Afghanistan: Russland sieht Niederlage des Westens
Der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan verursacht nach Moskauer Ansicht eine Destabilisierung Mittelasiens
Die Tatsache, dass die zwanzigjährige Militäraktion des Westens in Afghanistan auf nichts anderes hinausläuft als auf eine Niederlage, akzeptieren in den deutschsprachigen Medien nur wenige linke Zeitungen.
Vielleicht liegt dies am ebenso lang von der deutschen Politik und Presse verbreiteten Doxa, wonach die Bundeswehr vor Ort den Terrorismus besiege. So sprach die deutsche Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer kürzlich noch davon, dass wichtige Ziele des internationalen Militäreinsatzes erreicht worden seien.
Als Beispiel führte sie Schulen für Mädchen an. Es ist erschreckend wie demaskierend, dass kurz nach ihrer Rede 58 Menschen bei einem islamistischen Bombenanschlag auf eine solche Mädchenschule mitten in Kabul starben. Für den Anschlag macht die afghanische Regierung eben jene Taliban verantwortlich, die westliche Truppen in den letzten 20 Jahren erfolglos zu besiegen versuchten: Islamisten, die bald eine neue Herrschaftsperiode in dem kriegsgebeutelten Land beginnen könnten.
Leidvolle russische Erfahrungen
Während man in Berlin versucht, die eigene Niederlage nach zwei Jahrzehnten Krieg zu verbrämen, man in Washington von einem Erfolg spricht, wird das Scheitern anderswo deutlicher gesehen, so in Russland. Trotz der aktuellen Gegnerschaft zum Westen hat man in Moskau an sich kein Interesse, Dinge zugunsten der Taliban darzustellen, einer in Russland verbotenen Terrororganisation.
Auch sind islamistische Regierungen in Mittelasien, dem eigenen Hinterhof, nicht im Interesse des Kreml. Man hat in der jüngsten Geschichte nur mit hohem Blutzoll ähnliche Bewegungen im Kaukasus besiegt.
Auch die ebenso erfolglose sowjetische Afghanistan-Invasion erfolgte offiziell, um einer kommunistischen Regierung dort gegen Islamisten beizustehen, und ist ein Trauma der russischen Geschichte. Die Herrschaft der dortigen Kommunisten brach mit dem Abzug der Truppen der UdSSR umgehend zusammen. In Moskau sieht man nun einen solchen Zusammenbruch der aktuellen, vom Westen gestützten Regierung in Kabul bevorstehen.
Die Illusion der militärischen Allmacht
Alexej Puschow, Mitglied des Russischen Föderationsrates, spricht auf seinem Telegram-Kanal vom 20-jährigen Afghanistankrieg der USA als einer "vollständigen Niederlage". Es sei egal, ob man nun vor den Taliban offiziell kapituliere oder nicht. Der russische Politologe Timofej Bordatschew sieht die Niederlage als Folge einer Illusion der USA, mit ihrer militärischen Macht alles erreichen zu können, unabhängig von Einflussfaktoren wie der örtlichen Geschichte und Geographie.
Die Leidtragenden seien nun andere, wenn Afghanistan erneut zu einem Ort werde, von dem eine Destabilisierung ganz Mittelasiens ausgehe, so Bordatschew. Die bedrohten Nachbarstaaten würden sich nach seiner Auffassung bei der Bewältigung dieses Problems nicht mehr auf den Westen, sondern mehr auf China und Russland verlassen. Indien, der Iran, die Türkei und Saudi Arabien würden in der Region zukünftig eine größere Rolle spielen.
Die US-Ankündigung, die aktuelle afghanische Regierung weiter zu unterstützen, beurteilt sein Kollege Andrej Kortunow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS ebenfalls skeptisch. Sie gleiche erfolglosen Bemühungen im Fall des Vietnamkrieges, als das mit den USA verbündete Südvietnam nach dem US-Truppenabzug weiter Waffen und Militärausbildung erhielt - aber dennoch kollabierte. Auch er prognostiziert ein Abnehmen des westlichen Einflusses auf die Region zugunsten der von Bordatschew aufgezählten Regionalmächte.
Kräfteverschiebung in Mittelasien
Eine solche Kräfteverschiebung versuchen die USA laut einem Bericht des Wall Street Journal zu verhindern, indem sie Truppen in Nachbarländern wie Usbekistan oder Tadschikistan stationiert, um bei "unerwünschten" Entwicklungen in Afghanistan kurzfristig wieder militärisch eingreifen zu können.
Genau diese Planungen kollidieren jedoch mit den Interessen von Russland und China, die diese Länder als ihre Einflussregion betrachten. Russische Zeitungen berichten aufmerksam über die Tatsache, dass mit einer solchen Stationierung US-Truppen auch aus dieser Richtung näher an die russische Grenze heranrücken.
So könnten diese Planungen der USA am aktuell schlechten Verhältnis eben zu Russland und China scheitern. Nicht zufällig erklärte Putin bei einem Treffen mit dem tadschikischen Präsidenten in Moskau die eigene Bereitschaft zur Unterstützung des afghanischen Nachbarlandes. Russisches Militär hat dort bereits eine Basis vor Ort und solle - ebenso wie die tadschikischen Streitkräfte - von Russland verstärkt werden. Es ist davon auszugehen, dass Putin hier US-amerikanischen Avancen zuvorkommen will.
Der Kampf um Macht und Einfluss im geopolitischen Schachspiel um Mittelasien ist also schon im vollen Gange. Etwas zu kurz kommt dabei - in Russland wie im Westen - die Diskussion darüber, wie sinnvoll es überhaupt ist, auf militärischem Weg in fremden Ländern unliebsame Regime beseitigen zu wollen. Immerhin war der Afghanistaneinsatz zu Beginn eine Aktion, die nach dem Schock von 9/11 weltweites Wohlwollen fand, - und er droht jetzt in einem Szenario zu enden, das dem traurigen Zustand des Landes davor gleicht: eine Steinzeit-Herrschaft religiöser Fanatiker.