Olaf Scholz, Wladimir Putin und die "verdammte Pflicht und Aufgabe"
Der Bundeskanzler sprach am Dienstag in Moskau mehrere Stunden mit seinem Gastgeber. Die Differenzen wurden beim folgenden Pressetermin mehr als deutlich
Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei seinem Besuch in Moskau und nach einem mehrstündigen Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin seiner Hoffnung auf eine friedliche Lösung der Ukraine-Krise Ausdruck verliehen. "Die diplomatischen Möglichkeiten sind bei Weitem nicht ausgeschöpft", so der SPD-Politiker am Dienstagnachmittag.
Würden die Beziehungen mit Moskau in einer Sackgasse münden, so wäre das "ein Unglück für uns alle", fügte Scholz an. Zugleich begrüßte der Sozialdemokrat kurz zuvor publik gewordene Nachrichten über einen Teilrückzug der russischen Truppen von der ukrainischen Grenze. Dies sei "ein gutes Zeichen, und wir hoffen, dass noch weitere folgen".
Damit widersprach Scholz dem US-Präsidenten Joseph Biden, der zeitgleich vor einer anhaltenden Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine warnte.
Gemeinsam mit seinen Partnern und Verbündeten in der Europäischen Union und Nato sei Deutschland bereit, mit Russland "über ganz konkrete Schritte zur Verbesserung der gegenseitigen – oder noch besser: der gemeinsamen – Sicherheit zu sprechen", hieß es in einer Mitteilung der Bundesregierung zu den Gesprächen in der russischen Hauptstadt: Dazu habe die Nato bereits zu konkreten thematischen Gesprächen im Nato-Russland-Rat eingeladen. Auch die USA seien zu direkten Verhandlungen bereit:
Auch innerhalb der OSZE hat der polnische Vorsitz hierzu einen neuen Dialogprozess initiiert. Dieser Dialog kann nur im Geist der Gegenseitigkeit und in Anerkennung der Gesamtheit von Prinzipien und Verpflichtungen erfolgen, wie sie in der OSZE vereinbart wurden. Dazu gehören die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa sowie die Souveränität und territoriale Unversehrtheit aller Staaten, auch der Ukraine. Für Deutschland sind diese Prinzipien nicht verhandelbar:Mitteilung der Bundesregierung, 15.02.2022
Scholz betonte in Moskau, die Suche nach diplomatischen Lösungen habe ihn zur Reise nach Russland und zuvor in die Ukraine motiviert. Auch könne nachhaltige Sicherheit nicht gegen Russland erreicht werden, sondern müsse mit der Führung in Moskau gemeinsam angestrebt werden
Er weigere sich, die Lage "als ausweglos zu beschreiben", auch wenn sie verfahren sei. Scholz nannte es eine "verdammte Pflicht und Aufgabe", einen Krieg in Europa zu verhindern.
Putin sicherte seinerseits zu, dass er zur Ausgestaltung der europäischen Sicherheit zur Zusammenarbeit zur Verfügung stehe. "Wir sind bereit, die Verhandlungen fortzusetzen", fügte er an.
Zugleich beharrte Russlands Präsident auf die Forderungen seiner Regierung an die Nato und die USA nach Sicherheitsgarantien, dies dürfe nicht ignoriert werden. Scholz sei er für "die gemeinsame Arbeit, den nützlichen und inhaltsreichen Dialog" dankbar.
Die Kontroversen waren auf der gemeinsamen Pressekonferenz offensichtlich. Etwa bei der Debatte über die Friedensfrage in Europa. Als Scholz erklärte, er gehöre einer Generation an, die sich einen Krieg in Europa nicht vorstellen könne, erinnerte Putin in an den Nato-Angriff auf Jugoslawien in den 1990er-Jahren.
Scholz antwortete, die Situation dort eine andere gewesen. Das westliche Militärbündnis habe einen Genozid verhindern wollen. Putin entgegnete: "Das, was gerade im Donbass stattfindet, ist ein Genozid."
Der deutsche Bundeskanzler erwähnte bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Putin auch die Menschenrechtsorganisation Memorial, die in Russland im Dezember höchstrichterlich aufgelöst worden war. Das sei in Deutschland auf großes Unverständnis gestoßen. Auch die Schließung des Moskau-Büros des deutschen Auslandssenders Deutschen Welle sei ein Thema gewesen, so Scholz.
Mit Blick auf die umstrittene Erdgaspipeline Nord Stream 2 zeigte sich Putin demonstrativ gelassen. Russland werde auch über das Jahr 2024 weiterhin Erdgas durch die Ukraine transportieren, sofern es die Nachfrage gebe und der Verkauf des Energieträgers rentabel sei. Nord Stream 2 sei ein rein kommerzielles Projekt, das keine politische Funktion habe, wird Putin vom russischen Radiosender Sputnik zitiert: "Der Präsident erinnerte daran, dass Russland ungeachtet des Anstiegs der Weltmarktpreise für Erdgas die Lieferungen nach Deutschland weiterhin zu den in langfristigen Verträgen vereinbarten Preisen aufrechterhalte."
Im Telepolis-Interview hatte sich die ehemalige Vizepräsidentin des deutschen Bundestages, Antje Vollmer, kurz nach der gemeinsamen Pressekonferenz von Scholz und Putin für eine Fortführung des Dialogs mit Russland ausgesprochen. Zugleich mahnt die ehemalige Abgeordnete von Bündnis90/ Die Grünen eine von den USA eigenständige europäische Politik an.
"Zum Beginn eines echten und neuen Dialogs gab es für keine Seite je eine wirkliche Alternative", sagte Vollmer im Telepolis-Interview. Sie sei davon überzeugt, dass die verantwortlichen russischen Politiker "Verhandlungen erreichen wollen, die auch auf ihre eigenen Sicherheitsbedürfnisse Rücksicht nehmen".
Angesichts der Russland-Reise von Bundeskanzler Scholz warnte Vollmer zugleich vor dem unmittelbaren Einfluss der US-Regierung. Neuen Regierungen in Deutschland sei von Washington außenpolitisch wiederholt mit Argwohn begegnet worden, schilderte Vollmer:
"Das heißt, die US-Seite verlangt von der deutschen Seite jetzt größere Demonstrationen der Bündnisloyalität, als man sie gegenüber konservativen Regierungen einfordern würde."
Die 78-jährige Politikerin sprach sich dafür aus, bilaterale Gremien wiederzubeleben: "Alle diese Gremien zum Dialog – auch das Normandie-Format, das Weimarer Dreieck, der Nato-Russland-Rat –, die haben alle die letzten drei bis elf Jahre nicht getagt. Das bedeutet, dass die Russen sehr dialogentwöhnt sind. Und wir sind es umgekehrt auch. Wir sind gerne auf Sendung – und selten auf Empfang."
Ein Dialog mit Russland müsse eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur zum Ziel haben: "In diesem Zusammenhang stehen die Verhandlungen über Abrüstung und eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur ganz oben auf der Agenda", so Vollmer gegenüber Telepolis: Dafür müsse man auch die US-Regierung gewinnen.