
Andrej Kasanzew: Kriege werden in Afghanistan halb durch Kämpfe, halb durch Verhandlungen geführt. Es wird ein wenig gekämpft, ein wenig geredet, es werden Koalitionen gebildet, dann wird wieder gekämpft; wieder geredet. Einige sind übergelaufen über, haben einander verraten, kämpften eine Weile und kehrten dann wieder zurück. Das ist eine völlig andere Kultur der Kriegführung und der Verhandlungen. Die Taliban werden gleichzeitig mit der Regierung verhandeln und ihren Terror und Militäroffensiven fortsetzen. Das sind nur verschiedene Werkzeuge unterschiedlicher Flügel dieser Bewegung.

"Die Taliban sind ein Konstrukt aus Truppen von Warlords"

Warum ist es trotz vieler Gesprächsformate nicht möglich, Afghanistan in einen echten Friedensprozess einzubeziehen? Einem Dialog mit allen Konfliktparteien?
Andrej Kasanzew: Viele verstehen die Struktur der Taliban nicht. Die Taliban sind ein Konstrukt aus Truppen von Warlords. Die eigentliche Rolle dabei spielen nicht die Menschen, die im Auftrag der Taliban durch die Welt reisen und Abkommen schließen, der sogenannte politische Flügel. Sondern die echten Warlords, die ihre eigene Politik oft völlig unabhängig von den offiziellen Positionen der Taliban führen können. Daraus folgen Probleme.
Die Taliban unterzeichnen ein Friedensabkommen und dennoch gibt es eine Reihe von Terroranschlägen durch einzelne Feldkommandanten. Die Taliban behaupten, das seien nicht ihre Angriffe, aber in Wahrheit handelt es sich natürlich um Warlords, die als Teil ihrer Bewegung angesehen werden müssen.
Nur, dass sie eben oft nicht vom politischen Flügel kontrolliert werden. Ein weiteres Problem ist, dass es in Afghanistan viele Gruppen gibt, die von externen Akteuren finanziert werden und dabei Probleme lösen, die mit einem Frieden für Afghanistan absolut nichts zu tun haben und kaum in eine Einigung einbezogen werden können.
Das sind zum Beispiel die Fatimyun-Truppen, die vom Iran finanziert werden. Fatimyun ist eine wichtige Streitmacht, die derzeit in Syrien kämpft. Im Fall einer Eskalation im Bürgerkrieg würde Fatimyun nach Afghanistan zurückkehren und zu einer wichtigen Kraft gegen die Taliban werden. Zudem gibt es Feldkommandanten usbekischer oder tadschikischer Herkunft, die sich auf der Suche nach Unterstützung ganz offen entweder an die Türkei oder an Russland wenden. Die Taliban wiederum haben viele Verbindungen zu Pakistan, vor allem der politische Flügel.
Heißt das, man kann mit einzelnen Taliban-Einheiten verhandeln und sie unter bestimmten Bedingungen aus dem Konflikt herausziehen?
Andrej Kasanzew: Angenommen, jemand bezahlt eine der Einheiten dafür, dass eine bestimmte Gaspipeline nicht gesprengt wird. Dann wird ein anderer Trupp kommen und fordern, "bezahle auch mich" und, falls du das nicht tust, versuchen sie, genau diese Gaspipeline zu sprengen. Die Chinesen haben dieses Problem irgendwie gelöst, weshalb es die "chinesischen Taliban" gibt. Aber die Chinesen mussten einen größeren Sektor der Taliban kaufen, um ihre Investitionen zu schützen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass sich diese "chinesischen Taliban" aus dem Krieg zurückgezogen hätten. Sie bekommen einfach Geld aus China. Es ist eine Erpressung, damit sie bestimmte Objekte nicht in die Luft jagen, sondern sie schützen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mit jemand anderem Krieg führen. Das Problem ist einfach: Wenn Sie jemanden bezahlt haben, können auch andere kommen und das wollen. Und der, dem Sie zahlen, wird nicht gegen Sie kämpfen, kann das aber gegen andere.

"Die Taliban haben schon oft Garantien gegeben"

Auch in Moskau gab es Anfang Juli Verhandlungen mit den Taliban. Es wurden Garantien eingeholt, dass die Taliban nicht die Grenzen der zentralasiatischen Staaten überschreiten und gegen den IS und den Drogenhandel kämpfen. Das russische Außenministerium wertet diese Vereinbarung in offiziellen Stellungnahmen als Erfolg. Kann man solchen Garantien trauen?
Andrej Kasanzew: Russland hatte nach Verhandlungen der Taliban mit anderen Staaten wie den USA und China gar keine andere Wahl, als auch mit den Taliban zu reden. Die erhaltenen Garantien sind an sich gut. Eine andere Sache ist leider, dass die Taliban schon viele Male Garantien gegeben und sie kaum befolgt haben. Insbesondere haben sie immer erklärt, andere Staaten Zentralasiens nicht anzugreifen. Aber es gab von den Taliban zur Zeit ihrer Regierung bis 2001 solche Angriffe trotz damaliger ähnlicher Garantien.
Die Taliban waren schon damals eine Koalition verschiedener Kräfte. Dazu gehörten damals internationale Terroristen, mit Al Kaida verbundene ebenso wie autonome. Zu diesen gehören viele Emigranten aus Zentralasien, dem russischen Nordkaukasus, dem muslimischen Teil Chinas wie den Uiguren. Das Verhalten solcher Einheiten ist unvorhersehbar.
Selbst wenn sie zu den Taliban gehören, folgen sie nicht unbedingt deren vorgegebener Linie. Nichts hindert Einheiten, die jetzt zu den Taliban gehören, plötzlich zu sagen, dass sie keine Taliban mehr sind, um dann ein Land Zentralasiens anzugreifen. Einige standen schon unter den Bannern der Islamistischen Bewegung Usbekistans - bei den Batken-Zusammenstößen in Kirgisistan, an denen sich auch Russland 1999 beteiligte.
In einem Gespräch zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem tadschikischen Amtskollegen Rachmon hat Russland kürzlich seine Bereitschaft zur Hilfe für Tadschikistan zum Ausdruck gebracht, falls seine Grenze verletzt wird. Gegen wen wird dann geholfen? - Haben wir richtig verstanden, dass das Einheiten sein können, die eben noch zur Taliban gehörten, aber jetzt unter einer anderen Flagge kämpfen?
Andrej Kasanzew: Genau. Tatsache ist, dass es diese Erklärung Putins nicht gebraucht hätte, aufgrund des Vertrags über die kollektive Sicherheit. Formell ist die dadurch bestehende Organisation auch in Weißrussland und Armenien präsent, aber ihr eigentliches Ziel war immer Zentralasien. Es wurden Manöver durchgeführt, spezielle Anti-Drogen-Übungen und solche für den Kampf gegen internationale Terroristen.
Es wurde ein Verfahren für die Beteiligung russischer Truppen sowie anderer Vertragsstaaten im Falle eines Grenzdurchbruchs ausgearbeitet. Eine für Europäer verständliche Parallele ist die der französischen Truppen, vor allem der Fremdenlegion in Nordafrika. Sie werden oft als Stabilisator zur Hilfe gebeten, gegen den IS oder Al Kaida vor Ort. Das ist ungefähr die Funktion der Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit in Zentralasien.

"Für ernsthafte Missionen schlecht geeignet"

Auch die Schanghai-Organisation, in der China und Russland Mitglieder sind, haben seit 2005 vor Ort eine Kontaktgruppe mit Afghanistan. Sie war inaktiv, soll jetzt aber wegen des Abzugs der Nato reaktiviert werden. Kann man über dieses Format einen konstruktiven Dialog, einen Friedensprozess beginnen?
Andrej Kasanzew: Schwierig ist, das die Schanghaj-Organisation nicht einfach strukturiert ist. Ihr gehören auch Indien und Pakistan an, die zu Afghanistan komplett entgegengesetzte Positionen haben. Man nimmt im Rahmen dieser Organisation immer nur China wahr, das wirklich sehr aktiv in Sachen Afghanistan ist. Weil China im Rahmen des Seidenstraßenprojekts dort große Investitionen in die Infrastruktur getätigt hat.
Gibt es eine Alternative zu einem Dialog in Zentralasien, inklusive Russland und Afghanistan?
Andrej Kasanzew: China hat zusätzlich zur Schanghai-Organisation ein eigenes Format für militärische Beratungen geschaffen: China-Pakistan-Afghanistan-Tadschikistan. Dieses Format kann China nutzen. Die Schanghai-Organisation ist für ernsthafte Missionen, die über diplomatische Erklärungen hinausgehen, schlecht geeignet - wegen der strategischen Rivalitäten.
Ohne diese Rivalitäten gäbe es gar keine Taliban. Die Taliban wurden von Anfang an vom pakistanischen Geheimdienst geschaffen, unter anderem zur Bekämpfung des indischen Einflusses und zur Lösung strategischer Probleme, um sich in Zentralasien den Rücken freizuhalten und dort Zugänge zu haben. Indien wiederum hat in Afghanistan jede Regierung unterstützt, die sich gegen Pakistan stellte. Sogar die prosowjetische Regierung Najibullah wurde von Indien unterstützt - noch nach dem Zusammenbruch der UdSSR.

"Die Rivalität zwischen den USA und China wird vieles blockieren"

Auch die USA haben früher versucht, sich an die Schanghai-Organisation anzuschließen. Es ist ihnen nicht gelungen - aber haben sie nicht diese Organisation als Möglichkeit zur Lösung in Afghanistan gesehen?
Andrej Kasanzew: Die Schanghai-Organisation, der Vertrag über kollektive Sicherheit - das sind alles sehr offene Formate, teils mit Kooperationsprojekten mit der Nato. Die USA haben keine grundsätzlichen Einwände gegen die Tätigkeit der Schanghai-Organisation, aber die Rivalität zwischen den USA und China, die momentan akut ist, wird vieles blockieren.
Ist Russland bereit, in Zukunft eine aktivere Rolle bei der Lösung des Afghanistan-Konflikts zu übernehmen? Kann es - auch vor dem Hintergrund des Rückzugs der USA aus der Region - politische Punkte sammeln?
Andrej Kasanzew: Für Russland geht es hier um eine existenzielle Frage. Tatsache ist, dass der Konflikt in Afghanistan nicht wie der in Syrien geografisch weit genug von Russland entfernt ist. Afghanistan grenzt direkt an Länder, die den Löwenanteil der Arbeitsmigranten nach Russland stellen. Eine Destabilisierung bedeutet von dort Migrationswellen von Afghanen, Tadschiken, Kirgisen und so weiter nach Russland.
Außerdem betrachtete Russland die Taliban noch vor ihrem Sturz als feindliche Macht. In Afghanistan wurden Tschetschenische Sprengmeister ausgebildet, die in Russland Terroranschläge verübten. In Russland, im Nordkaukasus, gab es viele Anschläge mit Bomben, die aufgrund dieser Ausbildung in Al Kaida-Lagern gebaut wurden. So kann jede Instabilität in Afghanistan zu schweren Problemen in Russland selbst führen.

Andrej Kasanzew ist Professor an der Higher School of Economics in Moskau und arbeitet an der Moskauer Elite-Universität MGIMO als Direktor des Zentrums für Studien über Zentralasien und Afghanistan. Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen über die Region.

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