Orban teilt aus - gegen Merkel
"Die Flüchtlingskrise ist ein deutsches Problem", sagt Ungarns Regierungschef. Berlin und Brüssel sehen das entschieden anders
Wochenlang hatte die EU-Kommission geschwiegen. Zum Zaun, den Ungarn an der Grenze zu Serbien errichten ließ. Zu den unhaltbaren Zuständen in den ungarischen Flüchtlingslagern und am Ostbahnhof in Budapest. Zu den ausländerfeindlichen Provokationen von Regierungschef Viktor Orban. Nichts, kein Wort. Brüssel schaute weg.
Doch nun, da Orban begonnen hat, die Flüchtlinge per Zug nach Österreich und Deutschland weiterzureichen, hat ihn Kommissionschef Jean-Claude Juncker zu einer Aussprache nach Brüssel geladen. Juncker werde dem Rechtsnationalisten die Leviten lesen, hieß es vor dem brisanten Besuch in der EU-Behörde. Doch es kam ganz anders.
Orban ließ sich nicht in die Defensive drängen, sondern er teilte aus - und wie. "Das Problem ist kein europäisches Problem, das Problem ist ein deutsches Problem, niemand will in Ungarn bleiben. Alle wollen nach Deutschland", sagte er. Die Migranten wollten einfach nicht in Ländern wie Ungarn, Polen oder Estland bleiben. "Alle würden gerne nach Deutschland gehen." Dies würden ja auch die "Merke-Merkel"-Rufe in Budapest beweisen.
Mit dieser Attacke hatte niemand gerechnet. Schon gar nicht der deutsche SPD-Politiker Martin Schulz, der Chef des Europaparlaments. Er hatte Orban als erster empfangen und wollte über eine europäische Quoten-Lösung sprechen. Und nicht über Deutschland. Schließlich gehe es um eine gerechtere Verteilung - weniger Flüchtlinge nach Deutschland, mehr in andere Länder, auch nach Ungarn.
Das Problem dabei: Ungarn hat bisher mehr Flüchtlinge aufgenommen als die Bundesrepublik, jedenfalls auf die Einwohnerzahl bezogen. Und Orban hat nicht ganz Unrecht mit seiner provokativen Bemerkung. Die meisten Flüchtlinge wollen ja tatsächlich nach Deutschland. "Alemania, Alemania", skandierten sie im Bahnhof von Budapest. Nicht einmal in Österreich wollen sie bleiben.
Und es gibt noch einen anderen Haken: Kanzlerin Angela Merkel hat den Zug nach Deutschland noch unfreiwillig angeheizt - mit ihrer unbedachten Bemerkung, dass syrische Flüchtlinge nicht mehr zurück in andere EU-Länder geschickt werden. Was in Berlin als humanitäre Geste verstanden wird, wirke nun wie ein Magnet, deutete Orban in Brüssel an. Statt die Menschen aufzunehmen, müsse man alle "Pull-Faktoren" (also Anreize zur Flucht nach Europa) ausschalten, heißt es in seinem Umfeld.
Ungarn setzt auf Abschreckung und lehnt eine Flüchtlingsquote ab
Wie ernst es Orban meint, zeigen seine jüngsten Pläne: Nach dem Bau eines Grenzzauns zu Serbien will er nun auch noch eine "Transitzone" hinter der Grenze einrichten, das Militär an die neue "Front" schicken und die Gesetze verschärfen. "Orban will Flüchtlinge, die es wagen, die ungarische Grenze zu überschreiten, kriminalisieren", sagt ein ungarischer EU-Korrespondent in Brüssel.
Gleichzeitig lehnt er alles ab, was das Leben der offenbar unerwünschten Ankömmlinge erleichtern könnte. Der ungarische Rechtsausleger stemmt sich nicht nur gegen die Flüchtlingsquote, die die EU schon bald für alle Länder verbindlich machen will. Er sträubt sich auch gegen die Einrichtung eines "Hot-Spots" zur Registrierung von Asylbewerbern, die die EU-Kommission in Ungarn plant.
"Die EU sollte uns nicht daran hindern, unsere Grenze zu sichern", sagte Orban nach seinem Treffen mit Juncker. Notfalls werde man auch einen Zaun an der Grenze Kroatiens bauen. Seine Regierung werde sich künftig an die EU-Regeln halten und alle Neuankömmlinge registrieren. Danach habe sie allerdings keine Kontrolle mehr darüber, was passiert. "Nach den neuen EU-Regeln haben wir nicht mehr das Recht, sie in ein Lager einzuweisen", behauptet er dreist.
Im Klartext: Ungarn wird weiter Flüchtlinge ins gelobte Land Deutschland schleusen. Und es wird weiter versuchen, zwischen christlichen und muslimischen Migranten zu unterscheiden und die Muslime abzuschieben. Aus "historischen Gründen" wolle Ungarn keine muslimische Minderheit im eigenen Land, gab sich Orban kämpferisch. Zumindest bei der Pressekonferenz widersprach ihm niemand.
EU-Kommission hat es nicht eilig
Umso heftiger ist der Widerspruch in Berlin. SPD, CDU und sogar Kanzlerin Angela Merkel wiesen Orbans Thesen entschieden zurück. "Wenn Herr Orban sagt, Flüchtlinge seien ein deutsches Problem, weil die Flüchtlinge in Deutschland anständig behandelt werden, dann ist das eine zynische Betrachtungsweise", sagte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann.
Schützenhilfe bekam die Bundesregierung aus Paris. Nach langem Zögern und deutschem Drängen bekannte sich Präsident Francois Hollande doch noch zu einer verbindlichen Flüchtlingsquote. Konkrete Zahlen nannte er aber nicht. In Brüssel war am Donnerstag von 100.000 oder sogar 120.000 Menschen die Rede, die zwischen den EU-Staaten umverteilt werden sollen. Wie die Flüchtlinge dazu bewegt werden sollen, Deutschland zu verlassen und andere Länder anzusteuern, blieb jedoch offen.
Erst am kommenden Mittwoch will sich Kommissionschef Juncker zu Details äußern. Dann wird man wohl auch erfahren, wie er mit Quertreibern wie Orban umzugehen gedenkt. Eilig hat es Juncker offenbar immer noch nicht.