Olof Palme: Ein Mord und seine Theorien

Auch 30 Jahre nach dem Mord werden noch viele Akten unter Verschluss gehalten und ist der Mord an dem Politiker ungeklärt

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Mit dem Nahen des 30. Todestags von Olof Palme beginnt wieder das Gedenken, die Selbstanklage, das Fragen, Raten, Spekulieren und das Hoffen auf eine neue Spur. Eine vermeintliche Tatwaffe wurde gefunden und in den Medien breit diskutiert. Doch gibt es Indizien, die weiterhin unzugänglich bleiben. Zugänglich sind vor allem die vielen Untersuchungen und Theorien von Autoren, die sich seit Jahren passioniert dem Mord verschrieben haben.

Am 28. Februar 1986 um 23.31.30 Uhr wurde der schwedische Ministerpräsident nach einem Kinobesuch in der Stockholmer Innenstadt bei seinem Nachhauseweg von einem bis heute unbekannten Täter mit einem Schuss in den Rücken getötet. Ein zweiter Schuss streifte Lisbeth Palme an der Schulter.

Kein Politiker hat Schweden so sehr bewegt wie der 1927 geborene Palme. Der Charismatiker aus der schwedischen Oberschicht polarisierte mit seinem Engagement für die Dritte Welt, seiner Einwanderungspolitik, den hohen Steuern, seinem Bestreben, Schweden egalitärer zu machen, und seinem Selbstbewusstsein. Für die meisten war er entweder Lichtgestalt oder Verderber.

Schweden legten an der Stelle, an der Palme ermordet wurde, Blumen nieder. Bild: Holger.Ellgaard/CC-BY-SA-3.0

Unter starke Kritik geriet die Arbeit der Polizei, wie die Polizei selbst ins Zwielicht geriet. So sollen Polizisten mit Walki-Talkies in der Gegend des Mordes gewesen sein, die später darüber ausgesagt haben, sie seien massiv unter Druck gesetzt worden. So eine Dokumentation von ARTE und NDR, die 1996 in Deutschland - nicht in Schweden - gezeigt wurde. Die Polizisten gehörten angeblich zur "Baseballiga" der Norrmalmswache, einer Gruppe von Polizisten, die für ihre rechtsradikale Gesinnung und brutalen Methoden bekannt war.

Auch Polizeichef Hans Holmér, der die Ermittlungen übernahm, soll Initiator jener Baseballiga sein, zuvor war er Leiter der Säpo, des polizeilichen schwedischen Inlandgeheimdienstes. Holmér erklärte, in jener Nacht nicht in Stockholm gewesen zu sein. Sein Chauffeur Rolf Dahlgren widersprach Jahre später und wurde tot aufgefunden, kurz vor dem Termin für eine öffentlichen Aussage.

Auch soll es Ungereimtheiten in der Polizei-Telefonzentrale gegeben haben. Anrufer, die den Mord meldeten, wurden nicht entgegengenommen oder es wurde schnell wieder aufgelegt.

Der erste Polizist, der am Tatort erschien, war Polizeikommissar Gösta Söderström. Er behauptete, es sei um 23.34 Uhr gewesen, also etwa zweieinhalb Minuten nach den Schüssen. Das Einsatzprotokoll spricht von 23.30. Söderström wurde nach dem Mord früh pensioniert. Dies sind nur einige der Ungereimtheiten.

Mehrere "Spuren" wurden von der Polizei verfolgt - die PKK galt anfangs als Hauptverdächtige, Südafrika, Jugoslawien und Christer Petersson wurden auch verdächtigt. Der verhaltensauffällige Kriminelle, alkohol- wie drogensüchtig, wurde von Lisbeth Palme identifiziert und darauf der Öffentlichkeit 1989 als Täter vorgestellt. Doch bei der Gegenüberstellung gab es formale Fehler. Pettersson kam 1990 frei, er verstarb 2004 nach einem Unfall.

Immer noch werden viele Akten unter Verschluss gehalten. Dazu gehört auch, wie kürzlich publik wurde, ein Vernehmungsprotokoll von Lisbeth Palme zum Mord, was Palme-Mord-Rechercheure wie Gunnar Wall und Kari Poutiainen kritisieren.

Die Palme-Aufklärer und die "Polizeispur"

Der Fokus der Öffentlichkeit lag einige Wochen zudem auf einer möglichen Tatwaffe, eine Smith & Wesson, Kaliber 357 Magnum, die aus einem mittelschwedischen See gefischt wurde. Dem populären Fernsehkriminologen und Krimiautoren Leif GW Persson wurden Patronen und Waffe zugeschickt.

Nun wurde Entwarnung gegeben - der Revolver sei vermutlich nicht die Tatwaffe, erklärt die "Palmegruppe", die polizeiliche Kommission, die sich immer noch mit dem Mord befasst und über eine Materialsammlung von mittlerweile 250 Regalmeter Akten verfügt.

Auch Persson ist davon überzeugt, dass die Polizei eventuell in Verbindung mit dem Militär hinter der Ermordung steckt. Seine Thesen hat er 2007 in seinem Roman "Zweifel" dargestellt und den Mord noch einmal vor Ort "rekonstruiert".

Persson erreicht die größte Medienöffentlichkeit unter den Palme-Rechercheuren, die auf Schwedisch "privatspanare" ("Privatdetektive") heißen, ein Ausdruck, der nicht allen gefällt. Auch werden sie oft Verschwörungstheoretiker genannt, da sich viele Schweden nicht vorstellen können, dass einzelne oder wenige etwas vermögen, wozu der Polizeiapparat auch nicht imstande ist.

Als Urgestein gilt der 94-jährige Sven Anér. Der ehemalige Zeitungs- und Fernsehjournalist publizierte seit 1986 fast ausschließlich über den Mord, zudem untersuchte er den Untergang der Estonia. Auch er gilt als Theoretiker der "Polizeispur" und konnte viele Zeugen befragen. Boten seine ersten Publikationen einen Überblick, ging er in späteren Werken wichtigen Detailfragen nach und schrieb über den finnischsprachigen Polizisten Anti Avsan, der mit einem Walki-Talki kurz vor dem Mord gesichtet wurde und heute ein Politiker der Konservativen ist.

Mit einem eigenen Nachrichtenblatt "Palme-Nytt", berichtete er bis 2005 über Neuigkeiten um die Aufklärung des Falles, danach bloggte er, im Dezember 2015 hat er dies aus Altersgründen aufgeben.

Sein 2011 verstorbener Freund Olle Alsén, der ebenso wie Anér für die linksliberale Zeitung "Dagens Nyheter" arbeitete, galt als erster, der Dokumente zur "Polizeispur" veröffentlichte. Er hatte als Journalist den besten Draht zu Kriminalkommissar Hans Ölvebro, der die Untersuchung des Mordes von 1988 bis 1997 leitete.

Die Physiker und Brüder Kari und Perrti Poutiainen brachten 1995 die 880 Seiten dicke Dokumentation "Innerhalb des Labyrinths" heraus, die sich durch wissenschaftliche Akribie und das Fehlen von Spekulationen auszeichnet. Auch hier wird auf Unregelmäßigkeiten der Polizeiarbeit hingewiesen.

Der Grafiker Fritz G Pettersson wurde durch den Tod von Palme zum politischen Aktivisten, der Druck auf die Behörden zur Wahrheitsfindung ausüben wollte. Er hängte Plakate auf und lud zu Unterredungen ein. Auch er legte den Fokus auf die Polizeispur. Dass sein Vertrauter, Ingvar Heimer, mit einer großen Wunde im Hinterkopf sterbend auf einem Bahnsteig gefunden wurde, heizte die Theorie von einem Komplott an.

Zahlreiche Verschwörungstheorien

Von einer Verschwörung geht auch der Journalist des öffentlich rechtlichen Fernsehens SVT Lars Borgnäs aus. Er hat mehrere Beiträge über den Palmemord gedreht, in seinem Buch "Ein eiskalter Wind zieht durch Schweden" (2006) sieht er Palme als Opfer eines Komplotts von rechtsradikalen Kreisen, der Polizei und des Militärs, da der Ministerpräsident zu sehr auf die Sowjetunion zugegangen sei. Es soll in der Diskussion um Sicherheitsfragen, um die U-Boot-Grenzverletzungen, in Militärkreisen zu zunehmenden Aversionen gegen Palme gekommen sein. Die anstehende Moskaureise (ein geplantes Treffen mit Michail Gorbatschow) wäre Auslöser für die Tat gewesen. Borgnäs wurden jedoch fehlende Fußnoten vorgeworfen.

In der 2011 folgenden Dokumentation "Das Interesse der Nation" erweitert er das Komplott um den Untergang der Estonia im Jahre 1994. Eine fremde Macht habe die Fähre torpediert, damit das Militärmaterial der Sowjetunion nicht nach Schweden komme.

Olof Palme am 1. August 1985. Bild: Pagania62/CC-BY-SA-3.0

In mehreren Büchern hat sich der linke Journalist Gunnar Wall mit dem Palme-Mord und der Polizeispur beschäftigt, in seinem letzten Werk "Verschwörung Olof Palme" (2015) spannt er den Bogen zur Weltpolitik. Demnach sei der Ministerpräsident einem gut geplanten politischen Attentat zum Opfer gefallen.

Involviert seien Stay-Behind-Gruppen der NATO sowie Rüstungsvertreter gewesen, die die Perspektive der Abrüstung fürchteten, dazu schwedische Wirtschaftsvertreter, die durch Palmes Gegnerschaft zur Apartheid in Südafrika ihre Interessen gefährdet sahen.

Von einer Südafrika-Verbindung ging auch der heute international bekannte Krimi-Autor Stieg Larsson (Millennium-Trilogie) und Rechtsextremismus-Experte aus. Dass er als "Palme-Detektiv" tätig war, ging erst aus seinem Nachlass von 15 Kartons mit Material hervor. Larsson starb 2004.

Er ging davon aus, dass die Regierung in Südafrika Palme umbringen ließ - eine Woche vor seiner Ermordung hatte sich der Sozialdemokrat für schärfere Sanktionen gegen das Apartheid-Regime ausgesprochen. Larsson beschuldigte den ehemaligen schwedischen Geheimdienstler Bertil Wedin, der auf Zypern wohnt, Strippenzieher des Anschlags gewesen zu sein.

Erwähnt sei noch Olle Minell, der für die Zeitung "Proletären" schreibt und als Kommunist weniger in der schwedischen Öffentlichkeit gehört wird. Er hat sich vor allem mit dem Rechtsradikalismus innerhalb der schwedischen Polizei beschäftigt. Auch er geht von einer Stay-Behind-Aktion der NATO aus.

Die "Stay-Behind"-Theorie bekam diese Woche Bestätigung durch den ehemaligen Militär-Geheimdienstler Donald Forsberg, der zwei Personen der NATO-Gruppierung am Mordabend gesehen haben will.

Zwei ehemalige Säpo-Beamte, die zuvor in der "Palme-Gruppe" recherchiert haben, erklärten kürzlich gegenüber der Zeitung "Expressen", der Mörder sei unter falschem Namen aus der Sowjetunion 1985 nach Schweden eingereist. Im Kreml habe man gewusst, dass der Mord passiere. Die beiden Beamten bitten um die Enthebung der Verschwiegenheitspflicht, um weitere Details nennen zu dürfen.

Der ehemalige Staatssekretär Palmes, Ulf Dahlsten, will hingegen Belege haben, die den Petersson-Verdacht erhärten.

Natürlich führten die ständigen Untersuchungen über mögliche Hintergründe des Palme-Mordes zu Ermüdungserscheinungen unter den Schweden und mit den Jahren auch zur Isolation der Forscher, die vor allem bei den Jahrestagen oder bei einer neuen Spur ihren öffentlichen Auftritt haben.

Lars Krantz ist so ein Fall, der sich nach normaler Recherche-Arbeit als Fernsehjournalist später zu Theorien verstieg, dass Palme Selbstmord beging oder die Ehefrau Lisbet den Gatten im Namen einer feministischen Konspiration ermorden ließ.

Mögen manche Theorien auch abwegig anmuten, so ist es auch verständlich, dass dem schwedischen Staat die PKK-Theorie und später Petersson als Täter genehmer war. Eine Gruppe von außen oder ein verwirrter Einzelner als Täter würde das Konstrukt des "Volksheims", die Idee der familiären Beziehung zum Fürsorgestaat, nicht in ihren Grundfesten erschüttern. Kein Staat will sich selbst beziehungsweise seine Exekutive auf der Anklagebank sehen, aber in Schweden war die Verbindung zwischen Obrigkeit und Bevölkerung besonders eng.

Dass Palme Schweden gegenüber der Sowjetunion nicht hart genug auftrat, war ein Vorwurf, der im offiziell neutralen Schweden immer wieder erhoben wurde, in der Bevölkerung und von der konservativen Opposition. Was die sowjetische U-Boot-Bedrohung betrifft, hat der ehemalige US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger im Jahr 2000 zugegeben, dass Schweden selbst NATO-U-Booten den Zugang zu seinen Hoheitsgewässern zu Testzwecken erlaubt hat. Doch wer innerhalb des schwedischen Staates was wusste und was entschied, bleibt weiterhin Spekulation.

Ablehnung des "unschwedischen" Palme

Bleibt noch die Frage, woher der Hass auf Palme kam. Anscheinend soll es die negativen Emotionen gegenüber Palme immer noch geben. Als Beleg für den "Palmehass" sehen viele den Film "Call Girl" (2012), in dem suggeriert wird, Olof Palme habe Sex mit einer minderjährigen Prostituierten gehabt.

Aversionen soll es quer durch die Bevölkerung, durch alle Schichten und auch in hohen Polizeikreisen, hier angeblich mit leidenschaftlichen Hassern, gegeben haben. Um die Partei ging es wohl weniger, da die Sozialdemokraten damals als eine Art Staatspartei galt und auch Polizisten der Norrmalmswache Anhänger dieser Partei waren.

Aber sein Auftreten war anders - ein großer Kontrast zu seinem politischen Ziehvater, dem eher onkelhaften Tage Erlander, der von 1946 bis 1969 das Land regierte. Provokativ sei er gewesen und arrogant, schreiben die schwedischen Zeitungsjournalisten, die nach einer Erklärung für den "Palmehat" suchen.

Palme sprach schon in seiner Kindheit fließend Deutsch, Französisch und Englisch sein weltmännisches Selbstvertrauen empfanden viele als "unschwedisch". Obwohl er kein Ideologe etwa des amerikanischen Freiheitsideals war, strahlte er große persönliche Freiheit aus - gerade Menschen, die sich in unfreien Verhältnissen befanden, wie etwa Polizeibeamte, verunsicherte und störte ein solcher Politiker besonders.

Die Beamten der berüchtigten Norrmalmswache, ob nun in die Tat involviert oder nicht, haben direkt nach der Ermordung Palmes eine lautstarke und fröhliche Party gefeiert.

Als Ursache für das "Unschwedische" des Sozialdemokraten kann man auch den USA-Aufenthalt Palmes nach dem Krieg sehen. Er studierte auf dem privaten Kenyon College in Ohio. Zudem reiste er in den USA herum, per Bus oder Anhalter, nahm auch prekäre Jobs an. Dort lernte er, sich direkter auszudrücken, härter zu argumentieren. Das typisch Amerikanische eben, was Menschen oft nicht ertragen, die lieber indirekter kommunizieren und offene Konflikte vermeiden - wie viele Schweden.