PKK und deutsche Justiz: Ganz im Sinne Erdogans

Seite 3: Die Diskussion in der Literatur

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Die Frage stellt sich also, ob diese Erwägungen und Entscheidungen auch in deutschen Strafprozessen zum Tragen kommen können. Das deutsche Strafgesetzbuch verfügt über keine dem belgischen Strafgesetzbuch vergleichbare Vorschriften zur Verfolgung von Terrorstraftaten, insbes. keinen vergleichbaren Art. 141 zur Abgrenzung zu bewaffneten Streitkräften nach dem humanitären Völkerrecht.

In Art. 25 GG ist jedoch der Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor allen einfachen Gesetzen also auch der Strafgesetze normiert. Soweit sich die Gerichte allerdings mit den Schutznormen der beiden Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen auseinandergesetzt haben, haben sie ihre Anwendung auf die PKK und den Krieg mit dem türkischen Staat abgelehnt.

Allein in der Literatur gibt es einige Stimmen, die den völkerrechtlichen Status von Kämpfern nichtstaatlicher Organisation in internationalen gewaltsamen Konflikten thematisieren. Sie beziehen sich dabei zumeist auf die zahlreichen Rebellen- und terroristischen Gruppen auf syrischem Territorium, die gegen die syrische Regierung in Damaskus und ihre Verbündeten Russland und Iran kämpfen. Nur selten kommen auch die PKK und die § 129 a/b StGB-Prozesse in den Blick.13

Übereinstimmend wird in allen Fällen die Anwendung des humanitären Völkerrechts anerkannt, da die bewaffneten Auseinandersetzungen von ausreichender Intensität und zeitlicher wie territorialer Ausdehnung sind.

Schon Art. 3 Genfer Konventionen hat "jede am Konflikt beteiligte Partei" zur Beachtung bestimmter völkerrechtlicher Pflichten verpflichtet. Das Zweite Zusatzprotokoll (ZP II) hat in seinem Art. 1 Abs. 1 die Regeln des Völkerrechts auf die "organisierten Gruppen" begrenzt, die "unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen."

Während eine spezielle Form dieses bewaffneten Konfliktes, der Kampf der nationalen Befreiungsbewegungen, in Art. 1 Abs. 4 ZPI ausdrücklich als internationaler bewaffneter Konflikt normiert wird, war die Stellung des Bürgerkriegs im Völkerrecht lange Zeit ungeklärt.14 Das IKRK hat seit langem auf die volle Gleichbehandlung von Krieg und Bürgerkrieg gedrängt, aber erst mit der Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (JStGH) im Fall Duiško Tadič15 kam die Diskussion über die Erstreckung des Kriegsrechts auch auf den Bürgerkrieg in Gang.

Seit dann im Jahr 2005 das IKRK eine umfangreiche Untersuchung über die Dimensionen des Völkergewohnheitsrecht im humanitären Völkerrecht vorlegte, kann davon ausgegangen werden, dass Krieg und Bürgerkrieg im humanitären Völkerrecht weitgehend gleichbehandelt werden.16

Eine vollkommene Gleichbehandlung wäre aber erst dann erreicht, wenn den nichtstaatlichen Kämpfern auch das sog. Kombattantenprivileg zuerkannt würde, sie also das gleiche Kampfführungsrecht hätten wie die staatlichen Streitkräfte. Das wird zwar als erstrebenswerte Weiterentwicklung des Völkerrechts diskutiert,17 als "realistische Utopie",18 die sich aber noch nicht durchgesetzt hat, wie vor allem die Gerichtspraxis zeigt.

Ex-Präsident des JStGH für Kombattantenprivileg für nichtstaatliche Kämpfer

Die strengen Anforderungen, die an die Organisationen wie an ihre Kampfführung hinsichtlich Befehlsgewalt, Größe, territoriale Ausdehnung, Dauer und Intensität gestellt werden, hat in Syrien allenfalls der IS mit seinem Kalifat erfüllt. Er hat sich jedoch in zahlreiche Untergruppen aufgelöst, die sich berechtigt oder unberechtigt auf den IS beziehen, aber kaum die Kriterien für die völkerrechtliche Anerkennung erfüllen.

Bei der PKK und ihrer Kampforganisation liegen die Dinge anders. Der ehemalige Präsident des JStGH Antonio Cassese hat das Kombattantenprivileg für nichtstaatliche Kämpfer nachdrücklich befürwortet, wenn der nicht internationale Konflikt eine hohe Intensität erreicht und die Kämpfer sich im Kampf hinreichend von der Zivilbevölkerung unterscheiden.19 Diese Kriterien sowie die übrigen Anforderungen an die Organisation erfüllen die PKK und ihre Guerillaorganisation HPG ohne Frage. Der Krieg, den die Türkei immer wieder gegen ihre ostanatolischen Ortschaften (Nordkurdistan) sowie die Angriffe auf die Rückzugspositionen der PKK und HPG in den irakischen Kandil-Bergen unterscheiden sich in ihrer Intensität, territorialen Ausdehnung und Dauer nicht mehr von den internationalen Konflikten, die in ZP I geregelt werden.

Dennoch hat sich trotz aller einleuchtenden Argumente für eine völkerrechtliche Gleichbehandlung der nichtstaatlichen Kämpfer mit einem Kampfführungsrecht, wie es den staatlichen Kämpfern im ZP I zugestanden wird, auch in der Literatur bisher diese Ansicht nicht durchsetzen können. Um eine neue Regel durch Völkergewohnheitsrecht aufzustellen, bedarf es einer dauerhaften Übung der Staaten in dem Bewusstsein ihrer Verbindlichkeit.

Die ist ohne Zweifel derzeit noch nicht gegeben. Es bleibt somit bei dem unbefriedigenden Ergebnis, dass für nichtstaatliche Kämpfer ein ius ad bellum, ein Kombattantenprivileg, nicht existiert.20

Im Jahr 1993 vertrat der Autor dieses Beitrags die PKK in dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen das zuvor ergangene Verbot. Der Autor verfasste ein Gutachten,21 in dem er weitgehend die Argumentation des belgischen Berufungsgerichts bereits vorwegnahm. Seit 1984 war die PKK dazu übergegangen, ihr Recht auf Autonomie und Unabhängigkeit auch mit militärischen Mitteln zu verfolgen.
Es entspann sich über die Jahrzehnte eine erbitterte militärische Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und der PKK mit erheblichen Verlusten auf beiden Seiten.

Dies war schon zu jener Zeit ein bewaffneter Konflikt, der nach den völkerrechtlichen Regeln der beiden Zusatzprotokolle zu beurteilen war. Schon damals war es weitgehend unstrittig, dass es sich bei den Kurden um ein Volk handelt, dem das Recht auf Selbstbestimmung i. S. des gemeinsamen Art. 1der beiden internationalen Pakte für bürgerliche und politische sowie für soziale, ökonomische und kulturelle Rechte zusteht.

Debatte um PKK als Befreiungsbewegung

Unter Berufung auf dieses Recht kämpfte die PKK zu jener Zeit noch um die Separation von der Türkei und die Gründung eines eigenen Staates. Dieses Ziel gab sie erst 1996 auf und kämpft seitdem um Autonomie und Selbstverwaltung in den Grenzen der Türkei. Dementsprechend argumentierte das Gutachten in Anlehnung an Art. 1 Abs. 4 ZPI, dass es sich um einen internationalen bewaffneten Konflikt handele und die PKK als Befreiungsbewegung zu bewerten sei.

Allerdings führte das Gutachten für den Fall aus, dass das Gericht der Einschätzung der PKK als Befreiungsbewegung nicht folgen könne, es "angesichts der Entwicklung des Krieges in Süd-Ost-Anatolien in den letzten Jahren …keinen Zweifel daran geben (kann), dass es sich um einen regelrechten bewaffneten Konflikt i.S. des Art 1 Abs. 1 Protokoll II und nicht um einen Fall ,innerer Unruhen, Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen‘ i.S. Art. 1 Abs. 2 Protokoll II handelt.

Allein die zahlenmäßige Präsenz des türkischen Militärs in der Region geht weit über das hinaus, was für die Niederhaltung von Tumulten etc. notwendig und angebracht wäre. Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel daran, dass die PKK - wenn schon keine Befreiungsbewegung - auf jeden Fall als ‚organisierte bewaffnete Gruppe‘ i. S. Art. 1 Abs. 1 Protokoll II anzusehen ist, die ‚unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchzuführen und dieses Protokoll anzuwenden‘ vermag."22

Im Ergebnis war für die Charakterisierung der PKK ihre Stellung als organisierte bewaffnete Gruppe in einem bewaffneten Konflikt ausschlaggebend, gleichgültig ob es sich um einen internationalen oder nichtinternationalen Konflikt handelt. Dies unterschied sie schon damals eindeutig von einer Terrororganisation.

Zur Zeit des Verbotsprozesses vor dem Bundesverwaltungsgericht hatten die Auseinandersetzungen allerdings auch auf Deutschland übergegriffen. Die Folge waren zahlreiche Strafverfahren gegen Angehörige der PKK wegen schwerer Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung und Tötungsdelikten.
Die Klage wurde mit Urteil vom 9. Juli 1997 vom Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen.23 Eine Verfassungsbeschwerde gegen das Betätigungsverbot wurde einige Jahre später als unzulässig vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen.24 Es bleibt zu hoffen, dass das Urteil des belgischen Kassationshofes von der deutschen Justiz zur Kenntnis genommen, die Bedeutung des Völkerrechts für die Rechtsfindung erkannt wird und einen Wandel in ihrer Rechtsauffassung bewirken kann.

Norman Paech ist emeritierter Jura-Professor der Hochschule für Wirtschaft und Politik sowie Völkerrechtsexperte. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestags und außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion.