Otto Neurath Revisited
Eine Konferenz thematisierte die Demokratisierung des Wissens durch eine Bildsprache
Der Neu-Kontextualisierung des Werkes von Otto Neurath, Mitbegründer des Wiener Kreises und Vordenker standardisierter Visualisierungsverfahren, widmete sich in Wien eine ungewöhnliche Konferenz: Frank Hartmann, Medienphilosoph, und Erwin K. Bauer, Gestalter, luden anlässlich des Erscheinens ihres Text-Bilder-Bandes Bildersprache. Otto Neurath. Visualisierungen Experten aus bildtextlicher Praxis und Theorie ein, um so etwas wie ein gegenwartstaugliches Grobprofil der Neurathschen Ideen zu modellieren.
Worte trennen - Bilder verbinden. Diese Arbeitsmaxime Neuraths, die der Konferenz zugrundelag, fordert kritischen Umgang mit dem visuellen Erbe der bekannten konturierten Männchen geradezu heraus. Dem gebotenen interdisziplinären Zugang folgend, bewegten sich die beiden Panels rund um die zentrale Fragestellung, wie Wissensdemokratisierung unter veränderten technischen und sozialen Vorzeichen und vor allem im Kontext des Internet neu zu denken sei.
Trotz des hohen Einflusses seiner Arbeit auf heute noch gültige grafische Environments, wie Leitsysteme für öffentliche Orte wie Flughäfen, Verkehrszeichen etc., ging es Otto Neurath eben gerade nicht um bloß effektiver gestaltete öffentliche Kommunikation, sondern um die Möglichkeiten des Wissenstransfers unter weitgehendem Verzicht auf die Sprache - also auch auf kulturell bedingte Übersetzungsschwierigkeiten und Uneindeutigkeiten. Freilich reichte der Anspruch niemals so weit, die Sprache ersetzen zu wollen, sondern es sollten taugliche "Werkzeuge fürs Denken" geschaffen werden, die angesichts einer sozialen Realität weitverbreiteten Analphabetentums eben auf grafische Mittel zurückgreifen mussten.
Claus Pias, Medientheoretiker aus Bochum, wies in seinem Statement auf die Problematik der Annahme eines absolut gesetzten, zur Vermittlung bereit stehenden Wissens hin, während Armin Medosch unter dem Slogan "Neurath in der Dekompressionskammer" vor allem zwei Punkte herausstellte: bereits fünfzig Jahre nach ihrer Schaffung wirken viele Elemente der Isotype (International System of Typographic Picture Education) entweder heillos veraltet oder entsprechen nicht mehr den gängigen Standards von political correctness (Isotype im WWW).
John Kantara, Fernsehjournalist in Berlin, sieht wenig realistisches Potential für eine Demokratisierung des Wissens angesichts der Tatsache, dass 65% der Weltbevölkerung noch nie ein Telefongespräch geführt haben. In einem Punkt waren sich die Diskutanten indes einig: die von Neurath bearbeitete prinzipielle Problemstellung ist aktueller denn je, was Kantara schlüssig am Beispiel des indischen Simputers erklärte, der das Userinterface von der Schriftlichkeit in den sprachlichen Bereich verlegt (Computer für die Überwindung der digitalen Kluft).
Die Technik der drei Blicke
Im aktuellen Diskurs der Medientheorie kommt es nicht selten vor, dass vormalige Klassiker zu neuem Ruhm gelangen: seien es Marshall McLuhans medientheoretische Werke, Vilém Flussers Gedanken über neue techno-imaginäre Befindlichkeiten oder Walter Benjamins Anmerkungen zur auratischen Umpolung von Kulturprodukten im Kontext ihrer technischen Reproduzierbarkeiten. Seit der Aufklärung konnte sich die Medienwissenschaft nur in Teilen als analytische, sozialwissenschaftliche oder gar bloß phänomenologische Disziplin konstituieren: Berthold Brechts weithin bekannte Interventionen zur Radiotechnologie, Einwände gegen gebündelte ("faschistische") massenmediale Strukturen im Sinne Flussers oder aufklärerisch-kulturpessimistisch motivierte, mehr oder weniger drastisch formulierte Aufrufe zu einer emanzipierten Benutzung von (Massen)medien sind kennzeichnend für diesen Diskurs der Medientheorie.
In diesem Lichte schreibt sich Otto Neuraths Gesamtwerk in einen Kontext der Demokratisierung des Wissens, der sozialreformatorisch motivierten Visualisierung ein. Die sogenannte "Wiener Methode" charakterisierte Neurath mit der Technik der drei Blicke. Auf den ersten enthüllt eine Schautafel grundlegende Zusammenhänge, auf den zweiten die Details und auf den dritten eventuelle weitere Feinheiten. Eine Schautafel, die auf den vierten Blick weitere Informationen preisgibt, widerspricht indes dem pädagogischen Dreiblick-Konzept Neuraths, das zu aller erst als pragmatisches Mittel zur Hebung des Bildungsstandes der Arbeiterklasse entwickelt wurde: Wer den ganzen Tag in der Fabrik arbeitet, liest abends keine komplexen wissenschaftlichen Werke, geht auch nicht ins Museum. Also waren die Ziele: a) vorwiegend statistisches Material, Zahlen, Daten zu "transformieren", also für ihre grafische Übersetzung aufzubereiten, b) ein standardisierte Werkzeuge im Sinne eines Bild-Repertoires zu schaffen und c) die so im Wiener Institut für Wirtschaftsforschung entstandenen Bildtafeln in Form von leicht zerlegbaren und transportablen Wanderausstellungen an öffentliche, exponierte Orte zu bringen.
Warum also ein Buch und eine Konferenz über jemanden, der in den zwanziger und dreißiger Jahren Bildtafeln zusammenstellte, um etwa Zusammenhänge zwischen Einkommen und Säuglingssterblichkeit zu vermitteln? Otto Neuraths Anspruch der vielzitierten Demokratisierung des Wissens erlebt eine Renaissance in der Hoffnung auf das Internet als frei zugängliche globale Bibliothek für alle. Ob die Einlösung dieses Versprechens sich allein auf die Sprache wird stützen können, erscheint indes fraglich.
Der Schaffung der Isotype gingen ausgedehnte konzeptionelle Überlegungen voraus. Die Darstellungsform sollte möglichst reduziert und standardisiert sein, keinerlei unnötiger Schmuck oder Details sollten vom Wesentlichen ablenken. Größenverhältnisse wurden nicht mehr durch unterschiedlich große Figuren, sondern durch unterschiedlich viele Symbole der gleichen Qualität dargestellt. Gemeinsam mit dem Grafiker Gerd Arntz gelang Neurath die Schaffung einer visuellen Symbolik, die inzwischen selbstverständlicher Teil der Arbeitsweise jeder Infografik-Abteilung geworden ist.
Ein konträres Bild bietet da das WWW: die von Usability-Forschern beklagte Uneinheitlichkeit bei Navigationskonzepten: Die Orientierung auf den meisten Websites muss erst "erlernt" werden. In der Strukturierung und Zugänglichmachung, im Navigieren durch gewaltige - zumeist sprachliche - Datenbestände liegen Herausforderungen, zu deren Bewältigung Neuraths Werk interessante Inputs liefern kann.